von Immo Sennewald
Das Zeitalter der Mobilität hat uns vom Laufen zum Fahren, zum Rasen, gar zum Fliegen gebracht. Damit diese Fortbewegung von inzwischen Milliarden Menschen nicht fortwährend mit Unglück, Stau, gar Kollaps, Tod und Chaos einhergeht, braucht es Regeln. Es gibt sie, sie wurden und werden fortwährend geändert, angepasst, umgangen und gebrochen.
Dabei gab es ein Wechselspiel: Der Mensch passte die Technik seinen Bedürfnissen an – schneller, höher, weiter, sicherer, komfortabler – neue Regeln mussten her: Gurtpflicht, Tempolimits, Überholverbote, Rettungsgassen. Das Verhalten der sich fortbewegenden Menschen änderte sich nur insofern, als die Regeln Routinen hervorbrachten – etwa das Anlegen des Gurtes oder routinierte Blicke auf Instrumente, Ampeln, Verkehrszeichen, Kreuzungen (rechts vor links), mögliche Blitzer am Fahrbahnrand.
Die Grundimpulse des Menschen blieben indessen fast unverändert: Erlangen und Vermeiden. Ebenso Gefühle wie Liebe, Hass, Neid, Zuneigung, Angst, Furcht, Bewunderung, Erstaunen, Empörung… Sie alle fahren mit. Und wenn ich vom Verkehr spreche, ist er natürlich nur ein Beispiel dafür, wie Menschen im Alltag miteinander ›verkehren‹.
In den vergangenen Jahren haben wir einen Wust wechselnder Regeln, sich verändernder Begründungen dafür, eine Flut widersprüchlicher Informationen erlebt wie kaum je zuvor. Woran muss, woran kann ich mich halten? – Welche Information trifft zu? Welche Regel hat Sinn? Welche Maßnahme? Wem kann ich vertrauen und – was ist die Wahrheit?
Damit wäre ich beim lieben Gott und beim Teufel, bei der Bibel und einem Verhalten, das sich schon bei den Kleinsten findet: Die Lust, Regeln zu brechen – oder eigene aufzustellen und durchzusetzen. Adam und Eva machten es vor: Erbsünde, sie wurden aus dem Garten Eden verbannt.
Klar: Bei Gott im Himmel ist die Allmacht, er bestimmt die Regeln. Auf den Einspruch von Atheisten hin gebe ich natürlich zu, dass die Regeln des Universums gelten, aber von da kämen Sie vielleicht zu einem ausschweifenden Text über Relativitätstheorie und Quantenphysik, aber nicht zu einem unterhaltsamen Artikel. Mit Gott, Satan und Regelbrüchen, auch Sünde genannt geht das. Man versteht trotzdem gut, dass Regelbrüche im Umgang mit Naturgesetzen üble Folgen haben können. Wer versucht, die Physik zu bescheißen, riskiert Bruchlandungen und Blackouts.
Zurück ins Paradies – zu Gottes Werk und Teufels Beitrag. Ambrose Bierce war ein amerikanischer Autor von Kurzgeschichten. Im Bürgerkrieg wurde er verwundet, in Revolutionskämpfen 1914 in Mexiko ist er verschollen. Sein Humor war tiefschwarz. Manche hielten ihn für einen Menschenfeind; liest einer seine Texte, begreift er, wie ein lebens- und kriegserfahrener, zutiefst Mitfühlender sich in den Sarkasmus rettet. 1911 verfasste er The Devils Dictionary. Unter dem Stichwort ›Satan‹ ist zu lesen, dass dieser »Einer der beklagenswerten Irrtümer des Schöpfers« gewesen sei,
»von diesem in Sack und Asche bereut. Als Erzengel eingesetzt, machte Satan sich vielfältig unbeliebt und wurde schließlich des Himmels verwiesen. Bei seinem Abstieg hielt er auf halbem Weg inne, neigte denkend einen Moment lang das Haupt und ging schließlich zurück.« »Eine Gunst möchte ich erbitten«, sagte er.
