GLOBKULT Magazin herausgegeben von RENATE SOLBACH und ULRICH SCHÖDLBAUER
Steffen Dietzsch
Denkfreiheit
Über Deutsche und von Deutschen, Leipzig (Leipziger Universitätsverlag) 2016, 332 Seiten
»Wichtig wäre es auch, nicht wieder in den geistig-praktischen Grundwahn der DDR zu verfallen und zu versuchen, alles Restrisiko beim Denken sozusagen volkserzieherisch (oder gar ›bürgerkriegerisch‹ – Aufstand-der-Anständigen –) zu vermeiden.«
Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache.
überrascht und betrübt vom Verschwinden dieses uns so ans Herz gewachsenen Wiener Caféhauses, sprachen wir mit einer Prager Freundin auf dem langen Weg zum »Einstein« Unter den Linden über den Sinn rückwirkender parajuristischer Etikettierungen historischer Vorgänge; zumal wenn solchen semantischen Extravaganzen ganz offensichtlich nicht geschichtswissenschaftliche, sondern sozusagen ›staatspolitische‹ Vorgaben zu Grunde liegen. D.h., soll man denen folgen – das-musst-du-politisch-sehen –, die historische Prozesse nicht länger ›bloß‹ historisch erklären, sondern eben ahistorisch, – mit moralischen Standards unserer Gegenwart? – Der aktuelle Anlass jüngst war mal nicht irgendein koloniales oder imperiales Massaker der Europäer aus den Jahrhunderten nach der Entdeckung Amerikas, sondern der mit Millionen Toten verbundene ideologische Wahnwitz einer ursprünglichen sozialistischen Akkumulation, als der Bolschewismus Anfang der Dreissiger Jahre eine ›Wendezeit‹ der Revolution ausrief und das russländische Bauernland in allen seinen Gouvernements – als Baugrube (Platonow) – in eine vom GULAG betriebeneIndustriebrache umwandelte. – Neunzig Jahre und ein halbes Dutzend ›Wendezeiten‹ später – während ›sozialistische‹ Obsessionen immer noch nicht vorbei sind – hält es ein deutsches Parlament für angebracht, jene Ereignisse jetzt fremdelnd als Genozid zu deklarieren.
machte mir meine polnische Freundin klar, dass die jüngsten kriegerischen Ausbrüche des ›Nationalstolzes der Großrussen‹ (als Mentalität schon Anfang des Ersten Weltkriegs von Lenin kritisiert) nicht bloß aus deren neueren Bedrohungsphobien zu begründen sind, sondern dass darin eine über hundertjährige geopolitische Dynamik in Rechnung zu stellen ist.
Mit dem Zusammenbruch des russischen Kaiserreichs 1917 kam es sehr schnell, zunächst vom Bolschewismus unterstützt, zur nation-building bei vielen aus dem sogenannten ›Völkergefängnis‹ entlassenen Ethnien; am nachhaltigsten (und geostrategisch einfallsreich) geschah das bei der Neubegründung der Republik Polen (Nov. 1918), die sich mit erheblichen militanten Landnahmen aus dem Bestand der ehemaligen drei Monarchien konstituierte [expl.: westpreuß. Posen (Poznań), litauisch Vilnius (Wilna), ostgalizisch Lemberg (Lwów)].
– glücklich durch die Hygieneschranke gelangt, gab mir im Blick auf neueste große Perspektiven der Politik eine merkwürdige Symmetrie zu denken, dass immer irgendwie im Rhythmus eines Säkulums die politische Phantasie der Herrschenden erschöpft scheint beziehungsweise zyklisch wird. Das fiel mir bei Plänen aus dem Wirtschaftsressort auf, die für eine Welt, in der das Morgen schon Geschichte ist (Julius Fučik) entworfen schienen. Ging es ehemals – in der Morgenröte einer neuen kommunen heilen Welt – noch um Pläne zur landesweiten Elektrifizierung, so geht es heute um Klimatisierung & Dekarbonisierung des ganzen Landes … Bei beiden aber geht es auch explizit um nichts weniger, als um die ›Rettung-der-Welt‹. Es scheint der gleiche Widersacher zu sein, gegen den man – damals wie heute – aufstehen muss: die Markt- & Geldwirtschaft, der Kapitalismus. Nur hat sich der Feind inzwischen unversehens vervielfacht: waren es ehedem – abzählbare – Kapitalisten, die die Dunkelheit verantworteten und ans neue Licht gezogen wurden, so sind es heute wir Menschen alle selber, deren Verkehrs- und Betriebsformen der Wärme zu zerbrechen seien.