von Herbert Ammon
Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten
I
Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im liberal-demokratischen Vertragsdenken kolportierten Vorstellung von der sich durch freie Übereinkunft und Wertbindung legitimierenden res publica– lautet einer der von Schmitt zitierten Kernsätze Hobbes’ Auctoritas, non veritas facit legem. Der große Leviathan ist der gemäß der Hobbesschen Theorie des Herrschaftsvertrags auf rationale Einsicht, de facto auf Unterwerfung gegründete Machtstaat. Dieser verfügt – wenngleich ›unter dem unsterblichen Gott‹ – als ›sterblicher Gott‹ über seine eigene Metaphysik: Er ist der Souverän. Er ist nicht den bürgerlichen Gesetzen unterworfen. Zugespitzt lautet der Satz bei Carl Schmitt: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Zusammen mit dem als Freund/Feind-Verhältnis definierten Begriff des Politischen sind derlei Sätze in der politischen Bildung der Bundesrepublik tabu.
Für den Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski gehört das Staatsdenken eines Carl Schmitt – zusammen mit den Werken von Machiavelli, Alexis de Tocqueville, Jacob Burckhardt, Max Weber, Hannah Arendt und anderen Klassikern, nicht zuletzt Karl Löwith – zum Werkzeug des Historikers. Anno 2021 – ein Jahr vor Putins Angriff auf die Ukraine und der Wiederkehr des Feindes auf der europäischen Bühne – erschien von ihm ein schmales Buch zur russischen Revolution 1917 mit dem Titel Der bedrohte Leviathan, das aus seiner Carl-Schmitt-Vorlesung 2016 hervorgegangen war. ( Siehe hier ) Entsprechend lautet der Titel der vorliegenden, über dreizehnhundert Seiten umfassenden Darstellung der Geschichte Russlands vor 1914 Der sterbliche Gott.
II
Mit Der sterbliche Gott ist auch das Einleitungskapitel übertitelt, in dem Baberowski seinen theoretischen Zugriff auf das Thema expliziert. »Es gibt keine machtfreien Räume, nicht einmal dort, wo auf den ersten Blick kein Zwang zu spüren ist.« (14) Als Zeugen für einen illusionslosen Begriff von Herrschaft benennt Baberowski auch den britischen Marxisten Terry Eagleton: »Herrschaft beruht auf kollektiver Amnesie, die Verbrechen der Vergangenheit werden zu treuen Weggefährten...« (ibid.14).
In ihren unterschiedlichen Phasen erscheint die russische Geschichte wie eine Illustration zu Max Webers Herrschaftstypologie: von nackter Gewalt unter Iwan IV. Grosnyi (›der Gestrenge‹) über die ›fortschrittliche‹ Organisation des Machtstaates unter Peter I. d. Gr. hin zur effektiven bürokratischen Herrschaft im Imperium des 19. Jahrhunderts. Gegründet auf Unterwerfung, schöpfte der russische Staat seine Legitimation aus Gehorsam, Tradition und naivem Glauben an den fernen, gütigen Zaren.
Zuweilen bricht aus der Lethargie und/oder dem Ruhebedürfnis des untertänigen Volkes der Geist der Auflehnung, die rasende Wut der Empörung hervor, wofür das große Russland mit seinen Bauernaufständen und blutigen Revolten der exemplarische Ort ist. Der Terror der aus dem narodnitschestwo hervorgegangenen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts gehört in eine andere Kategorie: Der aus der westlichen Aufklärung hervorgegangene ›Tod Gottes‹ zerstört mit dem Verlust metaphysischer Gewissheit nicht nur die Grundlage traditionaler Herrschaft. In dem Maße, wie der ›moderne‹ Mensch – idealtypisch porträtiert von Iwan Turgenjew in der Figur des Nihilisten Basarow – seiner geistigen und sozialen Einsamkeit gewahr wird, verlangt es ihn nach brüderlicher, vermeintlich herrschaftsfreier Gemeinschaft. Die ›transzendentale Obdachlosigkeit‹ (Georg Lukács) der gebildeten Jugend im sich bürokratisch modernisierenden Zarenreich, erst in zweiter Linie das Elend der ›Massen‹, bildet den Mutterboden der russischen Revolution.
