von Jobst Landgrebe
Die Geostrategie, eigentlich eine Arkanwissenschaft, hat derzeit Hochkonjunktur, was man daran merkt, dass sich nun ein jeder berufen fühlt, sich zu dem Thema zu äußern; so auch der Autor. Dabei lassen sich im Westen zwei führende Schulen geo-strategischen Denkens abgrenzen: der neo-konservative Altbestand US-amerikanischer Prägung, der das Washingtoner Establishment und die wesentlichen westlichen Leitme- dien der NATO-Ländern dominiert, einerseits, sowie das Lager der westlichen Kritiker der eigenen Hegemonialpolitik andererseits. Wir fassen hier die beiden Positionen kurz zusammen, bevor wir einige der Nuancen der Kritiker vertiefen und verfeinern, um uns zu fragen: Quo vadis, Occidens?
Die wesentlichen Positionen – Sicht des Altbestands
Aus Sicht von Neocons wie Robert Kagan oder seiner Gattin Victoria Nuland, die im Denken des gesamten Washingtoner Establishments beider Parteien dominierend sind (daran wird die zweite Trump-Präsidentschaft nichts ändern, wie sich bereits vor seinem Amtsantritt abzeichnet), sind die USA der einzige Hegemon der Welt und sollten diese Position militärisch halten. Seine Verbündeten (eigentlich: Vasallen) sind die NATO-Staaten, Israel, Südkorea, Japan und Australien sowie Neuseeland. Die Hauptgegner dieses US-Hegemonialgebildes sind aus dieser Weltsicht, die auf geostrategische Denker wie Halford Mackinder [1] oder seinen geistigen Urenkel Zbigniew Brzezinski [2] zurückgeht, Russland und China, gefolgt von Iran und Nordkorea. Die strategische und moralische Berechtigung für den Status der USA als Hegemon leiten sie im Wesentlichen aus dessen Rechtsstaatlichkeit und liberaler Demokratie, seinem globalen Einsatz für Menschenrechte und Welthandel sowie dem Schutz internationaler Handelsrouten ab. Laut der Neocons setzen die USA die sogenannte rules based international order um, die der Welt Sicherheit und Wohlstand gibt. Daher muss Russland in der Ukraine besiegt werden, muss der Iran im Konflikt mit Israel zurückgedrängt oder kriegerisch besiegt werden, muss China durch Zölle in Schach gehalten und notfalls ebenfalls militärisch zurückgedrängt werden. In Europa ist die alte Mackinder-Doktrin entscheidend, wonach ein strategisches Bündnis zwischen Deutschland und Russland um jeden Preis verhindert werden muss, damit die USA nicht die Kontrolle über das ›heartland‹, den eurasischen Kontinent, verliert, was zu seiner Ablösung als Weltmacht führen würde. Charakteristisch für die Neocon-Sichtweise ist eine vollständige Verdrängung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status Amerikas und seiner Verbündeten. Man geht implizit davon aus, dass der Zustand noch dem der 1990er Jahren gleiche und die ökonomischen und kulturellen Fundamente der US-Hegemonie weiterhin bestünden, obgleich diese bereits seit Mitte der 1970er Jahre nachzulassen begannen und heute, wie wir noch sehen werden, weitgehend verfallen sind. Zu dieser Sicht gibt es im Westen selbstverständlich viele Varianten, doch stimmen die die Öffentlichkeit dominierenden Eliten in Politik, Medien, Wissenschaft sowie staatlicher und privater Verwaltung in den relevanten Hauptstädten wie Berlin, London, Jerusalem, Paris oder Tokyo im Wesentlichen mit den US-Neocons überein.
Diese Sichtweise ist eine echte Herrschaftsideologie, mit der das bestehende imperiale System des Westens, von dem wir alle – auch die Unterschicht – lebenslang profitiert haben, legitimiert werden soll; oder, wie man heute sagt ein ›Narrativ‹.
Die Alternative Sicht
Auf der alternativen Seite gibt es eine Vielzahl von Kritikern der Neocon-Sichtweise wie beispielsweise Colin Crouch [3], Sheldon Wolin [4], John Mearsheimer [5, 6], Joel Kotkin [7], Fadi Lama [8] oder Emmanuel Todd [9] (Deutsche Ausgabe: ›Der Westen im Niedergang‹, Westend Verlag 2024). Hier ist die Heterogenität größer als im anderen Lager, dennoch findet man auch bei den Dissidenten eine gemeinsame Schnittmenge. Sie sind sich einig, dass sich die westliche Welt, nämlich Nordamerika (ohne Mexiko), Westeuropa (EU, UK, Schweiz) und Japan im wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und militärischen Niedergang befindet. Die USA sind nicht mehr in der Lage, ihre Stellung als alleiniger Hegemon aufrechtzuerhalten, sondern wir erleben die Herausbildung einer multipolaren Welt. Anstatt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu exportieren oder einen fairen Welthandel zu befördern, führten die USA destruktive Kriege, die sie auch noch verlieren, was aber weiterhin etablierte Praxis bleibe, da man mit Hilfe der Kriege Steuermittel in Einnahmen von US-Rüstungskonzernen verwandelt habe, was der eigentliche Sinn solcher Kriege sei.
