Reflexionen über die Russische Revolution
von Herbert Ammon
I
Seit der Französischen Revolution zerfällt das Nachdenken über dieses grundstürzende Ereignis der europäischen Geschichte in drei Lager: in ›rechte‹ Konterrevolutionäre, in ›linke‹ Apologeten, die im Anschluss an Hegel und/oder Marx an den dialektischen Sinn des blutigen Geschehens glauben, sowie in Liberale, die mit Guillotine und Terror zwar nichts im Sinn haben, aber die Revolution faktisch und geschichtsphilosophisch in Kauf nehmen. Man trifft die drei Parteien seit 1789 in ganz Europa, maßgeblich jedoch auf den beiden Hauptschauplätzen des revolutionären Umsturzes: in Frankreich und in Russland.
Die vierte ›Partei‹ – in Person des ›neutralen‹ Historikers (sc. -r H.in) – verzichtet darauf, ex post facto dem Revolutionsgeschehen irgendeinen – positiven oder negativen – Sinn abzugewinnen. Sein Interesse zielt auf das Verstehen des im historisch Faktischen vorfindlichen Revolutionszyklus: die Krise des alten Regimes, den Aufstand der Massen (Ortéga y Gasset), die Unsicherheit der alten Eliten, die Entscheidungsschwäche der neuen, gemäßigten Führung, den entschlossenen Zugriff auf die Macht seitens einer radikalen Minderheit, sodann deren Machtbehauptung vermittels Diktatur und Terror.
Geht es in jeder Phase des revolutionären Kataklysmus um nichts als Macht – und nicht um die von den Antagonisten jeweils für sich reklamierte Moral –, so rücken die in ›demokratischen‹ Diskursen verpönten Begriffe Carl Schmitts in den Blick: Autorität, Souveränität, Dezision. Von Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert den Begriff und die Problematik des ›Leviathan‹, id est des auf Macht gegründeten, als Vernunftkonstruktion gedachten modernen Staates geprägt hat, stammt die von Schmitt wiederholt zitierte Erkenntnis: »Autoritas, non veritas facit legem«. Der Kernsatz am Anfang seiner Politischen Theologie lautet: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Ein paar Zeilen später folgt die theoretische Erläuterung: »Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie.« Adnote: Jurisprudenz ist für Schmitt identisch mit Staatsdenken oder politischer Theorie.
II
Die Relevanz der Schmittschen Begriffe demonstriert Jörg Baberowski im vorliegenden schmalen Band zur Geschichte der Russischen Revolution. Es handelt sich um den Ertrag der Vorlesung, die er im Rahmen der von der Carl-Schmitt-Gesellschaft veranstalteten Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat. Nicht die im ersten von neun Kapiteln (»Der Aufstand«) skizzierte Ereignisfolge des Jahres 1917 als solche ist Gegenstand des Büchleins, sondern die Reflexion der Umstände und der Logik des von den Bolschewiki zur Großen Oktoberrevolution verklärten Umsturzes.
Zum Verständnis der Revolution und zur Entzauberung ihres Mythos bezieht sich Baberowski auf ein ganzes Regiment von Denkern von Staat, Gesellschaft und Revolution. Zu ihnen gehören (außer Schmitt selbst) der Schmittianer Reinhart Koselleck, der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, die ›Klassiker‹ Machiavelli, Hobbes und Alexis de Tocqueville, die Konterrevolutionäre Joseph de Maistre und Juan Donoso Cortés, die Philosophen David Hume, Hegel, Nietzsche und Karl Löwith, die Soziologen Max Weber, Heinrich Popitz und Arnold Gehlen, der Historiker Crane Brinton, Hannah Arendt sowie nicht zuletzt die Akteure Lenin und Trotzki.