III
Baberowski reproduziert nicht einfach das seit Montesquieu geläufige Bild der westlichem Geist wesensfremden asiatischen Despotie. Stattdessen geht er der Frage nach, warum das Zarenreich, wie es im Staatsmodell Peters I. [ohne Epitheton ›d. Gr.‹] etabliert wurde, sich wider jede Erwartung durchsetzen und über dreihundert Jahre bestehen konnte, »sogar das Revolutionsjahr 1905 unbeschadet überstand?« (24)
Die – von historischen Brüchen geprägte – Herausbildung der russischen Autokratie wird im zweiten Kapitel mit dem Titel Tyrannen und Reformer dargestellt. Nach dem Terrorregime Iwans IV. und der ›Zeit der Wirren‹ gelangt das Haus Romanow auf den Zarenthron. Mit der ›westlich‹ inspirierten Revolution von oben modernisiert Peter I. die – noch immer mit despotischen Zügen ausgestattete – Autokratie, gegründet auf Armee, Dienstadel und Staatskirche. Von der mit ›Tränen und Leichen‹ in europäischem Glanz errichteten Hauptstadt Sankt Petersburg aus regiert und erweitert der Imperator das Reich. Mit Ausnahme der im Nordischen Krieg gegen Schweden eroberten baltischen Provinzen, wo die dünne deutsche Oberschicht ihre Herrschaftsrechte weiterhin ausüben konnte, vermochten Dienstadel und Stadtbürger im petrinischen Absolutismus kein ständisches Selbstbewusstsein zu entwickeln, um als Gegengewicht zur Autokratie zu wirken.
Die von ihr im Zeichen der Aufklärung angekündigten Reformen verkehrte die deutsche Zarin Katharina II. [wiederum ohne ›d. Gr.‹] im Verlauf ihrer langen Herrschaft (1762-1796) ins Gegenteil. Während sie den Landadel von Dienstpflichten entband und mit erblichem Grundbesitz ausstattete, verschärfte sich – anstelle der von ihrer Reformkommission ins Auge gefassten Bauernbefreiung – die im Laufe der Jahrhunderte ausgebildete Leibeigenschaft zu einem Zustand völliger Rechtlosigkeit, wie sie Alexander Radischtschew, »Russlands erster radikaler Aufklärer« (83), 1790 in seinem Roman Reise von Petersburg nach Moskau beschrieb.
Ins späte 18. Jahrhundert fallen die Anfänge der von der europäischen Aufklärung – und der deutschen Philosophie – angezogenen Intelligenzija. Auf Bildungsreisen entdeckten Söhne – und und alsbald auch die Töchter – des Landadels, des Hofadels sowie wohlhabender Stadtbürger die Ideen der bürgerlichen Freiheit. Typisch für den revolutionären Radikalismus im 19. Jahrhundert war das Missverständnis von Freiheit durch Identifikation mit wolja, dem unklaren Freiheitsverlangen der unter Knute, Ausbeutung und Steuerdruck leidenden Bauernschaft.
Effiziente bürokratische Institutionen entstanden nach der Ermordung Pauls I. unter dessen Sohn, dem anfangs liberal gesinnten Alexander I. (1801-1825). Erstmals gab es jetzt selbständig fungierende Ministerien, den Staatsrat als gesetzgebende Kammer sowie – dank der Umgestaltung des Regierenden Senats - einen Obersten Gerichtshof. Nichtsdestoweniger erklärte Alexanders Bruder und Nachfolger Nikolai I. (1825-1855) dem französischen Schriftsteller Marquis Astolphe de Custine: »In Russland besteht der Despotismus noch, weil er das Wesentliche meiner Regierung ist, aber er steht im Einklang mit dem Volksgeiste.« (Zit. 93f.)
