… neulich im Einstein
war das Entsetzen noch groß über den Massenmord bei Oslo. Das wirkliche Erschrecken darüber zeigte sich auch momentan an der Unbeholfenheit, dies ausdrücken zu können; viele Kommentare erschöpfen sich in redundanten Floskeln (grausige Untat, schreckliche Tragödie) der Trauer oder man klagt über die Unbegreifbarkeit der rechtsradikal-extremistischen Motivlage des Täters. – Aber mit psychologischen oder aktuell-politischen Analysen wird man letztlich das Handeln solcher Mutanten nicht ganz verstehen. In ihnen ist nämlich etwas virulent, das vielen von uns allen alltäglich zunächst ganz normal vorkommt: die Idee der Reinheit. Die aber offenbart sofort ihr pathogenes Potential, wenn man sie aus hygienischen Praktiken herauslöst und sie als zivilisationskritische Zentralkategorie überfordert.
Das aber ist seit dem XX. Jahrhundert eine tiefsitzende Praxis in der Kapitalismus- und Modernekritik. Unter den verschiedensten geistigen Auspizien wurde vor dem Schmutz und der Unnatur im heutigen menschlichen Zusammenleben gewarnt und es zu verändern versprochen. Der sendero luminoso – leuchtender Pfad – aus der Tragödie dieser modernen politisch und geistig pathologischen Kultur war zwar ganz unterschiedlich gepflastert, aber er wurde immer mit Blut gewaschen. In Erinnerung sind uns die bolschewistische Tschistka mit ihren prolt-arischen Reinigungsorgien, der Rasse- & Blutreinheitswahn europäischer Nationalsozialisten, auch der die urbane (Un)Kultur vernichtende – ›rousseauistische‹ – Dorf- & Landarbeitsschrecken der Pol-Potisten ist uns in gruseliger Erinnerung und natürlich heute der lange Marsch zu einem islamischen Welt-Kalifat, der weltweit über die Leichen der Ungläubigen führt. – All diese Heilspraktiker wollten und wollen allerorts Weltverschwörungen aufdecken und vergelten. Just in diese Tradition gehört diese unsoldatische Tat jenes jungen, ungedienten, heilsversponnenen Psychotikers.
(25. Juli 2011)
Steffen Dietzsch