von Rainer Paris
In einem Cicero-Artikel (Ein Schloss im Nebel, in: Cicero 10/2021) hat der bulgarische Politologe Ivan Krastev das politische Grundproblem Deutschlands nach dem Ende der Merkel-Ära folgendermaßen auf den Punkt gebracht: ›es weiß nicht, wie man eine Führungsrolle übernimmt, ohne Vorbild zu sein‹.
Eine treffende Formulierung – und zugleich ein Verweis auf eine grundlegende Differenz, die in politischen Diskussionen oft verwischt wird. In der Tat: Führung ist etwas ganz anderes als der Wunsch oder das Bestreben, Vorbild zu sein. Ja mehr noch: Auch wer Vorbild ist, muss deshalb keineswegs erfolgreich führen.
Werte und Ziele
Zunächst zur begrifflichen und typologischen Differenz. Max Scheler hat in seiner großen, erst im Nachlass publizierten Vorlesung über Vorbilder und Führer (1911-21) den grundlegenden Unterschied der beiden Sozialfiguren in der fiktiven Idealität und potentiellen Situationsenthobenheit des Vorbild-Nachbildungsverhältnisses markiert: Vorbild kann für uns auch jemand sein, der situativ gar nicht anwesend ist und von seiner Vorbildfunktion nichts weiß (dies können sogar historische Gestalten oder literarische Kunstfiguren, Caesar oder Lord Jim, sein).
Der Führer dagegen agiert immer im Hier und Jetzt, das Führungs-Gefolgschaftsverhältnis ist stets eine reale Beziehung. Wer führt, geht voran und schultert die Verantwortung. Er beansprucht den Überblick und traut sich zu, die Entwicklung des Gemeinwesens zu steuern und auch schwierige Probleme und Krisen zu meistern. Dabei gilt: Führen kann nur derjenige, der auch führen will. Ohne den offensiven Entschluss, die Führungsrolle zu übernehmen, wird niemand erfolgreich sein. Es gibt keine zögerliche, gar selbstdementierende Führung.
Hinzu kommt der Unterschied der Bezugssysteme. Vorbilder repräsentieren Werte und Tugenden, die man selbst anstrebt, ein Ethos, in dem man sich selber verortet. Sie prägen eher das Ich-Ideal als das praktische Tun. Führer hingegen setzen lohnende Ziele und weisen gangbare Wege, wie sie erreicht werden können. Hierfür bedarf es eines klaren Bewusstseins der eigenen, aber auch der fremden – womöglich gegnerischen – Interessen sowie einer Strategie der Verknüpfung von Zielen und Maßnahmen. Erst vor diesem Hintergrund ergeben sich taktische Varianten oder Optionen für Kompromisse.
Sicher können Führer auch Vorbilder sein, aber sie müssen es nicht. Entscheidend für den Führungserfolg ist das Erreichen des Ziels, nicht die Gewissheit eigener Moralität.
Das Dilemma
In der Zeit des Kalten Krieges konnte sich die (west)deutsche Politik im Wesentlichen darauf beschränken, im Strom der westlichen Nationen mit zu schwimmen. Verankert im transatlantischen Bündnis waren die Spielräume begrenzt, eine Führungsrolle war von niemandem gewünscht und auch nicht gefragt.
Das hat sich nach 1989 gründlich geändert. Mit der Konsolidierung und Erweiterung der EU und der Einführung des Euro entstand schon aufgrund des wirtschaftlichen Gewichts in Europa für die deutsche Politik eine Situation, die der Staatsrechtler Christoph Schönberger in einem Merkur-Aufsatz 2012 als ›Hegemon wider Willen‹ charakterisierte. Helmut Schmidt antwortete ihm damals lakonisch:
Das ist der Kern des Problems: Eine Führungsrolle Deutschlands in der EU liegt nicht im deutschen Interesse. Was aber ist, wenn die anderen sie im Grunde den Deutschen zuschanzen oder abverlangen, oder wenn ein dauerhaftes Führungsvakuum dysfunktionale Entwicklungen wie zum Beispiel einen schleichenden Machtzuwachs der zwischenstaatlichen Institutionen (EZB, Kommission, Europäischer Gerichtshof) begünstigt oder verstärkt?
