Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein

fiel mir der zeitungeistige Spruch einer jungen Sängerin (Miley Cyrus) auf: sie könne sich nicht mehr als Junge oder Mädchen identifizieren … Also: keiner ihrer – nehmt nur das Minimum: fünf – Sinne hat offensichtlich so viel Energie, ihr im Kontakt mit sich selbst und anderen ins Bewusstsein zu bringen: A ist nicht gleich A. – Sind ihre Ohren, die Zunge, die Fingerspitzen, Augen und Nase so eingeschränkt konditioniert, dass sie nur noch – ja, was? – wahrnimmt? Sollte sie sich mit diesem Befund (solange es noch geht) nicht an Oliver Sacks wenden? Der könnte ihr die Stellen zeigen, an denen etwas ›verpappt‹ oder ausgefallen ist…

Wer ist, der weder-noch ist? Macht sich hier ein neuerdings erhobener vornehmer Ton im Netz bemerkbar? Ist das die (verschwiegene) Pointe der Phänomenologie? – Hier werden das Allgemeine, der Vergleich, die Subsumtion zum Schaden des Einzelnen ausgeschieden.

Aber an das Eine denken auch Diejenigen, die fortan differenzlose, wenngleich expressive Zuneigungen, Liebe (zu wem auch immer) als Himmelsmacht, mit himmlisch-sakralen Verwaltungsformeln adeln wollen. Sind gegenwärtig zwar jene Sakramente hierzulande als kulturelle Auslaufmuster ganz aus dem spirituellen Haushalt vieler der ›BetroffXInnen‹ ausgegliedert, so gibt es doch bei diesem einen Punkt nostalgisch-museale Passionen. – Die allerdings erinnern mich an einen Witz aus der Zeit, als die Alternative noch rot war: es war in Sowjetrussland anfänglich noch möglich, sogenannte ›bürgerliche‹ Philosophen im Hörsaal zu erleben. Aus der Vorlesung einer jener inkriminierten Lehrkräfte kommt ein junger, atheistisch enthusiasmierter Kursant zu Lenin und klagt, sein Professor – er hat’s selber gesagt – glaube an Gott. Lenin will beschwichtigen: das sei nicht so schlimm, er glaube an einen ›philosophischen‹ Gott. Nein, Genosse Lenin, triumphierte das Erstsemester, er glaubt an den wirklichen Gott!

Natürlich, heute scheint alles Eins – philosophischer, wirklicher, toter Gott. Heute sind Glaube und Wahn so wenig unterscheidbar wie ›Jungs‹ & ›Mädels‹ durch die schöne Miley … Im Shitstorm ›politisch-korrekter‹ Rede erscheint alles naturfern & referenzlos, alles geistig und traditionell Überkommene wird unterschiedslos als kulturelles Konstrukt imaginier- und manipulierbar. Dass aber gerade kulturelle Leistungen und Traditionen als Konstruktionen uns Konstrukteuren einen tiefen Sinn vermitteln für den Unterschied von Gemachtem und Nichtverfügbarem, fürs Allgemeine und Besondere, für ›richtige‹ und ›falsche‹ Konstruktionen, auch für Grenzen von Konstruktionen, bleibt jener abfertigenden Rede vom Alles-ist-nur-konstruiert völlig fremd. – Wahrscheinlich gibt es, grünalternativ, die volkspädagogische Vermutung, wenn man nur das Phänomen der Differenz aus dem massenmedialen Sprach- &Webspiel herausphantasierte, dann gäbe es – natürlich! – auch keine wirklichen Differenzen mehr (das heißt Homophobie ist heilbar, – mit semantischer Homöopathie).

Steffen Dietzsch

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