… neulich – auf dem Weg zum Einstein
fand ich in meiner Buchhandlung, Knesebeck Elf, einen Band mit dem irritierenden Titel Also sprach Sarah Tustra … Das verweist lautmalerisch auf jenen berühmten Nietzschetext, dem diese skurrile Variante durch DDR-Geheimpolizisten beim Transkribieren eines Abhörprotokolls zuteil wurde (… who the fuck is Sarah T.?).
Der Band macht die Widerfahrnis des Philosophen durch vierzig Jahre eines Deutschland sichtbar, dessen Traditionen kulturell und politisch zu überwinden sowohl einst der Philosoph als auch dann seine ›linken‹ Verächter versuchten. Der Röckener diagnostizierte aber, dass die geistig-politisch Therapie, die die Linke den Deutschen verordnete, nun den ›Teufel mit Beelzebub auszutreiben‹ versprach: vom Nationalsozialismus zum Sozialismus-in-einem (geteilten)-Land. Dass es dabei einen freien Geist zu entdecken gäbe, einen »der anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet«, blieb der stillgelegten Urteilskraft jener neulinken Weltverbesserer verborgen.
Vielmehr erklärte man in der DDR den Politik- und Kulturkritiker Nietzsche von Anfang an kurzerhand selber zum Urgestein nationalsozialistischen Denkens (Kriegs- und Machtpathetik, Rassismus, Nationalismus, Menschenverachtung und Antisemitismus). Schon im Sommer 1933 identifizierte Georg Lukács aus dem sowjetischen Exil in einem großen Text – Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden? – Nietzsches theoretisches Werk als Ideengeber für die Praxis des Nationalsozialismus (für Wolfgang Harich war z.B. Nietzsches Mistral für die T4-Aktion der Nazis 1940 namhaft zu machen!). Diese »Lästerung Nietzsches« hatte sich am 15. Juli 1933 schon die Pariser Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch verbeten! Aber: Diesem (Vor)Urteil blieb der marxianische ›Mainstream‹ allerorten (in der DDR bis 1989!) verbunden. – Dass man allerdings lange vorher (im Fin de siècle) seitens der kulturkritischen Linken – von Léon Blum bis Maxim Gorki – bereits ein höchst differenzierteres Bild von Nietzsche hatte, blieb im politischen Aufbruch nach 1945 – in eine ›soziale-gerechte-friedliebende-demokratische-Welt‹ – völlig ausgeblendet.
Dieses Abblenden Nietzsches aus dem Spektrum vernünftigen, politisch akzeptablen Denkens war keineswegs ein einsame machtgestützte Vorgabe der Obrigkeit. Im Mainstream der Abneigung gegen Nietzsche fanden sich immer harte M/L-Dogmatiker, ironie- und bildungsscheue Akademiker aller Fakultäten, positivistische Begriffsdenker und neue Sozialphilister zusammen. Sie hätten einen nietzschefeindlichen Mainstream auch wohl bestritten, – denn der Philosoph war ja nicht offiziell verboten, sein Nachlass in Weimar war seit Mitte der fünfziger Jahre frei für die (westliche) Forschung. In Weimar begannen Giorgio Colli und Mazzino Montinari (seit 1960) – allerdings klandestin! – eine neue text-kritische Nietzsche-Edition vorzubereiten, man konnte ältere Ausgaben überall antiquarisch erwerben und seit den Achtzigern waren sogar sporadisch verständige Beiträge zu seinem Werk in DDR-Journalen zu lesen. Es gab 1983 eine außerordentliche Habil.-Schrift an der Humboldt Universität (Von der anspornenden Verachtung der Zeit von Renate Reschke) und der Verlag ›Edition Leipzig‹ gab 1985 eine prächtige Faksimile-Ausgabe von Nietzsches Ecce Homo heraus. Ortskundige waren immer mal unterwegs zu Nietzsches Geburts- und Begräbnisort in Röcken, in Weimar und Naumburg, sowie zu seinen Leipziger Adressen. Das alles blieb im Privaten, auch das dann doch aufbrechende Interesse erreichte kaum die akademische Öffentlichkeit. So blieb der Bann über Nietzsche bis 1989 ungebrochen. Alle Editionsversuche zu Nietzsche bei Reclam Leipzig oder im Aufbau Verlag blieben unrealisiert. Die Wiederentdeckung eines Unvergessenen geschah in der DDR erst nach 1990 …
Am Umgang der Linken mit Nietzsche erkennt man idealtypisch das Verfahren jener heute so genannten Cancel Culture, deren Bewegung vom Verdacht zum Tribunal (und zur Justifizierung) zeitübergreifend einer Gefühls-›Logik‹ folgt. Es beginnt mit unbestimmten Eindrücken normativer Abweichung: Das Inkriminierte sei nicht mehr ›zeitgemäß‹, seine begriffliche oder äußerliche Gestalt habe zu viel oder zu wenig Eigensinn, paradoxe Rezeptionsgeschichte (ganz unterschiedlicher Provenienz) oder pauschale majorative Abneigung. Dann wird auf eine ›inzwischen-allen-deutliche‹ Störung verwiesen, das Inkriminierte wird als ›umstritten‹ definiert. Davon distanziert man sich… (in Redaktionen, Messen, Lesungen, Gesprächen). Die Zusammenhänge zwischen diesen einzelnen Umständen werden dann als gefühlt kausale, objektive Sachverhalte imaginiert; Machtzusammenhänge scheinen – heutzutage – nicht zu obwalten. Das war in der Frühform der Cancel Culture, als die Argusaugen (staatlicher) Zensur noch offen waren, ganz anders, wie man auf der Suche nach Sarah T. bemerken kann.
[Matthias Steinbach: »Also sprach Sarah Tustra« Nietzsches sozialistische Irrfahrten. Halle (Mitteldeutscher Verlag) 2020, 286 Seiten]