von Ute Altanis-Protzer

Was passiert in einer Katastrophe? Ob Erdbeben, Tsunamis, große Terrroranschläge oder Kriegszustände: es werden viele Menschen gleichzeitig betroffen. Dabei kann eine Grenze der medizinischen Versorgung erreicht werden. Diese Grenze wurde uns gerade durch die Bilder aus Italien im Kampf gegen Covid19 schmerzhaft vor Augen geführt.

Notfallmedizin – Katastrophenmedizin

Medizin, auch Notfallmedizin, ist Individualmedizin, ihr Ziel ist die optimale Versorgung jedes einzelnen Patienten. Bei der Katastrophenmedizin kann das so nicht mehr möglich sein. Dazu erklärt der Weltärztebund schon 1994, dass unter Katastrophenbedingungen die Verpflichtungen zur Behandlung einzelner Personen zugunsten der Stabilisierung vieler Patienten aufgegeben werden kann. Praktisch geht es ja darum, dass medizinische Notwendigkeit nicht realisiert werden kann. Die Forderung heißt dann: möglichst vielen Patienten in möglichst kurzer Zeit mit dem vorhandenen Material ein Überleben zu ermöglichen, wobei aber das übergreifende medizinische Ziel (die optimale Versorgung der Patienten) sich nicht geändert hat. Das betont der Medizinethiker H.M.Sass schon 2006. http://Sass: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror, Med.Ethische Materialien Heft 165, Bochum 2006. Wenn optimale Ressourcen fehlen, muss ein Konsens darüber hergestellt werden, wie die vorhandenen zu verteilen sind.

Triage – Sichtung – Sortierung

Der französische Begriff triage heisst ›sortieren, auslesen‹ und wird im Alltag für Sortieren von Dingen verwendet, traditionell auch in der Militärmedizin für die Einteilung nach Schwere der Verletzung. Für die Katastrophenmedizin ist das deutsche Wort ›Sichtung‹ besser, weil es klarmacht, dass der Patient von einem Arzt gesehen wird. 2003 wurden ›Sichtungskategorien‹ für die Katastrophenmedizin im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht.

Pandemie Covid19

Seit es Bilder aus Italien gibt, wo einem 85-Jährigen die Beatmung entzogen und einem jüngeren zugeteilt wurde, seit Berichten aus Frankreich, wo im Elsass über 80-Jährige von vornherein gar nicht beatmet würden, gibt es Unruhe in der Gesellschaft. In den sozialen Medien finden sich neben vielen fragenden Kommentaren jetzt angstbesetzte Beiträge von Älteren oder auch Behinderten, die fürchten, gar nicht mehr behandelt zu werden. Viel echte Not ist daraus abzulesen; um so schlimmer, dass gleichzeitig, bewusst oder unbeabsichtigt, so viel Irreführung stattfindet. So wird immer häufiger suggeriert, dass Ältere in Deutschland gar nicht mehr in Krankenhäuser aufgenommen und direkt einer wie auch immer gearteten ›Sterbehilfe‹ zugeführt würden. Das neue Reizwort ›triage‹ rückt Ärzte in unerlaubte fatale Nähe nicht nur zur Euthanasie, sondern direkt zur ›Selektion‹ in Nazi-Zeiten, gerade bei Älteren, die diese Zeiten zum Teil noch erlebt haben. Hier werden in unerlaubter Weise Traumen reaktiviert.

Notsituation für alle

Es wäre hilfreich sich klarzumachen, dass hier eine Notsituation für alle entsteht, die kein Arzt herbeiwünscht. Ärzte sind aber diejenigen, die praktisch beim Eintreffen von vielen Patienten gleichzeitig da stehen und Entscheidungen treffen müssen. Daher hat eine intensive Diskussion über Entscheidungshilfen begonnen. Aufbauend auf den Richtlinien der Katastrophenmedizin werden für die spezielle Situation (sehr viele Erkrankte bei nicht mehr ausreichenden Ressourcen) ergänzende Kriterien formuliert, wobei alle Fachrichtungen von der Medizinethik bis zur Intensivmedizin gehört werden. Nun kann man der Auffassung sein, dass der Zeitpunkt für die Veröffentlichung solcher ins Detail gehenden Handlungsanweisungen jetzt unglücklich ist, weil Panik in der Bevölkerung erzeugt und vermehrt würde. Die Kernfrage ist aber doch: wenn solche Richtlinien nicht vorher klar für eine Pandemie vorlagen, wann sollen sie denn aufgestellt werden? Denn über eins dürften wir uns doch alle einig ein: dass der einzelne Arzt in dieser Notsituation nicht nach Gefühl oder Tagesform irgendetwas entscheiden darf, sondern dass es für seine Entscheidung nachvollziehbare Gründe geben muss. Und dies ebenso zum Wohl der Patienten wie auch zum Selbsterhalt der Ärzte, die damit einfach nicht allein gelassen werden dürfen, sind solche Entscheidungen doch als ›übermenschlich‹ anzusehen.