Die USA hielten ihren Wohlstand nur aufrecht, indem sie ihr Handelsbilanzdefizit mit Schuldscheinen bezahlten, ihre Währungsmenge ausdehnten und fremde Länder durch verschiedene Mechanismen ausbeuteten. Der Versuch, ihre Vormachtstellung auf diese Weise aufrechtzuerhalten, sei zum Scheitern verurteilt. Im Inneren seien die Ländern des Westens durch tiefe Krisen gekennzeichnet: Postdemokratie, Verlust an Rechtsstaatlichkeit, demographischer Verfall (ohne Migranten zu rechnen), Deindustrialisierung mit drastischer Schrumpfung der Realgüterproduktion; Rückgang der Lebensqualität mit Verarmung der Unter- und Mittelschichten,was zu einer Eigentumsdichotomisierung führt; Massenmigration mit Rückgang von Wohlstand, kultureller Homogenität und Leistungsfähigkeit; Verfall kultureller Normen auf voller Breite, Nihilismus, Rückgang der Bildung, Erlöschen der gesellschaftlichen Kohärenz und politischen Willensbildung.
Zwar hätten Russland und China auch demographische Schwierigkeiten, doch nicht in demselben Ausmaß wie der Westen. Daher sei ein globaler Hegemonialwettkampf des Westens nicht zu gewinnen, der Westen tue besser daran, sich mit Eurasien und Asien auf eine friedliche Koexistenz zu einigen.
Diese Sicht ist keine Ideologie, sondern klassische Gesellschafts- und Kulturkritik, oftmals mit dem Ziel, die herrschenden Zustände zu verbessern. Der Westen kennt solche Versuche mindestens seit Sokrates, und wie für ihn sind sie zum Teil riskant für diejenigen, die sie vortragen. Gehen wir davon aus, dass die Kritiker in etwa recht haben, weil sie anders als die Neocons keine Herrschaftsideologie vortragen, sondern sich ernsthaft um den Zustand des Westens sorgen – dies gilt für alle oben zitierten Autoren bis auf Lama, der als gläubiger Moslem mit einer gewissen Häme auf den Niedergang des arroganten Westens blickt. Wie stichhaltig ist diese Sicht? Was bedeutet das für den Westen und uns, seine Bürger?
Der Zustand des Westens
Die wichtigsten Phänomene des oben skizzierten Zustands des Westens sind Entdemokratisierung, demographischer und wirtschaftlicher Niedergang und Erosion kultureller Normen. Schildern wir sie in aller Kürze.
Entdemokratisierung bedeutet, dass die politische Willensbildung nicht mehr mit im Sinne der bürgerlichen Staatsmetaphysik adäquater und notwendiger Beteiligung des Souveräns abläuft. Mit anderen Worten, die Belange der Massen werden bei der Gestaltung der Exekutivmacht und der Gesetzgebung nicht mehr ausreichend, sondern allenfalls notdürftig oder nur scheinbar berücksichtigt. Eine Partizipation der Massen an der politischen Willensbildung wurde zwar in keiner Staatsform je auf vollendete Weise realisiert, doch ist das Ausmaß der politischen Partizipation im Laufe der letzten 50 Jahre mit Sicherheit stark abgesunken, darin sind sich alle oben genannten Autoren einig. Zur Entdemokratisierung gehört auch eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit durch eine elitäre Auslegung der Verfassung (wie in Deutschland etwa die Rechtsprechung zur Eurorettung oder zum Klimawandel) oder eine Verletzung rechtlicher Normen durch die drei klassischen Gewalten (COVID-Phase) unter Zustimmung der Vierten.
Demographischer und wirtschaftlicher Niedergang. Der erste Aspekt meint einen dau- erhaften Rückgang der Nettoreproduktionsquote unter eins (weniger als eine Tochter pro Mutter, in Deutschland sind es etwa 0,7 bis 0,75), was wir seit den 1970er Jahren erleben. Der zweite Aspekt beschreibt eine dauerhafte Stagnation oder gar einen Rückgang der Produktivität (Produktivität misst die zur Erzeugung einer Einheit wirtschaftlichen Outputs erforderliche Arbeitskraft, ihre Steigerung bedeutet verbesserte Automatisierung), gefolgt von sinkendem realwirtschaftlichem Output bei exponentiell steigender Gesamtverschuldung und Inflation sowie krasser Dichtomisierung der Vermögenswerte, die Piketty [10] bereits 2015 beschrieben hatte – in den zehn Jahren seit dem Erscheinen seines Standardwerks hat der Zustand sich massiv verschärft. Dazu gehört auch eine Angleichung der Verwaltung und Denkweise des Führungspersonals des privaten und öffentlichen Sektors hin zum Modell der corporate (stakeholder) governance und eine Dominanz der real- und finanzwirtschaftlichen Transaktionen durch sehr große Konzerne und Vermögensholdings sowie eine Finanzialisierung der Wirtschaft [11].