»Nenne sie.«
»Wie ich höre, ist der Mensch in der Mache. Wenn er fertig ist, wird er Gesetze brauchen.«
»Was, du Wicht! Du, sein berufener Widersacher, seit dem Morgengrauen der Ewigkeit von Haß auf die Seele des Menschen erfüllt — du bittest um das Recht, seine Gesetze zu machen?«
»Pardon; worum ich bitten möchte, ist, daß ihm gestattet werde, sie selbst zu machen.«
»So ward es beschlossen.«
Von den Göttern zu Propheten, Majestäten und anderen Obrigkeiten – sie alle hielten sich selbst ungern an Regeln und wussten das auch stets fintenreich zu begründen. Die Menschen konnten sich ihre Herrscher nur selten aussuchen, und selbst dann machte sich Satans List, die Gesetze den Menschen selbst zu überlassen, bemerkbar: Egal ob die Macht dynastisch – also in Familien – vererbt, ob sie durch wie auch immer geartete Wahlen an unterschiedlichste Regierungen gelangte oder einfach mit Gewalt oder durch Korruption angeeignet wurde: sie fiel immer wieder einmal in die Hände von Idioten. In Ambrose Bierces Des Teufels Wörterbuch steht dazu:
»Idiot, der – Angehöriger eines großen und mächtigen Stammes, der menschliche Belange stets beherrschend beeinflusst und kontrolliert hat. Die Aktivitäten des Idioten beschränken sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet des Denkens oder Handelns, sondern durchdringen und regeln alles. Er hat in allem das letzte Wort; seine Beschlüsse sind unanfechtbar; er bestimmt die Mode in Meinungs- und Geschmacksfragen, diktiert Sprachfehler und schreibt ultimativ Verhaltensweisen fest.«
Die Folgen werden in der Literatur oft behandelt, auch bei Goethe, im Faust, Prolog im Himmel während einer Zwiesprache des Herrgotts mit Mephisto:
»Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen«, erklärt der Teufel, »Ich sehe nur wie sich die Menschen plagen. Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag, Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennts Vernunft und braucht’s allein Nur thierischer als jedes Thier zu seyn.«
Damit wären wir bei einem grundsätzlichen Problem von Regeln angekommen: der Frage, ob sie vernünftig sind. Sie hat offensichtlich viel mit Informationen zu tun. Hatten oder haben Obrigkeiten, von denen Regeln bestimmt werden, sichere Informationen über die Zukunft? Informationen mit denen sie ›den Nutzen der Regierten mehren, Schaden von ihnen wenden […] und gegen jedermann Gerechtigkeit walten lassen‹ könnten?
Haben sie natürlich nicht. Sonst wären sie nämlich Gott. Das konnte Priestern und Majestäten die es ›von Gottes Gnaden‹ waren, egal sein. Sie beanspruchten die Deutungshoheit, sie sahen sich im Besitz göttlicher Weis- und Wahrheit. Sie standen auf dem Gipfel der Pyramide nicht nur der materiellen, sondern auch der informellen Macht. Kaum anzugreifen, gar zu erschüttern, bis heute für die allermeisten ›Führungskräfte‹ das Ziel, aufs Innigste zu wünschen. Aber der Teufel steckte seit je im Detail. Es gibt einfach keine sichere Information über die Zukunft. Wenn ein Irrtum, um des Machterhalts willen nie eingestanden, offensichtlich wird, womöglich verbunden mit katastrophalem Schaden, kann das Herrscher stürzen.