Angela Merkel verhielt sich in dieser verzwickten Situation eher zögerlich-defensiv. Zwar suchte sie gelegentlich, vorzugsweise im deutsch-französischen Schulterschluss, auch die Initiative, doch alles in allem beschränkte sie sich im Wesentlichen auf ein ausgleichendes Moderieren und Glätten der Wogen, auch in Fortsetzung Kohlscher Scheckbuch-Diplomatie. Und dort, wo sie tatsächlich versuchte, ihre politischen Absichten zum Beispiel bei der Verteilung der Flüchtlinge durchzudrücken, biss sie letztlich auf Granit und beförderte indirekt den Brexit.
Zugleich traf sie freilich eine Reihe weitreichender zeitgeistpopulistischer, auch wahltaktisch motivierter Entscheidungen, die das Schicksal Deutschlands und Europas noch lange Zeit prägen werden. Der überstürzte Atomausstieg, der geduldete Einstieg in die Schuldenunion, ›Welcome‹ und Grenzöffnung, die Revision des Familienbegriffs – all das waren gesellschaftspolitische Weichenstellungen, die zukünftige Generationen noch konfliktreich und schmerzhaft beschäftigen werden.
Politik des Musterschülers
Eingebettet waren diese Entscheidungen in eine allgemeine Moralisierung der Politik, wie sie von Feminismus und Ökologiebewegung schon seit Jahrzehnten betrieben wird und mit der Diskussion um die Klimaerwärmung noch einmal einen weiteren Schub bekommen hat. Dabei fallen mir in diesen Debatten stets zwei wiederkehrende Stichwörter auf: ›Vorreiter‹ und ›Hausaufgaben‹. Die Vorstellung ist: Eine übergeordnete Autorität formuliert strikte Vorgaben, an die sich alle zu halten und die sie gefälligst zu erfüllen haben. Weltpolitik nach dem Muster der Schule!
Und auch die Figur des Vorreiters ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Vorreiten ist der Versuch, die beanspruchte Vorbildfunktion praktisch zu untermauern: Nicht nur predigen, sondern selber mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist gleichsam ein Führen wollen ohne zu führen. Doch was ist, wenn dem Vorreiter kaum einer folgt und diejenigen, die sich ihm anschließen sollen, am Ende doch wieder eigene Wege gehen? Wenn all die heroische Anstrengung schließlich ins Leere läuft, weil das Vorbild sich doch nicht als so strahlkräftig erweist, wie von ihm selbst erhofft? Vorbilder und Führer, die dies nur für sich selber sind, sind lächerliche, manchmal tragische Figuren.
Die Überlegung verweist auf ein Grundmerkmal, das Vorbild und Führung als soziale Verhältnisse miteinander teilen: Darüber, ob jemand Vorbild ist oder tatsächlich führt, entscheiden jeweils andere. Erst die Folgenden machen den Führer zum Führer, und Vorbild kann nur jemand sein, dem andere diesen Charakter zuerkennen und die ihm wirklich nacheifern. Beides, für andere Vorbild zu sein oder praktisch zu führen, lässt sich nicht erzwingen.
Der Unterschied liegt vor allem im Verhältnis zur Macht. Während die Wirkung des Vorbilds primär auf der Internalisierung der Werte beruht, die es repräsentiert, ist der Führer genötigt, seinen Willen, wenn die Situation es erfordert, auch gegen Widerstände durchzusetzen. ›Der Zwang zur Führung ist die Pflicht zur Macht‹, hat Helmuth Plessner einmal formuliert. Insofern ist auch der Versuch, die Führerrolle zu meiden oder zu umgehen, indem man sich als Vorbild stilisiert, letztlich zum Scheitern verurteilt. Er hinterlässt ein Machtvakuum, das über kurz oder lang durch interessierte Akteure gefüllt wird.
Darüber hinaus ist das Bestreben, Führung durch Vorbild ersetzen zu wollen, zugleich eine Methode, das eigene moralische Selbstbild zu pflegen und die Verantwortung schon im Vorfeld auf andere abzuwälzen. Vorbilder können verblassen, aber nicht irren. Letztlich ist derjenige, der sich auf die Vorbildrolle beschränkt, moralisch stets aus dem Schneider: Schuld sind, wenn es am Ende schief geht, immer die anderen, nämlich jene, die sich, aus welchen Motiven auch immer, geweigert haben, dem leuchtenden Beispiel zu folgen.