von Immo Sennewald
Wenn Menschen massenhaft Feindbilder übernehmen sollen, erreichen Propagandisten einer höheren Moral – egal welcher Religion oder sonstiger Ideologie – dies nur, indem sie einer hinreichend großen Zahl von Individuen Teilhabe an kollektiver Macht, an kollektivem Nutzen versprechen. Die Nazis gaben ihren Mitläufern zahllose Dienstränge und Ehrenzeichen, Kommunisten verhießen das Reich der leistungslosen Anspruchsberechtigung, das Paradies auf Erden statt im Jenseits. Zugleich zeigten sie ihren Anhängern, bei wem sie sich ihre Reichtümer, ihre Wohlfahrt holen konnten. Die Grundimpulse des Erlangens und Vermeidens wurden auf ›Mir nützt, was jenen schadet‹ fokussiert, denkende Individuen verknäuelten sich in besinnungslosem Feldgeschrei – wie die Schafe mit ›Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht‹ – auf Orwells animal farm oder in klammheimlicher Verschwörung zu gewaltbereiten Kollektiven. Es funktioniert immer und überall – zu besichtigen bei Putins Feldzug gegen die Ukraine, bei Extremisten jeglicher Couleur – und es funktioniert vor allem bei Kindern und Heranwachsenden.
von Lutz Götze
Seit einigen Wochen ist das neueste Sprachmodell von Open AI in Gestalt des ChatbotGPT4 auf dem Markt: Eine künstliche Intelligenz, die nicht nur – wie ihre Vorgänger – Texte erstellen soll, sondern auch Bilder. Die Hoffnungen der Befürworter der Künstlichen Intelligenz waren gewaltig: Ein Chatbot – also eine Maschine, mit der man sich unterhalten kann – könnte Tätigkeiten übernehmen, für die es keine Arbeitskräfte mehr gibt oder die den Menschen entlasten: Roboter in der Industrie und im Gesundheitswesen, Übersetzungen, Schreibarbeiten, Navigationen zu Land, zu Wasser und in der Luft. Aber eben auch Überwachungs- und Bespitzelungssysteme, keineswegs nur in China; obendrein militärische Aktionen (Drohnen). Der Mensch könnte sich, so die steile These, auf individuelle und kreative Tätigkeiten konzentrieren und die Mühsal alltäglicher Routinearbeit überwinden. Eine vollkommen neue Gesellschaft, frei von Fremdbestimmung und Sachzwängen, sei im Entstehen.
von Rainer Paris
Jeder radikale Protest lebt von einer fundamentalen Kritik. Diese zeichnet die Verhältnisse als sündhaft und verderbt und verspricht eine strahlende Zukunft. Um die Kluft zum Handeln zu überbrücken, muss sie sich zugleich zentrieren und verengen: Sie muss Gegner und Feinde identifizieren, die sie an den Pranger stellen kann, und sie muss Gründe und Begründungen beibringen, die die herrschenden Legitimationsmuster destruieren. Ohne eine gewisse Bornierung, ein aktuelles Stillstellen des Zweifels, gibt es kein Heraustreten aus dem Alltag, keine Initiative der Veränderung. Entschlossenes Engagement und Entschiedenheit haben, parallel zu den Effekten affektiver Vergemeinschaftung, immer auch kognitive Kosten.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G