von Immo Sennewald
Wenn Menschen massenhaft Feindbilder übernehmen sollen, erreichen Propagandisten einer höheren Moral – egal welcher Religion oder sonstiger Ideologie – dies nur, indem sie einer hinreichend großen Zahl von Individuen Teilhabe an kollektiver Macht, an kollektivem Nutzen versprechen. Die Nazis gaben ihren Mitläufern zahllose Dienstränge und Ehrenzeichen, Kommunisten verhießen das Reich der leistungslosen Anspruchsberechtigung, das Paradies auf Erden statt im Jenseits. Zugleich zeigten sie ihren Anhängern, bei wem sie sich ihre Reichtümer, ihre Wohlfahrt holen konnten. Die Grundimpulse des Erlangens und Vermeidens wurden auf ›Mir nützt, was jenen schadet‹ fokussiert, denkende Individuen verknäuelten sich in besinnungslosem Feldgeschrei – wie die Schafe mit ›Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht‹ – auf Orwells animal farm oder in klammheimlicher Verschwörung zu gewaltbereiten Kollektiven. Es funktioniert immer und überall – zu besichtigen bei Putins Feldzug gegen die Ukraine, bei Extremisten jeglicher Couleur – und es funktioniert vor allem bei Kindern und Heranwachsenden.
Zu den Guten gehören – ein Hochgefühl
Sie sind empfänglich fürs Singen im Chor, Sport im Verein, Ausflüge und Feiern in Gesellschaft, sogar Arbeit an einem gemeinschaftlichen Ziel. Zu Letzterem bedarf es wenig pädagogischer Handreichungen, wenn Elternhaus, Kindergärten, Schulen einigermaßen qualifiziert sind. Kinder haben aber auch den Wunsch, sich gegenüber anderen auszuzeichnen – durch Leistungen etwa – oder durch ein besonderes Maß an ›Bewusstsein‹ und ›Haltung‹. Solche kindlichen Impulse machten sich, ohne religiöse und feudale Privilegierung gänzlich abzuschaffen, die modernen Parteien und Organisationen zunutze. So entstanden politisch ausgerichtete Verbindungen für Kinder und Jugendliche – weltweit. Stolz tragen sie an der Kleidung Erkennungszeichen, es gibt ein ein musikalisches Repertoire, Literatur, Rituale bei Versammlungen, Rangordnungen, und sie bieten Aufstiegschancen nicht nur im politischen Leben. Manche früh geschlossenen Freundschaften hielten lebenslang, viele nur bis zum Ende auf dem Schlachtfeld.
Nichts davon hat sich historisch überlebt. Freitagshüpfer sind weniger stramm organisiert als Putins Heldennachwuchs, Thälmann-Pioniere und FDJ waren weniger radikal als Maos Rote Garden, dafür fast so auf Regeln der Sauberkeit und Ordnung orientiert wie Pimpfe und HJ. Ihre Rituale mögen sich der Form nach unterscheiden: Das Ziel ist jedenfalls, sie kollektiv für politische Kämpfe zu rekrutieren. Das Beispiel Greta Thunberg zeigt, wie sie sich massenhaft mobilisieren lassen. Kinder und Jugendliche sind besonders empfänglich dafür, an der Macht der guten Erwachsenen teilzuhaben – und die der bösen zu brechen.
Wie viele andere Kinder in China während Maos Kulturrevolution (1966 bis zu Maos Tod 1976) zitterte meine Frau, in Nanjing geboren, jeden Tag vor Angst, dass ›Rote Garden‹ ihre Großeltern öffentlich demütigen, womöglich totschlagen würden. Deutsche Linke, als ›68er‹ geschichtsnotorisch, feierten derweil mit erhobener Maobibel chinesische Feldzüge gegen alles Bürgerliche; gern hätten sie die deutsche ›Bourgeoisie‹ umstandslos enteignet.
Wenn Ideologen und Politbürokraten dieser Provenienz bis heute Verbrechen sozialistischer Regime beschönigen, nachdem sie den Niedergang der Bildung an deutschen Schulen und Hochschulen herbeigeführt haben, wenn sie wieder Schulkinder für ihre Wahnvorstellungen von Weltrettung und Menschenverbesserung in Dienst nehmen, bedarf es keiner stärkeren Warnsignale: Ihre Ziele sind totalitär.