Damit meint Hudson die Herausbildung einer oligopolistisch strukturierten Wirtschaft, in der wenige Akteure das Geschehen über den Finanzsektor (Banken, Vermögensverwalter, Versicherungen, Immobilienhandel) kontrollieren und die zu einer Aufspaltung der Gesellschaft in 0,1 Prozent Großeigentümer, etwa 10 Prozent Führungskräfte und 90 Prozent Habenichtse, die ihr Leben lang verschuldet bleiben, zerfällt. Wesentliche Folgen dieses Niedergangs sind eine drastische Deindustrialisierung mit Verlagerung der Produktion landwirtschaftlicher und industrieller Güter nach Asien (China, Indien und andere asiatische Länder) und Verzicht oder Reduktion der industriellen Produktion und des Energieverbrauchs (etwa durch Vebrennungsmotorverbot oder ›Energiewende‹), der Ausbeutung eigener Rohstoffvorkommen (wie Frackingverbot oder Kohlendioxidbesteuerung) und der Nutzung landwirtschaftlicher Flächen (beispielsweise durch Renaturierung oder Nutzung für Windmühlen).
Die Erosion kultureller Normen erkennen wir an fünf Hauptsymptomen. Sie wird (i) an der nahezu unkontrollierten Massenmigration erkennbar, einem Phänomens, das vor einer Generation noch im gesamten Westen undenkbar war, auch wenn es seit dem Zweiten Weltkrieg ständig Migration in geringerem Ausmaß gab. Ein solcher Vorgang wäre nicht möglich, wenn die westlichen Eliten (die offenkundig anders denkenden Massen spielen wegen der Entdemokratisierung keine Rolle) noch einen klaren Sinn für das Eigene hätten, d.h. der unkontrollierte Migrationsprozess geht einher mit (ii) einer fundamentalen abendländischen Identitätskrise. Sie äußert sich klar in einer Unfähigkeit, die Frage, für welche moralischen Werte der Westen wirklich steht, zu beantworten. Als Antwort bekommen wir vom Altbestand der Öffentlichkeit lediglich Vielfalt, Teilhabe, soziale Gerechtigkeit (angelsächsische Kurzform: diversity, equity, inclusion [DEI]), Demokratie, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit zu hören. Dies alles sind aber erstens keine moralischen Werte (Gerechtigkeit alleine ist einer) im Sinne des Erfinders Scheler [12] und zweitens sind die damit beschriebenen Ideale im Westen selbst kaum noch realisiert und sicherlich im praktischen Verfall.
Das gilt auch für das Ideal der Freiheit, das immer seltener ernsthaft vorgetragen wird – allenfalls im wirtschaftsliberalen Sinne, aber dann bedeutet es in der finanzialisierten Volkswirtschaft lediglich den Ruf nach höheren Oligopolrenditen [13, 11, 14]. Wir erkennen diese Erosion kultureller Normen auch (iii) am postmodernen Kollektivismus, einer Sammlung der oben genannten Scheinwerte, die in Verbindung mit einer radikalen Hingabe zum Individualismus und Hedonismus zur überlegenen moralischen Haltung stilisiert werden. Ich nenne sie ›kollektivistisch‹, weil sie mit einer Forderung zum allgemeinen Bekenntnis und der Drohung mit dem gesellschaftlichen Ausschluss Andersdenkender vorgetragen und in den meisten gesellschaftlichen privaten und öffentlichen Institutionen des Westens durch Sprachgebote und -verbote auch durchgesetzt wird. Desweiteren beobachten wir (iv) einen Verfall epistemischer Normen, abzulesen an der dogmatischen Verbreitung neolyssenkoistischer Narrative zu ausgewählten, vollständig politisierten Wissenschaftsbereichen [15]. Und schließlich ist (v) festzustellen, dass überall im Westen zusammen mit der Vermassung des hedonistischen Individualismus ein Verfall der von Max Weber beschriebenen protestantischen Sekundärtugenden, vor allem Askese, Pflichtbewusstsein und Arbeitsprimat, einhergeht.
Zu den Ursachen
Die Ursachen für den Niedergang des Westens sind komplex. Unter den zitierten Autoren betonen Kotkin, Häring, Hudson, Lama, Nitzan/Bichler und Piketty ökonomische Zusammenhänge. Wolin, Crouch und auch Streeck [16] sehen vor allem politische und soziale Gründe. All diese Erklärungen sind allerdings unzureichend und beschreiben eher die Symptome.
Allerdings hat Todd [9] jüngst den Versuch gemacht hat, den Niedergang des Westens synoptisch zu beschreiben, und bringt drei starke Kernthesen, um ihn zu erklären: Erstens die kulturelle Entwicklung von der Analphabetengesellschaft des Feudalismus zum Massenakademikertum der Industriegesellschaft ab den 1970er Jahren, zweitens die nunmehr vollständige Säkularisierung und drittens die durch die familiären Vergemeinschaftungsmuster im Zusammenspiel mit den ersten beiden Faktoren entstandene Dynamik.
Auch wenn Todds Schlussfolgerungen, beispielsweise zur politischen Willensbildung der westlichen Eliten, teilweise nicht überzeugen können, ist seine Analyse der Gründe für den Niedergang des Westens einen Blick wert. Seine erste These lautet in etwa wie folgt. Die Alphabetisierung der Massen in den fortschrittlichen abendländischen amerikanischen, west- und mitteleuropäischen Nationen ab dem 19. Jahrhundert, zwei Generationen später gefolgt von Osteuropa und Japan, hat die Industrialisierung und die unter dem Gleichheitsideal erfolgte Demokratisierung ermöglicht und die Emanzipation der Frau und später der Homosexuellen ermöglicht. Doch war die akademische Bildung bis in die 1960er Jahre hinein einer kleinen Schicht von drei bis vier Prozent der Bevölkerung vorbehalten, fast ausschließlich den Kindern der bürgerlichen und (als Überbleibsel des Feudalismus bis heute vorhandenen) adeligen Führungseliten des Westens. Dies änderte sich ab den 1960er Jahren mit der Einrichtung der Massenuniversitäten, die rasch zu einer Steigerung der Akademikerschicht auf 25 bis 30 Prozent der Bevölkerungen der nördlichen Hemisphäre führte. Laut Todd hat diese Entwicklung zu einer Zweiteilung der Gesellschaft geführt, die vor 50 Jahren schon Schelsky beobachtet hatte [17], nämlich in eine akademisierte Verwaltungs- und Führungsschicht (etwa 15 Prozent der Bevölkerung) und eine Arbeits- und Umsetzungsschicht, zu der auch Akademiker gehören.