Bei Baberowski erscheint Nikolai I. nicht nur in der bekannten Rolle des reaktionären ›Gendarm Europas‹. Einerseits gründete er nach der Niederschlagung des Dekabristenaufstands die Geheimpolizei, andererseits stabilisierte er die Autokratie durch die Errichtung eines juristisch geschulten Beamtenapparats. »Die Autokratie machte sich nun von der Anerkennung jener Eliten abhängig, die in ihrem Namen Herrschaft ausübten.« (102) Zudem ließ Nikolai I. die Berufung liberaler Professoren an den Universitäten zu, was wiederum den Boden für die Ausbreitung der Intelligenzija und deren Radikalisierung bereitete.
IV
Wie in der Geschichte der Französischen Revolution ging in Russland die Kritik der Intellektuellen der Krise des Staatswesens voraus. Nicht zufällig ist dem III. Kapitel ein Zitat Tocquevilles über das Ancien Regime vorangestellt. In Anlehnung an Reinhard Koselleck hat Baberowski das betreffende Kapitel mit Kritik und Krise und das nachfolgende mit Krise und Kritik übertitelt. In der Erzählung Die Dekabristen schrieb Leo Tolstoi:
Die Reformen des ›Zarbefreiers‹ Alexander II. beförderten das Anwachsen der – alsbald in Terror mündenden – revolutionären Strömungen. Während die Reformen – im Rahmen der dezentralen Selbstverwaltung (semstwo) – liberale Fortschritte in Justiz und Bildung zeitigten, stießen sie im zentralen Projekt der Bauernbefreiung an ihre Grenzen. Die durch die Aufhebung der Leibeigenschaft geweckten Hoffnungen der anwachsenden Landbevölkerung blieben – letztlich bis ins Revolutionsjahr 1917 – unerfüllt.
Dass die narodniki – Baberowski verzichtet auf den in deutschen Geschichtsbüchern gebräuchlichen Begriff ›Volkstümler‹ – mit ihren utopisch-revolutionären Ideen bei den landhungrigen Bauern geringe Resonanz fanden, entsprang dem Unverständnis der Gebildeten für die realen, im idealisierten mir bestehenden traditionalen Lebensformen. Umso mehr verlegten sich die Revolutionäre auf die Waffe des Terrorismus. Nach ihrem vergeblichen ›Gang ins Volk‹ 1874 überzogen sie, getragen von Sympathien in der liberalen Gesellschaft, das Land mit einer Terrorwelle. Nach einem – missglückten – Revolverattentat auf den Petersburger Stadthauptmann wurde Vera Sassulitsch freigesprochen, was im Gerichtssaal und in der liberalen Presse Jubelstürme auslöste.
Nach zahlreichen Terrorakten in der Provinz, einem Attentatsversuch auf den Zaren und zuletzt einem Bombenanschlag auf das Winterpalais reagierte Alexander II. im Februar 1880 durch Berufung einer ›Obersten Exekutivkommission‹ mit dem Ausnahmezustand. Die Regierungsgewalt legte er in die Hände des armenischen Generals Michail Loris-Melikow, der sich als Generalgouverneur an verschiedenen Orten, darunter in Charkow, einer Geburtsstätte des ukrainischen Nationalismus, in Krisensituationen bewährt hatte. Als ›Diktator der Herzen‹ gelang es Loris-Melikow, mit einer Mischung aus Härte und Liberalität die Terroristen zu isolieren und die Ruhe wiederherzustellen. Im Gegenzug beschloss das Vollzugskomitee der ›Narodnaja Wolja‹ die Ermordung des Zaren. Just in der Phase, als er dem Reich eine Verfassung geben wollte, wurde Alexander II. am 1. März 1881 auf dem Weg ins Winterpalais von der Bombe des zweiten Attentäters getötet, nachdem ihn der erste mit seiner Bombe verfehlt hatte.
