von Heinz Theisen
Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung in einer multipolaren Welt
Der Westen hat kein Monopol auf Modernisierung mehr. Je weniger es nur eine Moderne, den Westen gibt und neue Formen der Modernisierung entstehen, desto mehr werden auch Indien und China politisch ihre eigenen Wege gehen.
Mit der moralischen, den Westen in seiner Hegemoniebestrebungen legitimierenden Unterscheidung von Demokratie und Diktatur werden wir der Multipolarität der Welt nicht gerecht, zumal die meisten Mächte jeweils oligarchische Züge ausprägen. Es ist weniger eine moralische Forderung als ein Appell an das aufgeklärte Eigeninteresse, sein Heil nicht mehr in seiner Ausdehnung, sondern in der eigenen Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung zu suchen.
In einer multikulturellen Welt braucht der Westen eine neue geopolitische Strategie, die bereit ist, den anderen Kulturen als Werteordnungen und konkurrierenden Mächten ihre Eigeninteressen bis hin zu eigenen Einflusssphären zuzugestehen. Statt der Universalität westlicher Werte und einer Hegemonie des Westens gilt es die Gegenseitigkeit der Kulturen und Mächte in den Mittelpunkt zu stellen.
Die USA nehmen bereits von ihrer Hegemoniepolitik Abstand. Selbst befreundete Staaten wie Brasilien und Indien verweigern dem Westen hinsichtlich der Russland-Sanktionen die Solidarität und orientieren sich an einem neuen Staatenbündnis der BRICS-plus, in dem die ideologische Ausrichtung der politischen Systeme keine Rolle spielt. Sie entziehen sich damit der Zweiteilung nach westlichen Demokratien und Autokratien im Rest der Welt.
Vielfalt nach innen, Einheit nach außen. Eine Europäische Union à la carte
Die Frage lautet nicht, »Europa: Ja oder Nein?«, sondern »Welches Europa?« Wollen wir ein dezentraleres Europa der Nationen und der Vielfalt nach innen und der Gemeinsamkeit und Stärke nach außen? Was mit freiem Handel und innerer Friedenspolitik begann, hat zu einer zentralisierten Machtstruktur geführt, die auf Kosten der nationalen Souveränität geht. Nötig ist hingegen eine Rekonstruktion der Grundwerte Europas wie Demokratie, Souveränität und Gleichgewicht.
Der erste Schritt eines »Zurück zu den Wurzeln« wäre das Modell einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie 1957 begründet wurde. Dieses Szenario würde eine Dezentralisierung mit sich führen. Die Souveränität der Mitgliedsstaaten sollte wiederhergestellt werden – im ausdrücklichen Gegensatz auch zu Emmanuel Macrons Forderung nach einer »europäischen Souveränität«. Die nationalen Regierungen sollten wieder die Verantwortung für Schlüsselbereiche der Politik innehaben. Daraus würde die freiwillige Zusammenarbeit in spezifischen Projekten möglich. Die EU wäre keine politische Union, sondern eine »Gemeinschaft der Nationen«. Die Europäische Union braucht sich selbst behauptende Nationalstaaten, die in der Lage sind, eine sich nach außen selbstbehauptende Europäische Union zu stützen. Die meist zu kleinen europäischen Staaten sind weder dem globalen Wettbewerb noch Konflikten mit den drei Weltmächten gewachsen. Der isolierte Nationalstaat wäre auch dem Kampf mit der islamischen Welt nicht gewachsen. Gefordert ist hingegen ein À-la-carte-Modell der Integration. Die Staaten wählen selbst, wo sie sich an einem engeren Verbund beteiligen wollen und wo nicht (Opt-in und Opt-out). In jedem Fall sollte EU-Recht keinen Vorrang mehr vor nationalem Recht haben.
Es wäre möglich, Europas Grenzen zu sichern, wie Australien, Kanada oder auch Ungarn beweisen. Die Europäische Union muss daher ein positives Verhältnis zu imperialer Stärke in defensiver Absicht finden. Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft liegt in weiter Ferne. Die EU-Staaten sind derzeit nicht einmal in der Lage, ihre Waffenbestände zu erheben und zu koordinieren.
Eine Nato, die sich differenziert und begrenzt
Im Kalten Krieg waren die Grenzen des Westens bis auf den Meter geklärt, was trotz aller ideologischer Feindschaft den Frieden erhalten half. Die militärischen Interventionen des Westens in der islamischen Welt haben sich dagegen von Afghanistan bis Mali als Desaster erwiesen. Sie standen im Einklang mit einer Strategie einer sich global engagierenden NATO.
Nach dem Ende des Kalten Krieges mutierte die NATO zum globalen Akteur, bis hin zu gleichzeitigen Partnerschaften mit Aserbaidschan und Armenien. In der multipolaren Welt wird sie von einem neoimperialen wieder zu einem defensiven Verteidigungsbündnis des längst wieder selbst bedrohten Westens schrumpfen müssen. Im Gegensatz zu dem naiven Glauben der europäischen Eliten geht es in der Welt nicht um eine Moralordnung, schon sondern um eine Machtordnung. Eine herbeifantasierte »regelbasierte Weltordnung« hat es nie gegeben. Das Völkerrecht war für die amerikanische Weltpolitik vom Kosovo bis zum Irak so irrelevant, wie sie es für Moskau im Hinblick auf die Ukraine ist.