Die akademische Schicht strebte in Deutschland seit den 1970er Jahren mit dem Berufseinstieg der 1968er Generation einen individualisierten Hedonismus mit radikaler Selbstverwirklichung und vollständiger Emanzipation der Frauen und der Homosexuellen, erfolgreich an, während sich spontan eine sehr effektive Dechristianisierung vollzog. Dabei kam es zur raschen Herausbildung der oben beschriebenen Scheinwerte des heutigen post- modernen Kollektivismus in nur einer Generation. Diese Schicht verachtet die klassischen Werte der Arbeits- und Umsetzungsschicht, Gleichheit bedeutet ihr nichts mehr. Vor allem aber reproduziert sie sich kaum oder nur in geringem Ausmaß. Etwa die Hälfte der Akademikerinnen bekommt keine, die andere Hälfte ein bis zwei Kinder.
Ihre Angehörigen haben sich, wie Todd zeigt (Kapitel VIII, Abschnitt ›Der Nullprotestantismus und der Rückgang der Intelligenz‹) aber auch rasch von den protestantischen Sekundärtugenden verabschiedet, wodurch es zu einem Absturz von Bildungsindikatoren und auch des Intelligenzquotienten, der oftmals trainierbare geistige Fähigkeiten mitmisst, gekommen sei. Todd fasst zusammen: ›Der Bildungsfortschritt verursachte langfristig einen Bildungsrückgang, weil er Werte verschwinden ließ, die für die Bildung förderlich gewesen waren.‹ Wir fühlen uns an das Böckenförde-Diktum erinnert, wonach die Industriegesellschaft ihre eigenen Voraussetzungen aufzehre.
Damit kommen wir zu Todds zweiter These. Todd zufolge durchlief das Christentum in der Neuzeit die folgenden Stufen: (i) (calvinistischer) Protestantismus, der die im Katholizismus vorliegende Idee der universellen Gleichheit aller Menschen durch die Prädestinationslehre (die Todd fälschlicherweise auch Luther zuschreibt) abgelöst habe, (ii) Säkularisierung mit Verlust des Glaubens bei weiterhin bestehenden christlichen Werten, die aber vom Gottesbezug befreit sind, Todd nennt dies Zombiestatus, der in der Nachkrieszeit den Erfolg des Westens erkläre, weil die dem Christentum zugehörigen Werte die Gesellschaft weiterhin trugen. Schließlich (iii) der Nullzustand, bei dem auch die mit dem Christentum verbundenen Werte verworfen werden und in den wir im Westen seit den 1980er Jahren einmünden.
Als Indikatoren dafür führt er den Rückgang der Geburtenrate unter zwei Kinder pro Frau, einen Übergang zur Einäscherung der Verstorbenen ohne christliches Begräbnis, und schließlich die (weder von ihm noch vom Autor als problematisch angesehene) gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität bis hin zur Einführung der ›Ehe für alle‹, mit der er den Nullzustand der Religion als erfüllt und irreversibel ansieht. Der Nullzustand mündet laut Todd (iv) in Nihilismus, den er anhand der Transgenderideologie exemplifiziert. Diese behauptet, man können das genetisch determinierte Geschlecht umwandeln, was aber biologisch unmöglich ist. ›Vorzugeben, dass dies möglich wäre, hieße, etwas Falsches zu behaupten, ein typischer Akt intellektuellen Nihilismus.‹ (deutsche Ausgabe, Übersetzung leicht korrigiert, p. 225). Wenn daraus ein (strafbewehrter) Kult gemacht werde wie unter den westlichen Eliten, hätten wir es mit einer ›nihilistischen Religion‹ zu tun.
Als Ethnologe fragt Todd nun, wie sich die Selbstzerstörung durch Bildung und die Säkularisierung auf die Kulturen der nördlichen Hemisphäre auswirkten. Um dieser Frage nachzugehen, betrachtet er die präindustriellen Familienstrukturen relevanter Länder. In Ländern mit bilateraler, kognatischer Abstammungsregel sind Mutter und Vater für die Herleitung der Abstammung des Individuums relevant. Alle westlichen Kulturnationen haben diese Familienstruktur, jedoch in verschiedener Ausprägung. Während das Vereinigte Königreich und die USA sehr liberale bilaterale Strukturen haben, bezeichnet er die Struktur in Deutschland und Japan als halb-patrilinear. Bilateralte Strukturen führen zu einer individualistischer ausgerichteten Kultur. Russland und China haben rein patrilineare Familienstrukturen, in denen die Herkunft sich allein über den Vater definiert. ›Kinder gehören in diesem System zur Stammlinie des Vaters. Die Kinder des Sohnes ebenfalls, nicht aber die Kinder der Tochter – diese werden zur Linie ihres Ehemannes gerechnet.‹ (https://de.wikipedia.org/wiki/Verwandtschaftssystem). Solche Strukturen sind traditioneller und kommunitärer ausgerichtet, was Todd auch für den Grund hält, warum in Russland und China der Kommunismus Fuß fassen konnte.