Der Darstellung des russischen Terrorismus widmet Baberowski breiten Raum. Es geht um die Dialektik von Staatsapparat und Freiheitsverlangen, um Sinnbedürfnis des ›überflüssigen Menschen‹, um Ideologie und Psychologie der Terroristen, um Opferbereitschaft, Verrat und Seitenwechsel. Lew Tichomirow, einer der am Attentat führend beteiligten Narodnowolzen, schrieb Zar Alexander III. einen offenen Brief, in dem er den Verzicht auf Terror gegen die Erfüllung politischer Forderungen anbot. Er sprach vom gemeinsamen Streben nach Wahrheit und beidseitigen Gefühlen der Verbitterung. »Aber wir sind bereit, die persönlichen Gefühle zu unterdrücken, wenn es das Wohl Russlands verlangt.« (Zit. 299).
Vorübergehend gelang die Unterdrückung des Terrorismus dem Chef der Petersburger Geheimpolizei Georgi Sudeikin, der Sergei Dadajew, einen führenden Terroristen, umgarnte und ihm die Namen von zweihundert Aktivisten entlockte. Sodann sollte Dadajew Tichomirow aus dem Pariser Exil nach Russland locken, offenbarte sich diesem jedoch als Doppelagent. Daraufhin befahl ihm Tichomirow unter Drohungen, Sudeikin zu töten, was er im Dezember 1883 zusammen mit zwei Genossen auf grausame Weise auch ausführte. Ein Jahr später emigrierte er über Riga und England in die USA, wo er unter verändertem Namen an der Universität von South Dakota Mathematik unterrichtete. (304-307). Tichomirow selbst sagte sich vom Terrorismus los, kehrte – nach Begnadigung durch den Zaren – 1889 nach Russland zurück, bekannte sich wieder zur Orthodoxie und wurde zu einem Protagonisten des russischen Monarchismus.
V
Dass das Volk nicht ›tümlich‹ ist, zeigte sich erneut in zahlreichen Gewaltausbrüchen. In den 1890er Jahren, als sich Russland unter der Regie des Finanzministers Sergei Witte, dem Erbauer der Transsibirischen Eisenbahn, zum ›Treibhaus des Kapitalismus‹ entwickelte, verschmolzen Bauernrevolten – oft angefacht von ihrem Dorf weiterhin verbundenen Arbeitern – mit der in den Elendsvierteln der expandierenden Städte und in den trostlosen Industrieregionen wie des Donbass oder um Baku angestauten Gewalt. Oft genug entzündete sich die Wut der ›Volksmassen‹, darunter allerorts gewaltlüsterne Hooligans, in mörderischen Pogromen.
Jetzt erst fanden die Parolen der sozialistischen Revolutionäre auch auf dem Lande Gehör, wie 1903 bei den Bauern im georgischen Gurien. Unter den Revolutionären rivalisierten die mit Terror operierenden Sozialrevolutionäre (SR) mit den marxistischen Sozialdemokraten. In deren Reihen fiel die von Lenin (»ein Mann von außerordentlicher Gefühlskälte«, 624) bewirkte Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki kaum ins Gewicht. Letzteren gehörte kurzzeitig noch Trotzki an, als Kopf des Petersburger Sowjet 1905 »ein 26 Jahre alter, radikaler und selbstverliebter Revolutionsdarsteller«.( 951)
Über stärkeren Anhang verfügte – als nicht revolutionäre, zarentreue Kraft mit radikalen, lebensnahen Forderungen – die ursprünglich von dem Ex-Nihilisten und Moskauer Polizeichef Sergei Subatow organisierte Gewerkschaftsbewegung. Mit dem Priester Georgi Gapon gewann Subatow eine charismatische Führungsfigur für den „gelben“ Polizeisozialismus, den Lenin in „Was tun?“ (1903) als Gefahr für seine Revolution erkannt hatte. (783)
Der Sozialrevolutionär Piotr (Pinchas) Ruthenberg, später zionistischer Pionier in Palästina, schrieb in seinen Erinnerungen, die Intellektuellen hätten den Priester gehasst, die Arbeiter hingegen angebetet. (781) Am ›Blutsonntag‹ des 9. Januar 1905, als der von Gapon angeführte Petitionszug zum Winterpalais – Zar Nikolai II. weilte in Zarskoje Selo – im Gewehrfeuer endete, rettete ihm Ruthenberg das Leben. Ein Jahr später, nachdem sich der eitle Gapon tatsächlich von der Geheimpolizei hatte korrumpieren lassen, brachte ihn Ruthenberg – im Auftrag von Jewno Asef, als Doppelagent Chef der Kampforganisation der SR – zusammen mit drei proletarischen Kampfgenossen um. (811f.)