Des Teufels Handlanger waren vor allem informelle Gegenspieler der Majestäten: Das konnten einfach – wie zuzeiten von Marie Antoinette – die Gerüchteküche und im Untergrund schwärende rebellische Umtriebe sein oder hundert Jahre später ein heller Kopf wie Frank Wedekind. Er wurde, durch den Tod seines Vaters und eine große Erbschaft unabhängig, ausgerechnet im Dreikaiserjahr 1888 (Wilhelm I. ›greiser Kaiser‹, Friedrich III. ›weiser Kaiser‹, Wilhelm II. ›Reisekaiser‹). Seine Dramen Frühlings erwachen, und Der Erdgeist waren Theaterskandale in den 90ern. Unter dem Pseudonym Hieronymos schrieb Wedkind für den Simplicissimus. Ein stark gefragtes Blatt mit Karikaturen, in dem untergründige Kritik und Witze an die literarische Oberfläche sprudelten.
Es war die Boomzeit des Deutschen Kaiserreiches, als Elektro- und Chemieindustrie aufkamen – BASF und Siemens erste Niederlassungen in China gründeten – das Bahnnetz in Deutschland Rekordausmaße annahm, die ersten Autos und Telefonanlagen gebaut wurden und – obwohl die Verhältnisse relativ liberal waren, als die Sozialistengesetze 1890 aufgehoben wurden – soziale und politische Spannungen wuchsen. Die Polizisten mit preußischer Pickelhaube – zum großen Teil ehemalige Unteroffiziere – waren weniger gut geschützt als heutige, teilten aber kräftig aus. Volkswitz und Gassenhauer halten die Erinnerung frisch.
Wilhelm II., der Reisekaiser, war auf Städtereisen, noch lieber zur See unterwegs – bis zu 200 Tage im Jahr. Vier Jahre seines Lebens soll er auf seiner Dampfjacht Hohenzollern verbracht haben. Kreuzfahrten durch das Mittelmeer, Korfu, Italien, Türkei, Kanaan, jedes Jahr für mehrere Wochen auf ›Nordlandreise‹ in die norwegischen Fjorde – und immer unternimmt der erlauchte Seefahrer ausgiebige Landausflüge.
Der ›Reisekaiser‹ ist auch ein Medienkaiser: In der Glanzzeit illustrierter Zeitschriften und der ersten Bewegtbilder kostümiert er sich prächtig und liebt es, fotografiert zu werden. Und er hat imperiale Pläne: Mit Sultan Abdulhamid II. will er den Bau einer Bahnlinie von Konstantinopel bis Bagdad und an den Persischen Golf realisieren. Ein Wirtschaftskorridor von beiderseits 20 Kilometern soll deutschen Unternehmen zugute kommen. Es ist ein Projekt von vergleichbarem Ehrgeiz wie heute Xi Jinpings neue Seidenstraße; immerhin ist Deutschland die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt.
Pomp und Eitelkeit des kaiserlichen Auftritts in Palästina reizten Frank Wedekind zu einer Spottrede anlässlich dieses Staatsbesuchs. Ebenso wie die Karikatur von Thomas Theodor Heine auf dem Titelblatt des Simplicissimus wurde sie als Majestätsbeleidigung bestraft, die Ausgabe mit der Schmähung beschlagnahmt. Wedekind und Heine mussten in monatelange Haft auf der Festung Königstein. Man fragt sich unwillkürlich, mit welchen Strafen heute ein Kritiker der ›Neuen Seidenstraße‹ unter Xi Jinping zu rechnen hat.
Für den Simplicissimus war es die beste Werbung, er erlangte in der insgesamt ziemlich vielschichtigen und politisch liberalen Presselandschaft des Kaiserreichs höchste Bekanntheit. So findet der Teufel bis heute immer neue Verbündete: Mit jeder Regel, jedem Gesetz kommt zugleich die Energie in die Welt, sie zu ignorieren, zu umgehen oder außer Kraft zu setzen. Sie lässt sich durch Kontrolle, Zensur, Moralnormen nicht schwächen noch gar ausrotten. Frank Wedekind in seinem Gedicht Erdgeist:
»Greife wacker nach der Sünde;
Aus der Sünde wächst Genuß,
Ach du gleichest einem Kinde,
Dem man alles zeigen muß.Meide nicht die ird'schen Schätze:
Wo sie liegen, nimm sie mit.