Laut Todd bewirkte die bilaterale Abstammungsregel des Westens im Zuge der Alphabetisierung Industrialisierung und Demokratisierung, während die Ausweitung der Hochschulbildung einem radikalen Feminismus als Massenphänomen Vorschub leistete, bis sich die heutige nihilistische Kultur herausbildete. Patrilineare Gesellschaften hingegen seien aufgrund ihrer traditionalistischen, autoritären und kollektivistischen Grundwerte resistenter gegen die Erosion von Werten aufgrund steigender Bildung. Daher hätten sie dem Feminismus länger widerstanden und seien nicht so nihilistisch geworden wie der Westen. Todd zeigt, um dies zu illustrieren, eine Weltkarte der Homophobie, die mit seiner Patrilinearitätskarte weitgehend übereinstimmt: Patrilineare Kulturen sind homophob, bilaterale Kulturen tolerieren Homosexualität.
Todds Erklärungen sind, wie er selbst mehrfach betont, recht schematisch, allerdings hat er zur Frage der Abstammungsstrukturen selbst intensiv geforscht, seine Ausführung dazu sind plausibel. Doch sind seine Thesen zur Entstehung dessen, was er Nihilismus und ich postmodernen Kollektivismus nennen, kulturell vollkommen unterkomplex. Zwar sind Säkularisierung, Bildung und Familienstruktur herausragende Kausalfaktoren, doch hat die kulturelle Entwicklung seit dem Durchbruch des Atheismus mit Hume und Voltaire um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Eigendynamik entwickelt, ohne die viele Aspekte des postmodernen Kollektivismus nicht zu verstehen sind. Wie beispielsweise sollte man dessen kollektivistischen Charakter, der in der COVID-Phase, oder in der Cancel-Culture auch im angelsächsischen Kulturraum offensichtlich war, erklären, wo doch nach Todd eine individualistische Familienkultur vorherrscht? Dasselbe gilt auch für die emanzipatorische Wucht des Feminismus, der Homosexuellenbefreiung und der Transgenderideologie: Alle sind ohne den westlichen Sozialismus und Marxismus, auf den Todd mit keinem Wort eingeht, nicht verständlich. Er ergänzt seine ethnologische Kausaltheorie stattdessen mit dem volkspsychologischen Begriff des kollektiven Unbewussten. Beispielsweise erklärt er, der Nullzustand der Religion habe das kollektive Überich geschwächt. Das klingt irgendwie attraktiv, ist aber keine Erklärung, sondern eine reine Mutmaßung wie die gesamte Theorie Freuds.
Eine vollständigere Theorie des postmodernen Kollektivismus muss sicherlich die von Todd angeführten Faktoren berücksichtigen, aber viel detaillierter die kulturelle Entwicklung von der französischen und britischen antichristlichen Aufklärung über die Junghegelianer, die Entstehung des Positivismus, Szientismus und der Eugenik, die Krise der Metaphysik von Nietzsche bis Husserl, den philosophischen Westmarxismus ab Bloch und Lukács, die Krise des Rationalismus bei Bataille und Heidegger, den Neopositivismus und schließlich die vollständige Ausprägung der heute kulturell dominierenden Postmoderne bei Derrida und Rorty bis hin zur Fusion von Neoliberalismus und Postmoderne bei Foucault und Habermas betrachten.
Unsere geopolitische Zukunft
Was sind die Folgen des postmodernen Kollektivismus oder Nihilismus, wie Todd es nennt, für den Westen? Was sieht unsere geopolitische Zukunft aus?
Todd behauptet, es gäbe im Westen aufgrund des Nihilismus und des Nullzustands keine sozialen Normen und keine politische Willensbildung mehr, über die USA sagt er: ›Das heutige Amerika ist kein Nationalstaat mehr; es hat seine Führungsschicht sowie seine Fähigkeit, eine Richtung beizubehalten, zerstört.‹ (dt. Ausgabe p. 293). Er glaubt daher, dass die USA nicht den Ukrainekrieg mitverursacht hätten, sondern hineingeschlittert seien, dazu passend erläutert er auch nicht die Rolle der USA in der Ukraine ab 2014, sondern lediglich um 2008. Er glaubt, die EU habe die Ukraine in den Konflikt mit Russland getrieben, indem sie Druck ausgeübt habe, einem Russland ausschließenden Handelsabkommen beizutreten. Obwohl das richtig ist, ist seine Gesamtsicht des Krieges nicht haltbar, der Ukrainekrieg ist in Wahrheit ein Gemeinschaftsprojekt der USA, NATO und EU, wir kommen darauf zurück.
