… neulich im Einstein
waren von überall her wieder einmal Meldungen zu lesen, die die geistig-praktische Disposition berühren, ohne die ein freiheitlich selbstbestimmtes Leben in der Moderne nicht möglich ist: den First Amendment. Dieser krönt seit 1791 den Grundrechtekatalog aller parlamentarisch-demokratischen Gemeinwesen, er macht den spirituellen Kern dessen aus, was wir ›den Westen‹ nennen. – Wenn wir als Freie in Freiheit miteinander leben wollen, sollten wir alle Versuche abwehren, die unbedingte Geltung dieser Norm einschränken zu wollen.
Eine bedingte Meinungsfreiheit ist keine! Weder moralische, noch religiöse Gründe, natürlich auch nicht Mehrheiten oder Stimmungs- und Notlagen dürfen die bedingungslose Geltung von Meinungsfreiheit zur Disposition stellen. Wenn nicht mehr jedem die Freiheit zugestanden wird, zu denken was er will und zu sagen was er denkt, beginnt damit die Zerstörung der geistigen wie der geistlichen Räume unseres Lebens. Das würde uns – als absurdes retour de la nature – in den Zustand natürlicher Gewalt gegeneinander führen (wer mehr Gegendemonstranten aufbringt gewinnt, auf der Straße wie im Hörsaal).
Nun wird schon massenhaft gegen die Geltung des First Amendment gehandelt: in Harvard wird ein (afroamerikanischer) Studenten-Dekan (Ronald Sullivan) abgesetzt, seine Frau, ebenfalls Professorin in Harvard, musste sogar die Universität verlassen. Der Grund: #Me-Too-Aktivistinnen wollen ihr einen ›Denkzettel‹ verpassen, weil ihr Mann Ronald ein Anwaltsteam juristisch beraten wollte (was sein Job ist), aber der Mandant jener Anwälte ist : Harvey Weinstein. Dass Sullivan ein fachlich und (bisher) auch politisch unangefochtenes Ansehen genoss – er wurde vor zehn Jahren als überhaupt erster afroamerikanischer Dekan in Harvard berufen – spielt bei den vor allem studentischen Attacken gegen ihn gar keine Rolle mehr. Dass sich überhaupt ›Studierende‹ gegen die Meinungs- und Redefreiheit aussprechen, ist schon grotesk genug, aber auch die Universitätsleitung hat das in seiner Grundfreiheit angegriffene Professorenpaar allein gelassen. – Nun hat diese bedeutende Universität gerade eben einen doctor honoris causa an die deutsche Bundeskanzlerin verliehen. Einen besseren Ort, um an die ›im Westen‹ allem zugrunde liegende Norm der Meinungsfreiheit zu erinnern, als hier, am Ort ihrer Begründung, hätte die Laureatin nicht finden können. – Wo immer sie auf ihren Reisen politischen Ordnungen begegnete, in denen die Meinungs- und Denkfreiheit wenig gilt, hat sie immerhin gelegentlich ihren Einspruch hörbar gemacht oder Freunde der Freiheit kontaktiert. Nicht so in Harvard, wo ein empathischer Besuch bei den Sullivans sie wenig gekostet hätte …
Wenn selbst in Harvard jener First Amendment auf aggressives Unbehagen stößt (der Jurist Alan Dershowitz fühlte sich an die McCarthy-Ära erinnert), wie könnte da die junge Pflanze ›Rechtstaat‹ in den neuen Bundesländern unberührt bleiben (vom jeweiligen Großen-Bruder-lernen-heißt-siegen-lernen …). Und so schwelgen auch hier die sogenannten Intellektuellen mehrheitlich (Majorität ist ihr Medium) im Gefühlten, Gutgemeinten, Gemeinschaftlichen anstatt im Gesollten von Grundrechten als Lebendigem der Polis. Und so darf man erschrecken, wenn versucht wird, eine Bibliothekarin der Kunsthochschule Dresden aus ihrer Stelle zu mobben, weil das, was sie sich zu denken erlaubt, nicht mit dem qualifizierten Denken der jungen Künstler kompatibel ist. Oder wenn man hören muss, dass eine (die 26.) Leipziger Kunstausstellung abgesagt wird, – nicht weil ein Maler miserabel gemalt hätte, sondern weil einer eine Gesinnung offenbart hat, die den Anderen, den-Vielen fremd und ›gefährlich‹ bleibt. – Gilt also schon wieder nicht mehr jenes Diktum Voltaires: Certainement qui est en droit de vous rendre absurde est en droit de vous rendre injuste?