Anders als in vielen Geschichtsbüchern zu lesen, war die Revolution anno 1917 kein in der zaristischen Autokratie angelegtes, unaufhaltsames Naturereignis. Im Oktober 1916 glaubte selbst Lenin nicht mehr an die Revolution. Im übrigen stand allen russischen Revolutionären – Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionären – die Erinnerung an das Jahr 1905/6 vor Augen, als der Ministerpräsident Sergei Witte die Revolution in Feuer und Blut niederschlug. Erst nach Tagen kam es am 27. Februar/12. März 1917 – trotz anhaltender Streiks, Hungerprotesten, ersten Befehlsverweigerungen und Blutvergießens in Petrograd und Moskau – zum allgemeinen Zusammenbruch der Ordnung. Den ersten revolutionären Akt hatte die Duma am Tag zuvor vollzogen, als sie sich dem Auflösungsdekret des Zaren widersetzte.
Am 1. /14. März bildete die Duma unter Führung der liberalen ›Kadetten‹ (= Konstitutionelle Demokraten) eine Provisorische Regierung mit dem parteilosen Fürsten Georgi Lwow an der Spitze, während zur gleichen Zeit und im gleichen Gebäude des Taurischen Palais' der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat (Sowjet) zusammentrat. Beide revolutionären Organe forderten jetzt die Abdankung des Zaren. Am 2./15. März dankte Nikolai II., in all den Tagen abseits des Geschehens in Petrograd, zuletzt im Hauptquartier zu Pskow, dort jetzt auch von Frontgenerälen gedrängt, zugunsten seines Sohnes Alexei ab. Noch am selben Tage widerrief er die Entscheidung und ernannte seinen Bruder Großfürst Michail zum Nachfolger. Als auch dieser verzichtete – die Urkunde verfasste der als Geschäftsführer der Provisorischen Regierung fungierende Wladimir Nabokow (der Vater des Schriftstellers) –, besaßen die Liberalen »nichts mehr, womit sie den Umsturz noch hätten legitimieren können«.(20)
Die Berufung auf das ›Volk‹ begründete die neue Legitimität – das in allen neuzeitlichen Revolutionen seit 1776 angerufene legitimatorische Subjekt. Das Volk tritt an die Stelle Gottes als transzendente Quelle staatlicher Macht oder – wie in Thomas Jeffersons schlichtem Credo »The voice of the people ist the voice of God« – in der Verknüpfung der beiden Begriffe. Das Problem in der Fiktion der Volkssouveränität liegt indes darin, dass sich im revolutionären Ausnahmefall jeder, der zur Usurpation der Macht entschlossen ist, auf das ›Volk‹ berufen kann.
III
»In der russischen Revolution waren die Kadetten Phantasten, die Bolschewiken aber die Realisten.« (89) Die russischen Liberalen waren unwillig oder unfähig, den Ausnahmezustand zu erkennen und die verfügbaren Machtmittel, d.h. die noch loyalen Truppen, zur Kontrolle der Lage einzusetzen. Ähnlich verkannte der Sozialrevolutionär (ursprünglich sozialdemokratischer Trudowik) Alexander Kerenski die Lage, als er nach dem missglückten Juliaufstand der Bolschewiki als vermeintlich starker Mann Fürst Lwow als Ministerpräsident ablöste. Anstatt mit den Mittelmächten Frieden zu schließen und die Agrarfrage anzugehen, setzte er den Krieg mit der alsbald gescheiterten Kerenski-Offensive fort. Spätestens nach dem konterrevolutionären Putschversuch des Generals Kornilow Ende August war Kerenskis Charisma verblasst. Die Macht entglitt seinen Händen, während die Bolschewiki unter der Führung Trotzkis zielstrebig den Oktoberumsturz vorbereiteten.