Vielmehr ist festzustellen, dass es keine Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung ohne soziale Normen gibt und auch niemals eine Abwesenheit politischer Willensbildung und Machtausübung. Beginnen wir mit dem ersten Aspekt, den sozialen Normen. Keine Gesellschaft kann ohne sie existieren. Die isoliert gelegene Osterinsel, deren Einwohner sich selbst ausrotteten, ist ein extremes Beispiele für den Verfall sozialer Normen. Doch der heutige Westen hat weiterhin hochdifferenzierte soziale Normen, sonst würden die westlichen Nationen in autokratisch regierte Territorien zerfallen wie Libyen. Todds Nihilismus und Nullpunktzustand kann man sicherlich beim die öffentliche Meinung prägenden Teil der Eliten beobachten, nicht aber bei allen ihren Angehörigen, und schon gar nicht in den nicht-akademischen autochthonen und zugewanderten Schichten. Im Gegenteil sind alle westlichen Nationen immer noch extrem breit und tief ausdifferenzierte Gesellschaften, allerdings in einer massiven Krise.
Transnationale politische Willensbildung
Nun zum zweiten Aspekt, dem angeblichen Verschwinden der politischen Willensbildung. In jeder Gesellschaft gibt es Machtausübung, ihr Vorhandensein ist ein wesentliches Merkmal der historischen Existenz [18]. Im Westen ist die politischen Willensbildung, die mit der Machtausübung einhergeht, keineswegs erloschen, die Willensbildung hat sich lediglich von den Bedürfnissen der Massen entkoppelt und drastisch an Qualität verloren. Inwiefern entkoppelt?
Es gibt im Westen eine transnationale politische Willensbildung, die die Willensbildung im Nationalstaat nicht vollkommen auslöscht, aber stark überschreibt. Sie wird in transnationalen Organisationen wie der NATO, der EU, der EZB, der UNO, aber auch in privaten Institutionen wie der Bilderberg-Gruppe, den G30, den C40 Cities, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der FED, der BoJ, oder in den riesigen transnationalen Investmentfonds wie Blackrock, Vanguard, oder dem Norwegischen Staatsfond koordiniert. Das sich aus diesem extrem komplizierten System ergebende wirtschaftliche und politische Handeln in den westlichen Nationen, die der transnationalen Willensbildung nach wie vor als legislative und exekutive Transmissionsorte dienen, agiert nicht im Interesse der nach Eigentum unteren 90 Prozent der nationalen Bevölkerungen. Vielmehr erfolgt die Willensbildung gemäß den Vorstellungen einer kleinen Elite von Großeigentümern und der ihr zuarbeitenden Trägerschicht. Zu dieser gehören auch Intellektuelle wie der oben zitierte Robert Kagan, Yuval Harari, Nick Bostrom, oder Geoffrey Hinton, deren absurde geopolitische und transhumanistische Theorien wirklich geglaubt werden (Donald Trump, Elon Musk oder Tony Blair plappern sie nach).
Insofern hat Todd recht, wenn er vom Ende des Nationalstaats im Westen spricht, allerdings gilt das nicht in seinem Sinne, sondern im Sinne einer sehr geschwächten nationalen politischen Willensbildung. Mit anderen Worten sind Klagen, unsere Parteien handelten nicht im Sinne der nationalen Bevölkerung, zwar inhaltlich richtig, doch machttechnisch naiv: Die nationale politische Willensbildung wurde im Westen seit den 1970er Jahren langsam und erfolgreich zur Bedeutungslosigkeit zurückgedrängt. Daher handeln die regierenden Parteien eben nicht mehr wie von der Verfassung vorgesehen in erster Linie als Repräsentanten des deutschen Volkes, sondern als Vertreter transnationaler Interessen. Oftmals wurden sie auch in solchen Institutionen ausgebildet (wie die ehemaligen Young WEF Leaders Angela Merkel, Tony Blair, Emmanuel Macron und A.-L. Baerbock) oder waren sogar deren privatrechtliche Angestellte, wie etwa der wohl bald das Kanzleramt übernehmende Friedrich Merz. Dieser Mangel an demokratischer Partizipation ist aber an sich noch nicht problematisch: Auch ohne diesen war die Herrschaftsqualität im Laufe der Ge- schichte immer wieder sehr hoch. Doch ist dies heute im Westen nicht der Fall.
Qualitätsmangel der Machtausübung
Mit Qualitätsproblem der transnationalen westlichen politischen Willensbildung ist die rein herrschaftstechnische Qualität gemeint. Der postmoderne Kollektivismus, von dem unsere Eliten befallen sind, hat die Herrschaftsqualität extrem gesenkt, so, dass der gesamte Westen nun auf törichte Weise im Sinne Barbara Tuchmans regiert wird [19]. Tuchman meint damit ein politisches Handeln gegen die eigenen Interessen der dominierenden politischen Akteure. Davon ist die Rede, wenn die politischen Aktivitäten selbstschädigend sind und vorgenommen wurden, obwohl es unter den Eliten Warner gab, die die Konsequenzen korrekt vorhergesehen hatten und über Zugang zur Öffentlichkeit verfügten und klare, gut durchführbare Handlungsalternativen vortrugen. Ihre wichtigsten Beispiele sind das Hereinlassen des Trojanischen Pferdes, das Agieren der Reformationspäpste und die US-Vietnampolitik.
