von Rainer Paris
Jeder radikale Protest lebt von einer fundamentalen Kritik. Diese zeichnet die Verhältnisse als sündhaft und verderbt und verspricht eine strahlende Zukunft. Um die Kluft zum Handeln zu überbrücken, muss sie sich zugleich zentrieren und verengen: Sie muss Gegner und Feinde identifizieren, die sie an den Pranger stellen kann, und sie muss Gründe und Begründungen beibringen, die die herrschenden Legitimationsmuster destruieren. Ohne eine gewisse Bornierung, ein aktuelles Stillstellen des Zweifels, gibt es kein Heraustreten aus dem Alltag, keine Initiative der Veränderung. Entschlossenes Engagement und Entschiedenheit haben, parallel zu den Effekten affektiver Vergemeinschaftung, immer auch kognitive Kosten.
Diese Problematik verschärft sich, wenn sich die Bewegung weiter radikalisiert. Mit der Zuspitzung des Konflikts verfestigt sich ein dualistisches Weltbild, das sich aus sich selbst heraus reproduziert und weder Zwischentöne noch Gegenerfahrungen zulässt. Wertreinheit und ideologische Kompromisslosigkeit sind jetzt oberstes Gebot. Man hält Sprüche für Argumente und bewegt sich nur noch in selbstreferentiellen Sprachspielen, ja Sprachregimen, die einem ein Trugbild theoretischer Allmacht vermitteln und gegen jede Falsifizierung immun sind.
Das Strickmuster solcher Ideologien ist eine tautologische Verweisungsstruktur von Begriffen und Kernaussagen. Man postuliert einige wenige Dogmen – Sätze und Grundsätze, die niemals bezweifelt werden dürfen – und errichtet auf diesem Fundament riesige Gedankengebäude, die im Prinzip unendlich viele in sich stimmige Ableitungen ermöglichen und somit für jede denkbare Entwicklung oder Konstellation plausible Erklärungen bereithalten. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich diese Dogmen als überaus fragwürdig und widersprüchlich, doch dies tut ihrer apodiktischen Geltung und flexiblen Verwendbarkeit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Es ist letztlich eine Methode, von vornherein sicherzustellen, dass man, was auch immer geschieht, niemals Unrecht haben kann.
Heimito von Doderer hat diesen Verblendungszusammenhang in seinem nachgelassenen Essay Sexualität und totaler Staat, den er vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus gewissermaßen als philosophisches Vermächtnis verstand, als »pseudologischen Raum« charakterisiert. Er sieht darin nicht weniger als eine kognitive und zugleich äußerst affektgeladene Verdoppelung der Welt: »Jeder pseudologische Raum zeigt Zähigkeit; wie in einem Glaskörper elastischer Art eingeschlossen ist diese Welt; ja, es ist eine, es ist eine geschlossene Sphäre!« Gewiss leben die Akteure nach wie vor auch in der wirklichen Welt: Sie bewältigen ihren Alltag, gehen ihrer Arbeit nach oder fahren in Urlaub. Doch jenseits dieser Verrichtungen und der profanen Bindung an die Realität erschafft sich der Pseudologe permanent eine zweite, letztlich für ihn bestimmende Welt: »er vernebelt sich selbst.«
Mit fortdauernder Selbstindoktrination, der ständigen Wiederholung der Dogmen und Parolen, verdichtet sich der Nebel immer mehr. Das ideologische Gespinst wird zur Grundlage der eigenen Identität und damit unzerreißbar. Aktivismus verdummt, aber auf eine sehr eigentümliche Weise: »Die Dummheit ist hier nicht Dumpfheit; sie ist sehr wachsam, hellhörig, scharfsinnig geworden: ja eigentlich eine Intelligenz mit umgekehrtem Vorzeichen zu nennen.« Wie ein Schwamm saugt diese übersensible Dummheit alle Argumente und Informationen auf, die die eigene Gesinnung und Haltung stützen oder ergänzen – und blockt gleichzeitig alles Wissen und alle Erfahrungen ab, die sie in Frage stellen könnten.
Sicher ist das skizzierte pseudologische Bewusstsein die äußerste Extremvariante bequemen Denkens. Es ist wie eine permanente Flucht nach vorn in einer an beiden Seiten zugemauerten Einbahnstraße. Dem so Denkenden ist sie indes das Heil. Es ist deshalb, auch in seinen schwächeren Ausprägungen, nur von außen zu identifizieren. Woran erkennt man es? Das sicherste Indiz ist, unabhängig vom Inhalt, eine bestimmte Art des Redens: ein eifernder, zuweilen geifernder Tonfall, der den anderen von vornherein unter Rechtfertigungsdruck stellt, ein Schnellsprechen ohne Punkt und Komma, das alles Denken, jeden Gedanken, der einen irritieren könnte, immer schon überholt, die Unduldsamkeit des Unterbrechens und der Unwillen des Gesichtsausdrucks bei Skepsissignalen des anderen.
Trotzdem sind in der Einschätzung Vorsicht und Augenmaß und auch eine gute Portion Selbstwachsamkeit geboten. Wo fängt Gespultheit an? Von welchem Punkt an nennen wir ein Weltbild oder eine Argumentation ›ideologisch‹? Behauptungen und Argumente sind stets verkettet, und sie sind verortet in einem paradigmatischen Rahmen, den wir als Arbeitsgrundlage brauchen und nur selten zur Disposition stellen. Wir operieren ständig mit Tatsachen- und Werturteilen, die auf Voraussetzungen beruhen, die wir aktuell nicht näher hinterfragen, bei triftigen Gegenargumenten aber belegen und begründen müssen. Diese Begrenzung des Blickwinkels gilt nicht zuletzt für das Handwerk der Theorie. Heinrich Popitz hat dies in seiner Freiburger Vorlesung Allgemeine Soziologische Theorie einmal so formuliert: »Jeder konzeptionelle Ansatz, der bestimmte Phänomene aufdeckt, deckt eben auch bestimmte Phänomene zu. Es gibt keine Möglichkeit, Begriffe zu bilden, die nicht zugleich auch immer Scheuklappen darstellen.« Ohne ein gewisses Maß an Engführung und Einseitigkeit gibt es keine Zentrierung der Wahrnehmung, keine Erkenntnis. Das Problem ist also nicht das Stillstellen von Fragen und Zweifeln als solches, sondern die Irreversibilität solcher Vorannahmen, also ihr apodiktischer, der diskursiven Überprüfung entzogener Charakter.
Auch das bequeme oder unbequeme Denken unterliegt der Problematik fließender Übergänge und gradueller Abstufungen. Ebenso wie unser Empfinden auf dem Sofa sind auch das Denken und die allmähliche Herausbildung intellektueller Urteile nicht entweder bequem oder unbequem, sondern mehr oder weniger bequem. Und auch hier, ja bei der geistigen Arbeit überhaupt, ist es für den Einzelnen wichtig, die ihm gemäße Balance und Abfolge zu finden: Wenn wir es uns zu bequem gemacht haben, wird uns irgendwann langweilig und wir werden der Bequemlichkeit überdrüssig. Ist aber die Arbeit getan, so wollen wir uns ausruhen und entspannen.
Was also tun? Pause, es sich bequem machen, in den Himmel schauen.
(Der Text ist ein Abschnitt aus Rainer Paris: Theorie der Bequemlichkeit. Ein Entwurf, Manutius Verlag Heidelberg 2023.)