Die Große Oktoberrevolution, angeführt und vollzogen von den heroischen Volksmassen, ist ein Mythos. Zum Beleg, dass im revolutionären Ausnahmezustand nicht die ›materialistischen‹ Triebkräfte der Geschichte am Werk sind, sondern Psychologie, Zufall und Gewaltbereitschaft entschlossener Führungsfiguren, zitiert Baberowski den Hauptakteur des Petrograder Umsturzes Leo Trotzki aus dessen Geschichte der Russischen Revolution:
Jede Art von Staatsgewalt bedarf der Rechtfertigung, selbst die revolutionäre Diktatur. Eben diesem Zweck diente der über Jahrzehnte kultivierte Mythos der Oktoberrevolution, popularisiert in den Filmen von Sergej Eisenstein durch Szenen wie die vom Kanonenschuss von der ›Aurora‹ und der Erstürmung des Winterpalais'. Im Gleichklang mit dem Appell an die Opferbereitschaft des Sowjetvolkes diente der Revolutionsmythos – eine Art Traditionsstiftung – den Bolschewiki der Legitimation ihrer gewaltsam errungenen Macht. Sodann gründete die Herrschaft Stalins – alles andere als der von Trotzki behauptete ›Thermidor‹ – im Zeichen permanenter Selbstrevolutionierung auf der Verknüpfung von Mythos und Terror.
Besser als auf die Entstalinisierung unter Chruschtschow passt das Bild des Thermidor auf die Sowjetunion unter Breschnew, »die plebejische Variante Alexanders III.« (110). Seine Praxis entsprach dem Ruhebedürfnis des jahrzehntelang von Revolution, Ideologie, Terror und Krieg getriebenen Volkes. Das Leben, so erklärte ein Arzt dem amerikanischen Historiker Donald Raleigh, war wieder »vorhersehbar, es war stabil, es gab keine Furcht.« (110) Letzteres galt gewiss nicht für die Minderheit der Dissidenten, wohl aber für die ehedem von ›linken‹ Intellektuellen verklärten ›Massen‹.
Seit der späten Ära Breschnew trieb die Sowjetunion in eine maßgeblich selbst verursachte Krise. Mit seinem im Zeichen einer Antialkohol-Kampagne eröffneten großen Reformprogramm, das ihm alsbald aus den Händen glitt und das Ende des Sowjetimperiums einläutete, ereilte Gorbatschow das Schicksal jener liberalen Reformer, die in der Krise vor radikalen Mitteln, vor der souveränen Anwendung des Ausnahmezustandes, zurückschrecken.
IV
Die conclusio seiner Reflexionen zieht Baberowksi bereits im Vorwort: »Die Revolution«, so heißt es in Abwandlung von Carl Schmitt, »ist wie das Wunder in der Theologie, weil sie die Vorstellung widerlegt, daß die Welt vom immerwährenden Recht strukturiert wird.« (7) Es ist dies die Vorstellung einer vermeintlich unzerbrechlichen, auf ›Werte‹ gestützten Ordnung, wie sie auch der westlichen liberalen Demokratie als Postulat zugrundeliegt. Baberowski erinnert an den von Ernst-Wilhelm Böckenförde definierten modus operandi des demokratischen Staates, der die geistigen Grundlagen, auf denen er beruht, nicht garantieren kann.
Traditionen entlasten die Individuen von der Erfordernis täglicher Entscheidungen, entsprechen dem Ruhebedürfnis der Menschen. Die ›Werte‹ eines jeden politischen Systems müssen von den Untertanen bzw. den Bürgern ›verinnerlicht‹ werden. Somit gilt nicht nur für die Autokratie oder autoritäre Systeme, sondern auch für die Demokratie das von Max Weber definierte factum brutum von Macht als einem Gehorsamsverhältnis. »Alle sozialen Ordnungen beruhen darauf, daß die Wenigen diktieren und die Vielen sich fügen.« (29) Wenn die Institutionen nicht mehr tragen, wenn die Legitimation des Schutz verheißenden Staates erodiert ist, mündet die Krise in den revolutionären Ausnahmezustand. Dann sind es die einen oder die anderen Wenigen, die über die Vielen mit Gewalt entscheiden. Das wissen immer schon die ›Rechten‹, das wissen auch die ›Linken‹, die von umfassender Gleichheit fabulieren.
»Die Historie … soll den Mythos nicht besingen, sondern den Schleier lüften, der über das Leben gelegt ist.« (70) Mit dieser wissenschaftlichen Maxime empört der Historiker Baberowski die Ideologen im Geschichtsseminar. Allen anderen, die in Zeiten der Bologna-Universität im Studium um Erkenntnis bemüht sind, ist das Büchlein als Pflichtlektüre zu empfehlen.