In welcher Hinsicht ist die politische Willensbildung heute töricht? Wie Nitzan und Bichler [13] zeigen, befinden wir uns in einer Phase des oligopolistischen ›Sabotagekapitalismus‹ (den Begriff übernehmen sie von Veblen [20]) mit fortgeschrittener Finanzialisierung, wie Hudson [11] ergänzt. Die wichtigsten Charakteristika dieses Zustands sind eine Vermögensdichotomisierung mit einer Konzentration des strategischen Vermögens, mit dem sich das Marktgeschehen oligopolistisch stark verzerren lässt, auf ein Promille der Bevölkerung. Gleichzeitig zählen wir einen dauerhaft verschuldeten oder zumindest nicht zum relevanten Vermögensaufbau fähigen Anteil von 90 Prozent der Bevölkerung. Im Sabotagekapitalismus wird durch Finanzialisierung Staat und gewöhnlichen Bürgern so viel Realertrag entzogen, dass Wirtschaftswachstum nur noch durch massive Neuverschuldung und Inflation möglich ist, so dass das Realwachstum oftmals negativ ist – was aber von der herkömmlichen Volkswirtschaftslehre bestritten wird.
Mit Sicherheit schrumpft die Industrieproduktion, weil seit 40 Jahren eine immer umfassendere Auslagerung nach Asien erfolgt, dessen billigere Produktionsmöglichkeiten vom Westen ausgebeutet werden. Gleichzeitig fallen im Westen Industriearbeitsplätze weg, die durch Dienstleistungsjobs nur unzureichend ersetzt werden können. Es bildet sich eine toxische Sockelarbeitslosigkeit, in die auch zahlreiche Migranten eingehen. Dabei stagniert trotz digitaler Revolution auch die Produktivität, die Digitalisierung zahlt eher auf die Steuerbarkeit der Gesellschaft als auf Produktivität ein. Vor diesem Hinter- grund muss man das geopolitische Handeln der USA und ihrer Vasallen betrachten.
Auf den ersten Blick ist es rational, dass die strategischen Eigentümer des Westens weiterhin mit dem Dollar als Weltleitwährung die Möglichkeit behalten wollen, durch das Drucken von Geld und die Produktion von Staatsanleihen Rohstoffe und Güter aus aller Welt zu kaufen und dadurch ein leistungsfreies Einkommen zu erhalten. Das gilt auch für fast jeden westlichen Staat, indem mit Neuverschuldung Sozialleistungen bezahlt werden, um die depravierende Bevölkerung ruhig zu halten. Auch ist das Neocon-Narrativ von der Notwendigkeit der militärischen Demokratisierung der Welt rational, wenn dadurch die Kontrolle über Rohstoffe (naher Osten, Ostukraine) oder über Handelsrouten aufrecht erhalten werden kann. Die EU betreibt mangels militärischer Machtmittel eine Neoconartige Binnenpolitik, wie das Beispiel Rumänien zeigt, nämlich die Verhinderung des Ausscherens aus dem antirussischen EU-Konsens. Aus dieser Sicht ist auch der Ukraine-Krieg eine Erfolgsgeschichte, weil er Russland schwächt und seine Kräfte im Krieg bindet, zu einer selbst im Kalten Krieg nicht möglichen Erweiterung der NATO um Schweden und Finnland geführt hat und der Rüstungsindustrie die Thesaurierung der Gewinne aus mindestens 500 Milliarden an Neuaufträgen seit 2022 eingebracht hat; diese Umsätze werden selbstverständlich vom Steuerzahler getragen. Ebenso rational erscheint die mutmaßlich von den USA durchgeführte Sprengung der Nordstream-Pipeline, wenn man Westeuropa wirtschaftlich von Russland abkoppeln und mit US-Frackinggas beliefern will.
All dies ist Ausdruck nicht etwa eines Nullpunkts an Fähigkeiten oder des Machtwillens des Westens, sondern einer beeindruckenden transnationalen Koordinierung des politischen Willens – bis hin zur öffentlichen Selbstverleugnung der US-Vasallen Westeuropas wie bei der Sprengung der Nordstreampipeline. Warum aber ist diese Handeln töricht? Hat es nicht seit den 1960er Jahren erstklassig funktioniert, die UdSSR zerstört und die USA zum einzigen Hegemon gemacht?
Die westliche Neocon-Geostrategie ist töricht, weil sie aufgrund der Erfolge des US-Imperialismus der letzten hundert Jahre die Bedeutung der Autarkie unterschätzt. Die USA, einem mit Rohstoffen gesegneten Land, das bis in die 1980er Jahre hinein auch über eine großartige industrielle Basis verfügte, haben sich wie einst Belgien an die imperialen, leistungsfreien Renteneinkommen gewöhnt. Den elitären Führungszirkeln in Washington D.C. (Politik), New York (Finanzzentrum), in Texas (Rohstoffverarbeitung) und an der Westküste (Technologie) ist nicht klar, dass eine deindustrialisierte, total vom schuldenfinanzierten Import abhängige Nation den Imperialstatus nicht durch Gelddrucken, CIA-Aktionen und Propaganda alleine aufrecht erhalten kann. Wie Todd richtig erkannt hat, ist es sehr schwer, sich dem Charme und der Sucht des Erwerbs von Realgütern und der Ruhigstellung der Plebs mit Hilfe der Notenpresse zu entziehen, solange es noch funktioniert.