Richtlinien der Fachgesellschaften

Am 20. 3. 20 haben sieben Fachgesellschaften aus Medizin und Ethik einen gemeinsamen Entwurf vorgelegt, der genau dieses Thema aufgreift. http://COVID-19_Ethik_Empfehlung-v2.pdf. Darin wird zunächst das ›Mehraugenprinzip‹ betont ( keine einsamen Entscheidungen, Transparenz und Dokumentation); es werden die allgemeinen Regeln für Aufnahme auf eine Intensivstation noch einmal zusammengefasst und zusätzlich wird ein Kriterienkatalog für Priorisierung bei nicht ausreichenden Ressourcen erstellt. Dazu ist zu sagen, dass es ja schon viele Möglichkeiten gibt, die Prognose für einen bestimmten Patienten realistischer einzuschätzen; so beurteilt der ›SOFA-Score‹ aufgrund verschiedener Messdaten die Organdysfunktion und bietet daher eine gute Risikoabschätzung. Priorisierung ist keine ›Bauchentscheidung‹! Ebenso muss eine eingeleitete Intensivtherapie in der Folge in Abständen neu evaluiert werden. Das ist bei jeder Intensivtherapie üblich, wobei sie dann beendet werden darf, wenn kein realistisches Therapieziel mehr erreicht werden kann, z.B. bei fortschreitendem Organversagen, wiederum abschätzbar durch den schon erwähnten Score; das Gleiche gilt für den umgekehrten Fall: Besserung der Organfunktion, Eigenatmung möglich.

Der Patientenwille

Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass – ganz unabhängig von der Pandemie-Situation – in allen medizinischen Prozessen heute der Patientenwille gilt. Deshalb sollte sich Jeder auseinandersetzen mit der Kernfrage: was will ich? Was betrachte ich als gut für mich? Mehr Quantität oder mehr Qualität? Und was ist Qualität für mich? Das ist ein Prozess, der lange dauert und der am besten immer mit Vertrauenspersonen besprochen werden soll, wobei man schließlich eine Vorsorgevollmacht ausstellt. Im besten Falle (am Ende des Denk- und Beratungsprozesses) erstellt man auch eine Patientenverfügung, in der für bestimmte Situationen bestimmte Maßnahmen ausgeschlossen werden, wie z.B. Wiederbelebung oder maschinelle Beatmung.

Alle Probleme gelöst also?

Natürlich nicht. Haben wir Angst? Ja, mit Recht. Die Situation, dass den aufnehmenden Ärzten nicht fünf, sondern fünfhundert Patienten gleichzeitig gegenüberstehen wäre nicht zu bewältigen; alle Anstrengungen gehen in die Richtung, sie zu vermeiden. Dass es bei uns eine solche Chance gibt, ist kein Verdienst gegenüber Italien oder Frankreich; wir sollten einfach dankbar dafür sein, dass wir diesen zeitlichen Abstand von 2 Wochen haben. Die politischen Eingriffe in unsere Freiheit sind nur wegen dieser Chance gerechtfertigt.

Wir haben also Angst, aber doch alle! Es gibt keinen Grund für selektive Ängste! Diese Pandemie berührt Grundrechte, ja, aber es ist ganz klar zu sagen: weder Alter, noch ›soziale Rolle‹ oder irgendeine Form von (durch wen überhaupt definierten?) ›Wertigkeit‹ stehen hier und heute zur Debatte als Kriterium für Triage! Wir sollten uns also bitte in dieser schwierigen Situation jeder Panikmache entgegenstellen; undifferenzierte tweets über ›Selektion‹ sind nicht nur nicht hilfreich, sondern können wirklich viel Schaden anrichten. Soziale Medien können auch für den guten Zweck genutzt werden, die ›Risikogruppen‹ zu beruhigen und die medizinischen Teams zu unterstützen statt hier die Nähe von Verbrechen zu suggerieren.

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