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von Ulrich Schödlbauer
Historische Darstellungen beruhen auf zwei Fragestellungen:
1. Was hätte passieren können, wenn…?
2. Was waren die auslösenden Faktoren für…?
Auf beide kann es, wie leicht einzusehen, nur hypothetische Antworten geben – im ersten Fall, weil die Frage selbst hypothetisch, im zweiten, weil der Gegenstand virtuell unendlich ist: historische Realität wird nur in Schichten zugänglich, Schichten verlangen Schnitte, Schnitte bedeuten Willkür – das heißt, spätestens an dieser Stelle fließen Interessen ein, irgendwann auch die Frage nach Schuld und Gerechtigkeit und damit das Problem der Monokausalität: Man will wissen, wer’s getan hat, und dieses Wissen ist bei komplexen historischen Vorgängen nicht zu erlangen. Das heißt, man setzt den Teil fürs Ganze und bleibt Gefangener einer Perspektive. Geschichte, so betrachtet, ist eine perspektivische Wissenschaft.
von Ulrich Schödlbauer
Dystopien sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, vor allem dann, wenn sie im Gewand der Zeitzeugenschaft daherkommen. In gewisser Weise sind alle Dystopisten Zeitzeugen: Sie fassen ihre geballten Beobachtungen dessen, was faul im Staate Dänemark, sprich in ihrer Lebenswelt ist, zu einem konsequenten Weltentwurf zusammen und verlegen ihn in eine unbestimmt ferne Weltgegend, besser noch, in die Zukunft. Was Wolski auf seinen Seiten (im Netz wie im Buch) bietet, lässt sich als dystopische Konstruktion der Gegenwart betrachten. Sie geht von einer geheimen Vorgeschichte aus, deren Eckdaten immer bekannt waren, deren wirkliche Bedeutung hingegen in den öffentlichen Darstellungen unterdrückt blieb. Dem entspricht der Gestus des Zeitzeugen, dessen raunende Beschwörung eigener Erlebnisse sich am Ende mit der Bemühung ›allgemein zugänglicher Informationen‹ zufriedengibt.
von Steffen Dietzsch
Am 1. Dezember 1934, einem Samstag, nachmittags gegen halb vier, wurde Sergej Mironowitsch Kirow (*1886) an seinem Dienstplatz, im alten Smolny-Institut in Leningrad, von einem jungen Komsomolzen, Leonid Nikolajew (*1904), mit einem Nagant-Revolver russ: Наган) in den Rücken geschossen. Kirow war Leningrader Parteichef (seit 1926, als er Sinowjew abgelöst hatte) und der gegenwärtig neben Stalin populärste Politiker in der Partei; zumal seit Februar 1934, als er auf dem XVII. Parteitag der KPdSU die spontane Sympathie der Mehrheit der Delegierten einstrich. – Mit diesem Attentat begann, wie wir heute wissen, eine neue Verschärfung im alltagsterroristischen Regierungshandeln in der UdSSR (das erst 1953, nach Stalins Tod, zurückgefahren wurde).
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G