Doch der Ukrainekrieg, der womöglich mit einem Sieg über die USA und die NATO enden wird, ist der Scheitelpunkt des US-Imperialismus und leitet dessen Niedergang ein. Russland und seine wirtschaftlichen Unterstützer und Verbündeten – China, Indien, Iran und Nordkorea, um nur die wichtigsten zu nennen – gewinnt diesen Krieg nicht aus demographischer Überlegenheit, sondern weil es schlicht und einfach mehr und auch hochwertigere Waffen (wie die Hyperschallwaffe Oreschnik) an die Front zu bringen vermag als der gesamte Westen.
Ein Imperium kann nur mit materieller Überlegenheit aufrecht erhalten werden, fiskalische, propagandistische und geheimdienstliche Mittel sind auch erforderlich, können aber erstere nicht ersetzen. Der Westen zahlt nun den Preis für seine Deindustrialisierung, die zur finanziellen Gewinnmaximierung törichterweise geplant und realisiert wurde. Dass sie derzeit nicht reversibel ist, liegt unter anderem an dem von Todd korrekt diagnostizierten Werteverlust der Akademikerschicht: Wirtschaftlicher und kultureller Niedergang sind dialektisch verbunden und verstärken sich gegenseitig. Der Westen hat zu wenig Ingenieure, Facharbeiter und Fabriken, um es mit Russland und seinen Verbündeten aufzunehmen.
Andererseits könnte die Neocon-Strategie funktionieren, wenn der Westen noch die Ressourcen und Machtmittel hätte, um sie durchzusetzen. Die Strategie ist töricht, weil hinter den finanziellen und verbalen Aktionen zu wenig echte militärische Aktionsmacht steht. Die antirussischen Sanktionen schaden in erster Linie europäischen Verbündeten. Wenn der Krieg verloren ist, wird auch die Propaganda an Glaubwürdigkeit verlieren. Falls Russland dann geschickt agiert und offensichtlich wird, dass es die NATO nicht bedroht, wird es immer schwerer werden, dieses hegemoniale Bündnis zusammenzuhalten – es wird verschwinden wie der Attische Seebund (ein echter Vorläufer der NATO) nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg.
Das Ende des US-Imperiums wird sich schneller vollziehen als das Ende des Römischen Reiches; vor allem, weil im Industriezeitalter gesellschaftlicher Wandel rascher erfolgt als in der Agragesellschaft, die viel weniger produzieren konnte und in der technischer Fortschritt vergleichsweise langsam war. Wann wird man sagen können, dass es vorbei ist? Wenn die USA ihr Außenhandelsbilanzdefizit nicht mehr mit Papier decken und daher nicht mehr überkonsumieren können, wenn sie keine Kriege mehr anzetteln können, wenn der Dollar nicht mehr als Leitwährung und Vermögensaufbewahrungseinheit der Reichen dient, wenn die US-Willensbildung nicht mehr auf Europa und Japan projiziert werden kann oder wenn die kulturelle Vormacht der USA erlischt. Vielleicht zerbricht auch der Bundesstaat, wie Schlesinger das 1992 angedeutet hatte [21]. Wie viele dieser Bedingungen erfüllt sein müssen und wann das der Fall sein wird, wissen wir nicht. Klar ist nur, dass, wie nach dem Fall Athens, neue Hegemone die Einflusssphäre der USA aufteilen werden. Todd glaubt, dass Deutschland dann in den Russischen Hegemonialbereich gelangen wird und damit ein gutes Schicksal erwartet. Wir werden sehen.
Literatur
[1] Halford J Mackinder: »The geographical pivot of history«. In: The Geographical Journal 170.4 (2004 (1904)), S. 298–321.
[2] Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard. New York: Preseus Books, 1997.
[3] Colin Crouch: Post-democracy. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons, 2004.
[4] Sheldon S Wolin: Democracy incorporated. Princeton University Press, 2008.
[5] John J Mearsheimer: The great delusion: Liberal dreams and international realities. Yale University Press, 2018.
[6] John Mearsheimer: »Playing With Fire in Ukraine«. In: Foreign Affairs August 17th (2022).
[7] Joel Kotkin: The coming of neo feudalism. New York: Encounter Books, 2020. [8] Fadi Lama: Why the West Can’t Win: From Bretton Woods to a Multipolar World. SCB Distributors, 2023.
[9] Emmanuel Todd: La défaite de l’Occident. Gallimard, 2024.
[10] Thomas Piketty: »About Capital in the Twenty-First Century«. In: American Economic Review 105.5 (2015), S. 48–53.
[11] Michael Hudson: The destiny of civilization. Dresden: Islet Verlag, 2022.
[12] Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1916). Bern: Francke, 1966 [1916].
[13] Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler: Capital as power: A study of order and creorder. Routledge, 2009.
[14] Norbert Häring: Endspiel des Kapitalismus. München: Beck, 2022.
[15] Max Ludwig: »Eine Generation abendländischen Neolyssenkoismus«. Globkult (2022).
[16] Wolfgang Streeck: »The return of the repressed«. In: New Left Review 104 (2017), S. 5–18.
[17] Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen (Opladen, 1975). 1975.
[18] Ernst Nolte: Historische Existenz. München: Piper Verlag, 1998.
[19] Barbara W Tuchman: The march of folly: From Troy to Vietnam. Random House, 1985.
[20] Thorstein Veblen: Absentee ownership: Business enterprise in recent times: The case of America. Routledge, 2017 (1924).
[21] Arthur M. Jr. Schlesinger: The Disuniting of America. 1992.