von Lutz Götze
Die Sonne glühte über Berlin, als in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung eine größere Runde zusammenkam, um über die Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine in den Ländern des ›global south‹ zu debattieren. Der Hunger in den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist gewaltig; die ukrainische Kornkammer liefert, auf Druck der russischen Besatzer, viel zu wenig Getreide und Dünger, um die Katastrophe zu verhindern. Kriege wie im Sudan oder am Horn von Afrika mehren das Übel.
Analysen der Podiumsteilnehmer in der Vertretung blieben eher beiläufig, Prognosen vorsichtig. Einig war man sich vor allem in der Forderung, dass der verbrecherische Krieg beendet werden müsse: je schneller, desto besser. Doch einer übertraf alle Redner: Jeffrey Sachs, Politologie-Eminenz von der Columbia University und Berater zahlreicher US-Regierungen, wie er im Brustton der Wichtigkeit seiner selbst ausbreitete. Er hielt sich an keine Beschränkung der Redezeit, steigerte sich in eine generelle Ablehnung der westlichen Position im Krieg und pointierte seine Bekenntnisse mit dem Satz, der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO sei eine ›Tragödie‹. Da dem Publikum kaum Redezeit gewährt wurde, schrie ich lauthals dazwischen:›No, Sir, that is a victory for these countries and mankind in general!‹
Dergleichen Widerspruch schien der Gelahrte nicht gewohnt, weshalb er, grummelnd, unverzüglich das Podium verließ. Beim Empfang danach hatte das Publikum ein Thema mehr.
Berlin ist ein Wespennest der besonderen Art. Wurden früher das Tempo und die gute Luft gerühmt, so dominieren heute Hektik, Sprech- und andere Blasen, obendrein stickige Luft. Überall geschieht etwas, wird endlos debattiert, gibt es die bekannten Adabeis: Keine gute Grundlage für Innehalten und Nachdenklichkeit! Ein Eindruck drängt sich unmittelbar auf: Hier wird geredet und geschwätzt, gelegentlich auch dröhnend geschwiegen, um Mängel und Versagen allenthalben zu camouflieren – Wahldesaster, Berliner Flughafen, marode Infrastruktur, Übergriffe muslimischer Jugendlicher auf Frauen und Mädchen in Freibädern und anderswo.
Zwei Beispiele: Beredet und in den Feuilletons gerühmt wird die Inszenierung der Möwe in der Berliner Schaubühne, die der Hausherr Albert Ostermeier besorgt hat. Man betritt den Rundraum, den ein grandioser Baum bis an die Decke füllt, denkt sofort an die grandiose Peter Stein-Realisierung der Sommergäste vor Jahrzehnten in der alten Schaubühne am Halleschen Ufer mit diesen wunderbaren Schauspielern Bruno Ganz, Edith Clever, Jutta Lampe und Otto Sander und erlebt dann drei Stunden ununterbrochenen Palavers, gipfelnd in den Schlusspassagen des Großschauspielers Joachim Meyerhoff, der schier endlos seinen vermeintlichen Hass auf seine Schriftstellerei ausspeit, daneben jede Menge Kalauer über lokale und über Berlin hinausgehende Petitessen verbreitet. Mit Anton Tschechow hatte das alles nichts zu tun.
Beispiel zwei: Die Tagung über den ›globalen Süden‹ fand am 20. Juni 2023 statt – ein Termin nahezu genau in der Mitte zwischen drei für Berlin und Deutschland außerordentlich wichtigen historischen Daten: 17. Juni 1953 – Arbeiteraufstand in Ostberlin und der DDR vor siebzig Jahren, 24. Juni 1948 – Beginn der russischen Blockade Westberlins vor 75 Jahren und schließlich der 24. Juni 1963 mit der Rede John F. Kennedys vor dem Schöneberger Rathaus samt seinem berühmten Bekenntnis: ›Ich bin ein Berliner!‹ vor sechzig Jahren.
Wen immer, in Theatern, Ausstellungen oder auf anderen Plätzen, ich auf diese Ereignisse ansprach: Ich erntete allenfalls vage Erinnerungen, im Regelfall Achselzucken, gelegentlich gar Entrüstung in dem Sinne, ›warum muss ich das wissen!‹ Und dies keineswegs lediglich bei der jüngeren Generation!
Ist das nun Unwissen, Desinteresse oder fortgeschrittene Verdummung angesichts eines überbordenden Gebrauchs mobiler Telefone, Chatgruppengeschwätzes oder Selfie-Orgien? Oder sind es gar erste Triumphe der ›Generellen Künstlichen Intelligenz‹, die das einst kritische Individuum auf ihr banales Niveau herunter zwängt? Ich vermute letzteres.
In der Freien Universität gab es, passend dazu, ein Referat vor vollem Hause, wie ich erfuhr: Rosi Braidotti, niederländische Philosophin, sprach über das ›Ende des Humanismus‹ und meinte damit die Götterdämmerung des heterosexuellen weißen alten Mannes. An seine Stelle trete jetzt die Verbindung von Mensch, Tier und Natur und die Versöhnung atavistischer Gegensätze. Ganz offensichtlich mangelt es der Dame an Grundkenntnissen der lateinischen Sprache, sonst käme sie wohl nicht zu der absurden Etymologie: ›Humanismus‹ stamme ab von ›homo‹, den sie mit ›Mann‹ gleichsetzt.
Natürlich hat Berlin auch seine schönen Seiten: Im Hamburger Bahnhof gibt es, neben anderen Expositionen, eine Fotoausstellung vom alten Prenzlauer Berg hinter der Mauer, wie ich ihn erlebt und geliebt habe – lange vor postmoderner Beliebigkeit und Gentrifizierung. Und es gibt noch immer Kieze wie jetzt am Wedding, wo Berlin noch atmet und noch nicht zugebaut oder zugemüllt ist. Man muss sie suchen und, wenn einem das Glück hold ist, finden.