Die nach 1991 eingeleitete Globalität und Universalität des Westens sollte mit der Einverleibung der Ukraine und Georgien in die Nato gekrönt werden. Mit der Nato-Politik, die Ukraine und Georgien aus der Machthemisphäre Russlands herauszulocken, ohne ihnen unmittelbaren Beistandsschutz zu gewähren, wurde die Ukraine in eine Falle gelockt. Diese geokulturelle Überdehnung in die russische Machtsphäre hinein erwuchs aus den Annäherungsversuchen vor allem der Nato, aber auch der Europäischen Union an die vorher bewusst neutral gebliebene Ukraine. Sie wurde unter Missachtung aller geopolitischen Gesichtspunkte nach Westen gezogen und im Ergebnis zerrissen.
Damit wurde das Gleichgewicht der Macht, jenes Minimum einer machtpolitischer Friedensordnung, in Europa massiv in Frage gestellt. Die Gegenreaktion Russlands, der Angriff auf die Ukraine, resultiert aus dem Bestreben, eine Großmacht bleiben zu wollen. Nach dem Krieg wird es um eine Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichts zunächst in Europa gehen müssen. Dafür wird sich die Nato an ihre Grenzen halten und der russischen Einflusssphäre ihren Tribut zollen müssen.
Die neue amerikanische Regierung will im Rahmen einer multipolaren Weltordnung ihr weltpolitisches Disengagement auch in Europa zum Ausdruck bringen. Es gehört aber nicht zu den amerikanischen Interessen, ganz auf Einflussnahme in Europa und damit auch in Nahost und Afrika zu verzichten. Die USA verlangen von der EU mehr Eigenleistungen. Dies kommt wiederum dem Interesse der Europäer nach mehr Wahrung ihrer eigenen Interessen entgegen. Sie werden eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft innerhalb der Nato aufbauen müssen.
Ein Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft würde sie auf unabsehbare Zeit wehrlos, d.h. nicht abschreckungsfähig machen. Dies wäre schon im Hinblick auf islamistische Tendenzen in der Türkei gefährlich. Stattdessen sollten die EU-Europäer dazu beitragen, dass die Nato wieder als Defensivbündnis wie im Kalten Krieg rekonstruiert wird. (Zu den vom Westen zu verantwortenden Ursachen des Krieges gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Büchern, vgl. etwa Thomas Röper, Die Ukraine-Krise, Günter Verheugen, Petra Erler, Der lange Weg zum Krieg. Russland, die Ukraine und der Westen.)
Die Nato muss sich daher im Rahmen einer Strategie von einem die USA und die EU-Staaten umfassenden Bündnis zu einem Grenzsicherungsbündnis entwickeln. Eine Grenzsicherung im Süden Europas wäre wesentlich wichtiger als 22 globale Partnerschaften, über die die Nato jetzt verfügt. Nach erfolgreicher Abgrenzung von anderen Kulturen und Eindämmung seiner Feinde kann der Westen von seiner angemaßten Universalität zu einer Koexistenz der Kulturen und Mächte übergehen. Die Koexistenz von Kultur und Politik könnte dann zur Konnektivität von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft überleiten.
Grenzen der Kulturen in einer multipolaren Weltordnung
Ein defensiver Imperialismus der Selbstbehauptung des Eigenen würde den Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung einleiten. Der Ukraine-Krieg resultiert aus geokultureller Perspektive auch aus der mangelnden Einsicht in die Grenzen zwischen dem westlichen und dem russisch dominierten Teil Osteuropas. Der kulturelle Unterschied zwischen West- und Osteuropa ergibt sich aus der 1000-jährigen Trennung des orthodoxen Christentums vom säkularen West-Christentum. Die theologischen Unterschiede sind kaum mehr bekannt, aber die Prägungen, vor allem im Verhältnis zu Staat und Kirche, sind weiterhin relevant.
In der Ukraine treffen beide Kulturen aufeinander und deshalb wäre ihre Neutralität als einer Art Schweiz zwischen West und Ost geboten gewesen. Jetzt bleibt nur noch ihre Teilung. »Gerechter Friede« durch westliche Werte, dieser Anspruch lag dem Moralismus und Globalismus der westlichen Außenpolitik in den letzten drei Jahrzehnten zugrunde. Präsident Selenskyj bemüht das Narrativ vom »Gerechten Frieden«, um damit einen Waffenstillstand und die damit verbundene Teilung der Ukraine auszuschlagen. Dabei hat eine solche Teilung wie im Fall Koreas, Zyperns und nicht zuletzt Deutschlands über vierzig Jahre hinweg den Frieden zu bewahren geholfen und die Möglichkeiten späterer Veränderungen gleichwohl offen gehalten. Nord- und Südkorea haben seit 1954 nie einen Friedensvertrag unterzeichnet. Formal gesehen befinden sie sich immer noch im Kriegszustand, aber die koreanische Halbinsel ist seither friedlich. Auch die Türkei und Griechenland haben nie ein Friedensabkommen über Zypern geschlossen.
