Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich vor dem Einstein

zeigte sich ein Freund befremdet von einem Radio-Morgenkolumnist, der uns schlicht nahelegte, den Autismus des heiligen Kindes Greta als Chance für die anstehende Heilung der Gesellschaft (weil die Gesellschaft jetzt selber pathogen sei) zu begreifen: Einige Probleme, mit denen ›Asperger‹ zurechtkommen müssten, sollten neue allgemeine Verhaltens- und Begegnungsformen werden; sie sollten eingeübt werden als Mittel zu unbestimmt – guten – Zwecken. Das beträfe u.a. deren (uns zunächst als egozentrisch wahrgenommene) soziale Interaktionen und Kommunikation; ihr schroffes, von wenig mitmenschlicher Empathie getragenes ›überreifes‹ Sonder-Selbstbewusstsein mache uns alle erst sensibel für die allmächtigen Probleme unserer Welt…

Der Asperger-Vorteil: Er zerstöre oder schwäche althergebrachte Vorbehalte von Sitte, Benehmen, Wissen und Verstehen, auch Pflicht und Recht in den künftigen Auseinandersetzungen, es mache unempfindlich für (unnütze) Fragen und (falsche) Entscheidungen Anderer, gegen deren Duldsamkeit und ›Toleranz‹ – egal, ob auch die Anderen unbestimmt als die Gesellschaft erscheinen. Attackiert deren Konventionen, da es doch um den Erhalt-der-Welt gehe. Und man hätte jetzt bei der Aufrüstung ›unseres‹ (links-grünen) polemisch-kritischen Vermögens mit der (ehemals bloß einzelnen) Thunbergschen Neurodiversität die Chance, sich gewissermaßen mit einem natürlichen Grund zu legitimieren (chemisch in Balance zu halten!). Und so würde man – wie jene ›Andersklugen‹ – auch immun werden gegen Spott, Sarkasmus, Ironie angesichts – aus der Sicht der Anderen – ziemlich sachfremder Warnungen, Überzeugungen oder Dekonstruktionen bisheriger allgemeiner Wirtschafts- oder Lebensart.

Zweierlei wäre bei der ›Übernahme‹ neurodiverser Symptome zu bedenken:
a. Diese (kulturalistische) Entpathologisierung einer anerkannten Krankheit würde sie instrumentalisierbar machen, und so wären die Würde und die Persönlichkeit derer verletzt, die sie als Schicksal zu tragen gezwungen sind, und
b. wäre die Hoffnung verfehlt, damit den allgemeinen inklusiven Imperativ (seit der Aufklärung) des Habe-Mut-dich-deines-Verstandes-zu-bedienen jetzt mit einem neuen, divers-empirisch (die versus wir) bestimmen How-dare-you unterlaufen oder substituieren zu können. Zu begreifen wäre: Selber denken ist keine Sonderbegabung! Auch kein aus-der-Art-fallendes Denken. Hier widerstreiten Selberdenken mit Einzeldenken oder, mit Molière:

»Alceste: Denn ohne Rücksicht nehm ichs auf mit jedermann, Je länger ich ringsum das Treiben mir betrachte, je mehr wird mir bewußt, wie ichs verachte. Der ganzen Menschheit drängts mich Fehde anzusagen!
Philinte: Ihr philosophischer Zorn glüht, dünkt mich, doch zu heiß. Verzeihn Sie, wenn dazu ich nur zu lächeln weiß.« (Le Misanthrope, I,1)

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