von Ulrich Schödlbauer
8. Die ›stillschweigende Option‹
Befremdlich wirkt die Ergebenheit, mit der die öffentliche Debatte das Jahr 2050 (in dem die Prognosen aus gutem Grund enden) als Zielmarke einer homogenen Entwicklung hinnimmt – den Zeitpunkt, zu dem die Reste der sogenannten ›geburtenstarken Jahrgänge‹ ihr biblisches Lebensalter erreicht bzw. weitgehend gelebt haben werden (9,1 bzw. 9,9 Mio Achtzigjährige und älter). Das Dreieck aus ›Überalterung‹, ›Übervölkerung‹ und ›Überfremdung‹ tritt so vielleicht überproportional in Erscheinung. Spätere Zielmarken ließen womöglich andere Größen in den Vordergrund treten. Wenn heute über Zuwanderungszahlen, Rentenquoten und Sozialstaatsversprechen, über den schleichenden Kollaps des Schulsystems und die mangelnde Integrationsbereitschaft von Ausländern geredet wird, dann steht die Frage auf der Tagesordnung, welche Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung für die Aufrechterhaltung des Prosperitätsversprechens als ›optimal‹ gelten darf. ›Unrealistisch‹ ist eine Bevölkerungszunahme auf 299 Millionen (oder ein krasser Rückgang) allein deshalb, weil ›das niemand will‹, weil es ›keine Option darstellt‹, weil ›die Folgekosten zu hoch wären‹, weil ›das nicht mehr das Land wäre, von dem wir reden‹. Vor allem das letzte Argument verdient Aufmerksamkeit: es bringt den Faktor Identität respektive ›Selbsterhaltung‹ ins Spiel und nährt den Verdacht, dass die Entscheidung tatsächlich immer schon gefallen ist. Optimal wäre demnach, wenn sich am Bevölkerungsstand nicht allzu viel änderte. Die Option für eine bestimmte Bevölkerungscharakteristik drückt den Grad des Einverständnisses aus, den eine Gesellschaft sich selbst gegenüber bekundet. Sie spiegelt aber auch Faktoren wie ›Volksnähe‹ oder ›-ferne‹, ›Reißbrettmentalität‹ oder ›Scheu‹ vor dem Bestehenden wider.
Wenn, wie im gegenwärtigen Fall, die Zusammensetzung und damit der Charakter der Gesellschaft so beschaffen sind, dass sie auf keine Weise konserviert werden können, liegt die Frage nahe, welche stillschweigende Option der vergangenen Jahrzehnte diesen Zustand hat eintreten lassen. Naiv wäre es, zu glauben, die Besorgnis angesichts der in anderen Erdteilen sich vollziehenden Bevölkerungsexplosion käme als ernsthafter Kandidat dafür in Betracht. Schwer fällt auch die Annahme, ›man‹ habe sich einfach nichts dabei gedacht. Das mag im Einzelfall zutreffen, doch der erstaunliche Widerstand, dem die Bevölkerungsdiskussion noch immer in bestimmten Alters- und Gesinnungsgruppen begegnet, besagt anderes. Wahr ist, dass der in den Institutionen der Öffentlichkeit sich vollziehende Generationswechsel das Thema in den letzten Jahren (teil-)enttabuisiert hat. Das Scheinargument, die Debatte komme dreißig Jahre zu spät, demonstriert, dass auch diejenigen, die sie noch immer nicht wollen, sich dieser impliziten Dimension der eigenen Themen völlig bewusst sind. Nachvollziehbar ist ihre Haltung schon: die gegenwärtige Bevölkerungscharakteristik lässt sich als das Ergebnis von über Jahrzehnte stabil gebliebenen Einstellungen, Lebensweisen und einmal getroffenen Entscheidungen verstehen, die heute erneut ›auf den Prüfstand‹ geraten. Diskussionsabwehr hat, wie andernorts, die Aufgabe, eigene, oft lange zurückliegende Lebensentscheidungen vor Kritik zu schützen und zu verhindern, dass die öffentliche Meinung ›in diesen Dingen‹ kippt.
Das ist menschlich verständlich, doch rührt es nur insofern an den Kern der Sache, als es die ›stillschweigende Option‹ herauszuarbeiten hilft, die sich nicht im geäußerten Meinungsspektrum findet, aber zu ihm hinzugedacht werden muss, will man nicht der paradoxen Auffassung nachgeben, eine auf Selbstbeobachtung und Kritik gestellte Gesellschaft habe ›nichts gesehen‹ – ein Argument, dessen zweideutig-eindeutige Bewandtnis einst aus älterem Anlass ins allgemeine Bewusstsein gehoben wurde. Es sticht vor allem deshalb nicht, weil auf den öffentlichen Problemfeldern das Bevölkerungsthema immer anwesend war – gleichgültig, ob es sich um medizinische und psychotherapeutische Hilfen für ungewollt kinderlose Paare, um die in den ›reichen Ländern‹ zu beobachtende Adoptionspraxis, um staatliche ›Wurfprämien‹, um Familien- und Ausbildungshilfen, um den öffentlichen Pranger für kinderlose Doppelverdiener und Singles, um die schauerlichen Rituale der Asylanten- und Ausländerdiskussion, das siegreich scheiternde Multikulti-Modell, das Abtreibungsparadigma oder das ›humane‹, nicht bloß der Statistik zuliebe hinausgeschobene Sterben der Alten handelt. All diese Themen und politischen bzw. privaten Entscheidungsfelder waren und sind selbstverständliche Bestandteile öffentlicher Debatten und Stoff für kollektive Erregungen. In ihnen ist die ›stillschweigende Option‹ fast zum Greifen vorhanden, sie wird aber auch von ihnen verdeckt.