Hat die Welt doch nur Gesetze,
Daß man sie mit Füßen tritt.Glücklich wer geschickt und heiter
Über frische Gräber hopst.
Tanzend auf der Galgenleiter
Hat sich keiner noch gemopst.«
Die Kaiserreiche in Österreich, Deutschland, Russland und China gingen fast zur gleichen Zeit unter, als Telefone, Kinematographen, Autos, Flugzeuge, Rundfunk die Industrienationen durchdrangen. ›Es ist alles schlechter geworden‹, seufzten die Alten. ›Aber mindestens eines ist besser geworden: die Moral ist schlechter geworden‹, antwortete die Jugend und amüsierte sich in den Goldenen Zwanziger Jahren. Moral und Sexualmoral in der Weimarer Republik waren locker, Cabaret und Shows, Boulevard und Asphaltliteratur – Kurt Tucholsky, selbst ein Schwerenöter, kommentierte bissig seine Zeitgenossen, indem er 1931 die Persiflage einer Schulstunde zum Thema Der Mensch veröffentlichte:
»[...] Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die anderen auch nicht.
Der Mensch zerfällt in zwei Teile: In einen männlichen, der nicht denken will, und in einen weiblichen, der nicht denken kann. Beide haben sogenannte Gefühle: man ruft diese am sichersten dadurch hervor, daß man gewisse Nervenpunkte des Organismus in Funktion setzt. In diesen Fällen sondern manche Menschen Lyrik ab. […]
Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht werden. Doch hat noch niemand sich selber beherrscht; weil der opponierende Sklave immer mächtiger ist als der regierungssüchtige Herr. Jeder Mensch ist sich selber unterlegen.
Wenn der Mensch fühlt, daß er nicht mehr hinten hoch kann, wird er fromm und weise; er verzichtet dann auf die sauren Trauben der Welt. Dieses nennt man innere Einkehr.
Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedene Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, daß sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, daß sie alt sind, und Junge begreifen nie, daß sie alt werden können.«
1931 war »Der kleine dicke Berliner, der mit seiner Schreibmaschine die Welt vor der Katastrophe retten wollte« (so nannte ihn Erich Kästner) schon im schwedischen Exil. Die 14jährige Weimarer Episode war ›eine Demokratie ohne Demokraten‹, die politischen Sitten wurden immer rauer. Aufschwung und Krisen folgten wie im Wechselfieber aufeinander, Arm und Reich standen in krassem Gegensatz, Kommunisten und Nazis eroberten die Straßen, die Parlamente, Zeitungen. Mit dem Fortschritt von Film und Rundfunk erreichte der Kampf um die informelle Macht, um die Deutungshoheit, eine neue Dimension. Desillusioniert, fast schon resigniert wandte sich Tucholsky noch einmal
Und dann wurde auf einmal alles ganz einfach mit den Regeln. ›Führer befiehl - wir folgen‹. Das gefiel... den meisten. ›Da weiß man doch, wo’s langgeht!‹
Die Teufelchen verschwanden im Exil, im Knast, im KZ. Oder im Untergrund. Obwohl es lebensgefährlich war, fanden subversive Informationen Schleichwege, blühte der politische Witz. Erich Ohser, Karikaturist und Illustrator von Büchern Erich Kästners wurde deshalb 1944 von einem gesetzestreuen Ehepaar namens Schultz angezeigt. Noch in der Haftanstalt Moabit verweigerte der Feind von Staat und Volksgemeinschaft uneinsichtig dem Freislerschen Volksgerichtshof das Geständnis und die Reue. Er nahm sich einfach das Leben.