VI
Der Petersburger ›Blutsonntag‹ gilt als Kenndatum für die Revolution von 1905. Diese wird gewöhnlich als ›Generalprobe‹ für die Russische Revolution 1917 behandelt. Der Historiker Orlando Figes schrieb, die in der ungelösten Agrarfrage sowie in der stürmischen Industrialisierung angelegten Konflikte hätten »unerbittlich auf eine Revolution [zugesteuert].« (Zit. 721) Baberowski hält dagegen: »Wer vom Ende auf den Anfang sieht, gerät leicht in Versuchung, das Ende für eine unausweichliche Konsequenz des Anfangs zu halten.« (Ibid.)
Richtig ist, dass beide Revolutionen aus Kriegskatastrophen hervorgingen. Leichtfertig hatte der bei den Liberalen verhasste Innenminister Wjatscheslaw von Plehwe 1903 – ein Jahr vor seiner Ermordung – erklärt, man brauche, »um die Revolution abzuwenden, einen kleinen, siegreichen Krieg.« (Zit. 746) Es war dann sein Gegenspieler Witte, der mit einem Machtspiel im Fernen Osten die unterschätzten Japaner im Februar 1904 zum Angriff auf Port Arthur provozierte. Als Witte im September 1905 – nach Unterzeichnung des für Russland dank Vermittlung des US-Präsidenten Theodore Roosevelt wundersam glimpflichen Friedens von Portsmouth – nach Petersburg zurückkehrte, befand sich das gesamte Imperium in revolutionärem Aufruhr.
Das dem Zaren (»Nikolai war eine Fehlbesetzung auf dem Thron«, 689) von Witte abgenötigte Oktobermanifest löste zwar in Petersburg Begeisterung aus, wirkte anderswo aber nur als Zündfunke für weitere Gewalt. Für die Juden, schrieb Simon Dubnow, »[sind] die Tage vom 18. bis 25. Oktober eine ununterbrochene Bartholomäusnacht, und sie ist noch nicht zu Ende!« (Zit. 958). Allein im Jahr 1906 starben durch Terroranschläge 1126 Beamte, 1907 an die 3000. »Wahrscheinlich ließen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges mehr als 17 000 Menschen ihr Leben.« (972)
Im gesamten Land verstanden die Bauern das Manifest des Zaren als Signal zur Landnahme und Zerstörung der Gutshäuser. Entlang der Transsibirischen Eisenbahn marodierten Soldaten, besetzten Bahnhöfe, Telegraphenstationen und Stadtverwaltungen. Während in Petersburg der Arbeiterrat ohne Widerstand aufgelöst und eine Meuterei von Soldaten selbst beendet wurde, kam es im Dezember 1905 in Moskau sowie in zahlreichen Städten, nicht zuletzt in den baltischen Provinzen zu blutigen Aufständen. Auf der Gegenseite heizten die reaktionären Schwarzhunderter den Mob zu mörderischer Gewalt auf.
Kennzeichnend für das Revolutionsdrama war – nicht anders als im Revolutionsjahr 1917 – das unsichere Verhalten der Liberalen. Mit Verständnis kommentierte der Historiker und Führer der Konstitutionellen Demokraten (›Kadetten‹) Piotr Miljukow die Ermordung des Großfürsten Sergei Alexandrowitsch. Der Mörder habe sich für das Wohl des Volkes geopfert. (971) Umgekehrt bewiesen in all dem nach dem Oktobermanifest anhaltenden Chaos Witte, nunmehr als Ministerpräsident, sowie der konservative Innenminister Pjotr Durnowo gleichsam die Wirksamkeit der Schmittschen Lehre: Mit aller im Ausnahmezustand verfügbaren Härte, gestützt auf Kosaken, loyale Armeeeinheiten und Polizei, gelang es ihnen, die Aufstände im gesamten Reich niederzuwerfen.