Die Rekonstruktion Europas würde demnach aus einer geo- und realpolitischen Teilung zwischen Ost- und Westeuropa hervorgehen. Hierbei könnte Europa seine Dekadenz zu Hilfe kommen. Selbst befreundete Staaten wie Brasilien und Indien verweigerten dem Westen hinsichtlich der Russland-Sanktionen die Solidarität und orientieren sich am neuen Staatenbündnis der BRICS-plus.
Die anstehende Teilung zwischen der russischen Ost-Ukraine und einer dann west-europäisch orientierten West-Ukraine könnte in ein neues Gleichgewicht der Mächte in Europa und dann auch der multipolaren Welt übergehen. Emmanuel Todd ist davon überzeugt, dass die Bemühungen der Vereinigten Staaten, Deutschland von Russland zu trennen, letztlich scheitern werden. Ihre gemeinsame Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau stimme Russen und Deutsche versöhnlich und nähere sie einander an. Sie könnten nicht mehr gegeneinander Krieg führen. Hingegen würden sich ihre wirtschaftlichen Spezialisierungen gegenseitig so gut ergänzen, dass sie den Chancen der Kooperation nicht dauerhaft entgegenstehen werden.
Eine Rückkehr zu den Grenzen der Kulturen würde den Blickwinkel von Osten nach Süden verlagern, denn die Unterschiede des westlichen Europas zum Islam sind ungleich gravierender als die zu Russland. Nach Corona und Klima hat die politische Linke das autoritär regierte Russland zur größtmöglichen Gefahr erklärt, wohl auch, um über diese Dramatisierung von ihrem Versagen in der Migrationspolitik und der daraus entstandenen sozialen und kulturellen Destabilisierung Europas abzulenken. Aber es sind nicht Putins Agenten, die in unseren Straßen Menschen abstechen und vergewaltigen und auch innerhalb Russlands werden keine fremdreligiösen Gruppen attackiert und ermordet – wie in dem von der Europäischen Union zum neuen Partner ausgerufenen islamistischen Syrien.
Es gehört zu den unverzeihlichen Fehlern eines Staatsmannes, den falschen Feind zu bekämpfen. Anders als die 1,9 Milliarden Muslime sehen sich die Russen, Angehörige des christlichen Kulturkreises, nicht als ideologisch geborene Feinde des Westens. Die falsche Feindbestimmung unterlässt die gebotene Unterscheidung von Autoritarismus und Totalitarismus. Während autoritäre Regime primär an ihrer Herrschaftssicherung und Stabilität interessiert sind, richten totalitäre Ideologien und ihre Regime, seien sie kommunistisch oder islamistisch, wesensgemäß ihre Herrschaft auf Ausdehnung aus. Anderenfalls würden sie ihren totalen Wahrheitsanspruch auch nach innen verlieren.
Die Vertauschung des kleineren Übels »Autoritarismus« mit dem größeren Übel des islamistischen Totalitarismus zeigte sich etwa in der Feindschaft gegenüber dem säkularen Assad-Regime in Syrien. Demgegenüber steht die EU dem neuen islamistischen Regime in Syrien mit Milliarden-Hilfen bei. Für die seltsame weltanschauliche Sympathie zwischen Linken und Islamisten gibt es nur eine Erklärung: der ihnen gemeinsame, von der »postkolonialen Ideologie« untermauerte Hass auf den einst christlich und liberal-bürgerlich orientierten Westen.
Im Rahmen der Unterscheidung zwischen Autoritarismus und Totalitarismus sollte auch an der Unterscheidung von Islam und Islamismus festgehalten werden. Sie ermöglicht eine Politik des »Teile und Herrsche« bzw. »Teile und Verteidige« durch Koexistenz gegenüber gemäßigten islamischen Staaten und – dann auch mit ihrer Hilfe – der Eindämmung totalitärer Akteure und Staaten.
In ihrer Logik läge es sogar, das autoritäre Russland als Sicherheitspartner im Kampf gegen den Islamismus aufzubauen. Der globale Kampf des Islam wird nicht nur gegen das Judentum, sondern gegen das Christentum geführt, welches im Nahen Osten nahezu verschwunden ist. Dementsprechend wird nach Israel Europa das Ziel islamischer Ausdehnung sein. Der totalitäre Islamismus ist weder für demokratische noch für autoritäre Systeme akzeptabel, woraus sich neue Konstellationen einer Zusammenarbeit ergeben.
Literatur
Hauke Ritz, Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas, Frankfurt/M 2023
Thomas Röper, Die Ukraine-Krise. 2024 bis zur Eskalation, Wie der neue Kalten Krieg begann, Gelnhausen, 3. Aufl. 2022
Emmanuel Todd, Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall, Frankfurt/M 2024
Günter Verheugen, Petra Erler, Der lange Weg zum Krieg. Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung, 6. Aufl. München 2024