Unterm Banner des ›Antifaschismus‹ dirigierte die ›Sozialistische Einheitspartei Deutschlands‹ – nach weitestgehend erzwungenem Zusammenschluss von Kommunisten und Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone –die 1949 gegründete DDR, die sich als ›das bessere Deutschland‹ sah, Richtung Sozialismus. SED-Chef Walter Ulbricht gab die Devise aus ›Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.‹ Durchgeregelt. Alternativlos.
Mittels Planwirtschaft war der kapitalistische Klassenfeind im Westen zu überholen, und zwar ohne ihn einzuholen. Auf der Überholspur kam oft etwas dazwischen – vor allem Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Fahrtrichtung West wurde rigide eingeschränkt; nur wer den Propheten MarxEngelsLenin, zeitweise auch Stalin oder Mao, treu ergeben war, oder als Rentenempfänger entbehrlich, durfte das Herrschaftsgebiet der Arbeiter und Bauern verlassen. An den für Flüchtlinge tödlichen ›Antifaschistischen Schutzwall‹ erinnern sich manche noch, auch an die Cherubim mit Betonmaske, die ihn überwachten.
Das Überholen klappte nicht, es herrschte Mangelwirtschaft, dafür gab es einen Überfluss politischer Witze. Der Regelbruch wurde überhaupt zur Regel, anders kam man zu nichts. Nicht mal zu Klopapier. Es gab meistens keins, wenn doch, dann in der Qualität ›Mittelfeines Schleifpapier‹. Zeitungen mussten die Not auf dem stillen Örtchen lindern, etwa das Neue Deutschland, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei, kurz ›ND‹. Sowas wäre heute undenkbar: Zeitungen sind a) teuer und werden b) von keiner Wasserspülung akzeptiert. Von Lesern auch immer weniger.
Trotzdem gilt immer noch die Regel ›raue Zeiten – raues Klopapier‹. Nicht nur, dass Zellstoff weltweit immer knapper geworden ist: Seit März haben die Russen die Lieferung von Birkenholz eingestellt, das für besonders weiches, flauschiges Tissue benötigt wird. Aber das ist nicht das eigentliche Problem, sondern wir alle sind es. Ist der Verbrauch von Holz im allgemeinen schon zu groß, der Bedarf kaum mehr zu decken, was sich überall auf Baustellen und wo es sonst gebraucht wird, in Engpässen und hohen Preisen niederschlägt, so ist die unmäßige Hygiene der Menschen ein mächtiger Waldfrevel. Sie können das beim WWF und zahllosen Publikationen nachlesen, die Menschen dazu erziehen wollen, weniger Zellulose für die Körperhygiene zu missbrauchen.
Der in jüngeren Jahren als Anhänger Mao Zedongs hervorgetretene Ministerpräsident Kretschmann empfiehlt den Einsatz von Waschlappen. Mein Vorschlag: Stellen Sie sich künftig bei jedem Wisch und Weg das ruckhaft anschwellende Geräusch einer Kettensäge vor! Dann folgen Sie vielleicht dem Rat einer Fränkischen Zeitung, stattdessen lieber kurz die Dusche zu benutzen. Es gab ja auch in einem öffentlich-rechtlichen Medium (›Funk‹) kürzlich den Hinweis, beim Duschen zu pinkeln – das spare Wasser und Energie.
Hier ein kurzer Blick auf die Praxis der 50er und 60er Jahre im Arbeiter- und Bauernstaat DDR und das Leben in einem Fachwerkbau, der wegen mangelnder Materialien und Handwerker nicht instand zu halten war. Gustav Horbel ist Hauptperson im Roman Blick vom Turm und 1968 gerade 18 Jahre alt.