Ihre Mittel sind bekannt:
Das ideologische Verstellen von Wahrnehmung und Sprache
Unablässiger Konformitätsdruck
Einschüchtern und ›Zersetzen‹ aller ›Abweichler‹ – bis zur vollkommenen sozialen Ächtung und Zerstörung der Existenz
Pranger und drakonische Strafen als abschreckende Exempel für andere (›Strafe einen, erziehe Hunderte‹ ist nicht nur chinesisches Prinzip), dazu gehören Kontaktschuld, Denunzieren und kollektives Diffamieren sowie Bestrafen von Freunden und Familien.
Der brüchige Frieden
Vierzig Jahre lang erlebten die Deutschen jenen Zustand von Überlagerung, jenes Sowohl-als-auch und Weder-Noch, in dem über Krieg und Frieden anderswo entschieden wurde. Das nannte man ›Kalter Krieg‹. Das ›Gleichgewicht des Schreckens‹ von Nuklearwaffen verhinderte in Europa das Schlimmste, aber nicht zahllose Kriege auf anderen Kontinenten, nicht das Emporkommen von ›asymmetrischer‹ Gewalt des Terrors, nicht die Gefahr von Bürgerkriegen. Schließlich kehrte die Waffengewalt nach Europa zurück, sogar gegen die Zivilbevölkerung: auf den Balkan und in die Ukraine.
Die Treiber von Gewalt-Macht-Lust in Politik und Religion, ihre medialen Schallverstärker sind deutlich erkennbar. Ihre Mitläufer formieren sich – dank neuer Kommunikationsformen – schneller als je. Werden sie sich aufhalten lassen? Wie? Das sind Fragen, die sich uns und nachfolgenden Generationen stellen. Und sie brennen heißer als jeder Klimawandel.
Wissen oder Glauben?
Wer sich mit diesen realen Gefahren befasst, stößt auf beunruhigende ungelöste – womöglich unlösbare – Konflikte. Ein zusätzlicher Blick in die Geschichte verdeutlicht, dass sie fast jederzeit in Kriege übergehen können. Deren Verlauf und Ende erledigen alle Klimaszenarien, die heute massenhaft Furcht erregen und politischen Parteien wie Konzernen, internationalen Organisationen und deren Gefolge in den Medien die Deutungshoheit – also die informelle Macht – sichern sollen. Umso mehr lohnt es sich, genau hinzuschauen, wem solche Szenarien dienen und wer auf ihnen besteht. Etikettiert sind sie mit dem Ziel, Menschheit und Natur – gern mit dem Begriff ›unseres Planeten‹ garniert – vor einem Hitze- und Dürretod zu retten, der wesentlich von der Industrialisierung und dem wachsenden Konsum auf allen Kontinenten abhängt.
Politik und Medien erklären sie gern für unwiderlegbar, obwohl jedes Szenario auf der Basis von Rechenmodellen komplexes Geschehen wie das in der Erdatmosphäre in seinem Verlauf stets nur abschätzen, niemals genau berechnen kann. Wissenschaft modelliert hauptsächlich, um den jeweiligen Kenntnisstand an der Realität zu prüfen und daraus zu lernen; unbestreitbare Modelle von Vergangenheit und Zukunft gibt es nur, wenn Wissenschaftler zu Gläubigen mutieren. Michael Klein hat dazu hier beim Sandwirt eindrucksvoll argumentiert.
Sind ›die Massen‹ auf Linie gebracht, lässt sich Unterdrückung systematisch expandieren. Die Corona-Maßnahmen wirken wie eine Vorübung dazu. Sind die Zerstörungen groß genug, nehmen sie allen Zielen den Sinn, folgen auf wirtschaftlichen Kollaps fast unvermeidlich Krieg oder Bürgerkrieg.
Hat die Vernunft eine Chance zur Neuordnung erst dann, wenn die ziellos Vereinzelten wieder vor der existenziellen Frage nach dem Sinn stehen? Kooperieren Menschen erst dann, um zu retten was zu retten ist? Bilden sich wieder Unternehmen, Märkte, ein Rechtsstaat, der die Freiheit des Individuums zum Ziel hat – und eine Kultur unverstellter Wahrnehmung und des freien Austausches von Meinungen? So weit, so unbewältigt die historische Erfahrung – sie kostete Millionen Menschenleben, ungezählte verlorene Lebenschancen und -jahre nicht zuletzt von Kindern.
Die Zeit, das zu verhindern, ist überfällig – und die Kinder sollten in Schulen, die Grundlagen von Physik, Chemie, Mathematik, Wirtschaft ebenso lernen, wie den Gang der Geschichte, vor allem aber: den Umgang mit Konflikten.