Ähnlich souverän, entschlossen im Machtgebrauch gegen noch aufflackernde Bauernaufstände sowie den noch nicht erstorbenen Terror, verfuhr Wittes Nachfolger Piotr Stolypin (1906-1911). »Einmal im Leben hatte Nikolai II. eine richtige Entscheidung getroffen.« (1081) Wenngleich unter Druck der Radikalen in der ersten und erst recht in der zweiten Duma, bekannte sich Stolypin, ein »konservativer Visionär« (1082), zur Verfassung von 1906. (Baberowski folgt hier nicht Max Weber mit dessen Abwertung des ›russischen Scheinkonstitutionalismus‹.) Mit einer liberalen Agrarreform hob Stolypin endgültig die Bindung der Bauern an den mir auf, befreite sie von Ablösungslasten, stattete sie mit Krediten aus und förderte die Ansiedlung – bis 1914 von insgesamt 2,5 Millionen Bauernstellen – in Sibirien. Am 1. September 1911 wurde Stolypin im Opernhaus von Kiew von einem von den Sozialrevolutionären zur Tat gezwungenen Rechtsanwalt und Polizeispitzel ermordet.
Unter Stolypins schwachen Nachfolgern stagnierten die Reformen. Nichtsdestoweniger herrschte im Innern des Reiches am Vorabend des Krieges Ruhe. Rückblickend schrieb der Philosoph Fedor Stepun:
VII
Geht es um den Ersten Weltkrieg als Ursache alles über Russland und Europa kommenden Unheils, so rücken Fragen der Außenpolitik in den Blick. Das Thema kommt in Baberowskis auf Staat und Gesellschaft gerichtetem Buch nur im Zusammenhang mit den Großmachtambitionen Peters I. im Nordischen Krieg Peters sowie im russisch-japanischen Krieg von 1904/1905 zur Geltung. An dieser Stelle spricht er vom »russischen Größenwahn«. (728) Damit werden Fragen nach den Wurzeln von Machtpolitik, nach geopolitischen Aspekten und der Triebfeder imperialer Expansion ausgeklammert. Immerhin erfolgte in der Ära des Imperialismus auch das Ausgreifen der USA im Pazifik mit der Annexion Hawaiis sowie – im Gefolge des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898 – die Besetzung der Philippinen. Das grenzenlose Russland war zuvor bereits über zwei Jahrhunderte bis an den Pazifik vorgestoßen.
Derlei Kritik tut der Qualität des monumentalen Werkes keinen Abbruch. Im Gegenteil: Zu den Stärken des Buches gehört seine flüssige Lesbarkeit. Historie verflacht hier nicht zu einem modischen ›Narrativ‹, sondern wird zu einer faszinierenden Erzählung. Die Kunst der Darstellung verknüpft der Autor mit seinem Verständnis von Geschichte:
Der zaristische Machtstaat des 19. Jahrhunderts war nicht identisch mit terroristischer Willkür. Seine Sterblichkeit erfuhr er erst im Revolutionsjahr 1917. In moderner Version – und propagandistisch vor Augen gestellt in dem Film von Sergej Eisensteins über Iwan IV. Grosnyi – kehrte das Terrorregime während der Diktatur Stalins wieder. Weitere historische Folgerungen überlässt Baberowski dem Leser. Wie steht es mit dem Regime Putins? Ohne Frage erhob sich der russische Leviathan – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus dem Chaos der Jelzin-Jahre – unter Wladimir Putin zu neuem Leben. Handelt es sich um ein mit hässlichen Zügen ausgestattetes imperiales Macht- und Herrschaftssystem oder um einen Behemoth auf tönernen Füßen?