»In dem Haus, wo Gustav wohnte, herrschte schon klassenübergreifende soziale Gleichheit. Es war vermutlich zur Zeit der französischen Revolution gebaut worden. Die Wohnungen hatten weder Zentralheizungen noch Bäder, nicht einmal eine Wasserspülung für die Toiletten. Mieter wie Hausbesitzer steckten ihre Hinterteile in eine runde Öffnung über den Miasmen der Jauchegruben – im Sommer bei Hitze im Winter bei Frost – und vernahmen jenes Geräusch, das dem Klo seinen Namen gab. Dass was plumpsen sollte, stecken blieb, gefror und den Bedürftigen Ungemach bereitete, kam nur bei außergewöhnlich strengem Frost vor. Gustavs Mutter griff dann unter groben Flüchen zu einem Eimer heißen Wassers und einem stabilen, mannshohen Knittel aus Buchenholz und setzte die Fallgesetze wieder in Kraft.
Vielleicht war ja die Knappheit an Toilettenpapier sogar von Partei- und Staatsführung gewünscht, weil viele Leute die Zeitungen noch einmal in die Hand nahmen und lasen, ehe die Organe des Zentralkomitees oder der Bezirksleitungen den Weg nach ganz unten antraten. Schließlich wusste jeder bis hinauf ins Politbüro mit dem Ersten Sekretär und Staatsratsvorsitzenden an der Spitze von diesem Alltagsritual. Nur öffentlich darüber zu reden, war tabu. ›Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.‹ Aber so leuchtete immerhin ein, warum die Herren der Planwirtschaft nicht alles daran setzten, dem Frevel durch vermehrte Produktion von Toilettenpapier zu begegnen.«
Das Leben war nicht sehr komfortabel damals, aber es wurde jedenfalls sehr viel weniger an Wasser, Strom, Holz, Kohle, Eisen und andere Metallen, Gas und sonstigen Grund- und Rohstoffen verbraucht als heute. Soweit ich verstehe, gilt das einer großen Zahl Menschen in bestimmten Parteien oder sonstwie mit Steuergeld und Spenden finanzierten Organisationen als erstrebenswertes Ziel einer künftigen Welt ohne Kapitalismus. Es sind Leute, die in Jahrzehnten wachsenden Wohlstandes und Komforts heranwuchsen, fortwährend in allen möglichen Medien Laut geben und genau wissen, wie andere gefälligst ihren Konsum und ihre Körperhygiene zu reduzieren haben.
Dass ich mir die Verhältnisse von 1968 nicht zurückwünsche – obwohl der Mangel an Wohlstand in wildbewegter, abenteuerlicher Jugend nur eine lästige Begleiterscheinung war – begreifen solche Leute natürlich nicht. Ihre Lebenspraxis beschränkt sich auf den ›Diskurs‹, den wollen sie dominieren. Die Arbeit dürfen – und das war in der DDR mit ihren Ideologen und Politbürokraten genauso – andere machen. Arbeiter und Bauern zum Beispiel, gern auch unbotmäßiges Gesindel in Gefängnissen und Lagern.
›Herrschende Klasse‹ – wie von den kommunistischen Säulenheiligen als Ziel vorgegeben – waren jedenfalls nie die Arbeiter, sondern immer Apparatschiks der Partei, nebst zahllos, ziemlich regellos, dafür sehr korrupt wachsenden ›Staatsorganen‹, ›Massenorganisationen‹ – kurz: ein System, das von der unüberbrückbaren Kluft aus – hoch moralischem – Anspruch einer-, wirtschaftlicher und geistiger Insuffizienz andererseits zugrunde ging. Der Mythos von der ›Gleichheit aller Menschen‹, der praktisch Gleichmacherei, Gleichgültigkeit, Gleichförmigkeit, Gleichschaltung in aller Öde, Hässlichkeit und Armut totaler Regulierung hervorbrachte: er überdauert – wie viele Verblendungen. Das geschieht gerade mit den entsprechend verheerenden Folgen.
Aber da auf allen Wegen dieser Welt die allerwidersprüchlichsten und keiner Gleichverteilung unterliegenden Gefühle immer mitfahren – und sie sich sich auf keine Weise regulieren lassen –, bleibt der Teufel im Spiel und der Ausgang offen.