...neulich im Einstein
legte mir ein Freund das letzte Heft der Akademie-Zeitschrift spectrum (Heft 12/1990) auf den Tisch. Hier las ich meinen eigenen Nachruf: »Wir irren uns empor — in diesem kritisch-rationalistischen Quietiv stecken gleich mehrere falsche Beobachtungen, richtig daran aber ist die Wahrnehmung eines Prozesshaften, Genetischen, eines ›Stirb und Werde‹.
Eingeübt und eingerichtet ins falsche Bewusstsein von einer Entwicklung ›vom Niederen zum Höheren‹ und im Umgang mit sedativen Metaphern wie der von der Revolution als ›Lokomotive der Geschichte‹ (nachdenkliche Dissidenten des Fortschrittsglaubens wollten demgegenüber immerhin noch Revolutionen als ›Notbremse‹ an jenem Zug der Zeit verstanden wissen), vergaßen wir Freunde des Fortschritts größernteils, dass Fortschreiten auch eine Entfernung von Etwas mit sich bringt, ein Verlassen, ein Alleinbleiben. Und so wie wir damals über jene höhnten, die das Vergangene nicht wie wir als abgetan, entwertet, als das Überwundene (Besiegte), als bloß niedere Stufe im Blick zu uns betrachteten und verachteten — noch in unserer beständigen Rede über Vergangenes als ›Erbe‹ war ja doch unüberhörbar, dass es sich nur um je tote Hinterlassenschaft von Toten handeln konnte (die man je nach politischer Opportunität mehr oder weniger zu fleddern hatte) —, so stehen wir heute blamiert und verächtlich da mit unserem real-sozialistischen Glauben ans Fertigsein angesichts des schnellen Verblassens schier unverrückbarer Perspektiven und verschwindender Horizonte.
Diese leidvolle Erfahrung des Verschwindens haben in diesem — bald verschwundenen — 20. Jahrhundert wir Deutsche unterschiedlichster politischer Couleur immer wieder einmal machen müssen — als Monarchisten 1918, als Republikaner 1933, als Nazis 1945 und zuletzt als Realsozialisten 1989; gleichwohl ist diese Verschwindenserfahrung nicht eine der periodischen Wiederkehr des Gleichen: das Gleiche — das Verschwinden — trat auf in zwei gegensätzlichen Modifikationen, einmal als (welterschütternde) Tragödie, nämlich als Ende des vom Volk bis zum Ende mit Identitätsbewusstsein getragenen Nationalsozialismus und einmal als (zwerchfellerschütternde) Farce, nämlich als Verschwinden des vom Volk von Anfang an nicht mit sich als identisch angesehenen Realsozialismus.
Der Sozialismus oder auch bloß die Idee des Sozialismus verschwindet aus der Wirklichkeit und aus dem wirklichen Denken — er wird entweder für die Gebildeten unter seinen Verächtern wieder — bestenfalls — genommen als eine ›moderne Idee neben anderen, und zwar in der Regel als ein Stück »jenes Optimismus, der unter den wunderlichsten Formen, bald als Sozialismus, bald als Totenverbrennung, bald als Pflanzenkostlehre und unter unzähligen Formen immer wieder auftaucht« (Nietzsche an von Gersdorff, vom 28.9.1869) bzw. für die Idealisten unter seinen Verehrern rückt er nun endgültig ein ins Pantheon unsterblicher Ideen, wie — mit Verlaub — die Bergpredigt und die verschiedensten Paradiesvorstellungen der Natur- und Hochreligionen etc. — unerreichbar, unkritisierbar, uneinklagbar, unmachbar, aber doch oder gerade deshalb ein stabiles Regulativ kritischen, gesinnungs-ethischen Verhaltens. Mit dem Verschwinden des Sozialismus ist aber nicht nur (wie bei den Abgängen von 1918, 1933 und 1945) eine mehr oder weniger schmerzvolle Metamorphose etwa der staatlich-gesellschaftlichen Grundstrukturen verbunden, sondern hier verschwindet zusammen mit der mehr oder minder dürftigen Realität (in Ökonomie, Verwaltung, Kunst, Literatur, Wissenschaft und Militär) vor allem auch eine veritable Geschichtsphilosophie, die nun ihrerseits viel älter ist als der Realsozialismus — ziemlich einmalig im Welttheater der Geschichte, dass mit dem Ende des schlechten Stückes auch zugleich der Text verschwunden ist (der Traum jedes geplagten Intendanten). Allerdings: Die besondere Komik jener Komödie vom Ende des Realsozialismus bestand in dem Paradox, dass jene lächerlichen Ideologen — die die Verfasser und Schausteller jener Farce zugleich waren — selber gar keinen Sinn fürs Lachen hatten (nun gut, sie hatten auch je kaum etwas zu lachen), besonders nicht am Ende, als es besonders viel zu lachen gab. Dabei war diese realsozialistische definite Situation (vor Jahresfrist), also kurz vorm ›Verklappen‹ als historisches Abprodukt ins Meer der Geschichte, nahezu die klassische Konstellation für eine Definition dessen, was man unter ›Witz‹ zu verstehen hätte: »Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 54)
So von den Furien des Verschwindens heimgesucht, konfrontiert mit dem Ende aller Dinge (zumindest derjenigen, die uns heilig waren), bleibt uns für die Rüstzeit, die uns nun — wahrscheinlich überlang — gegeben wird, doch das eine, dass wir dabei uns begreifen lernen als — mit den Worten des Röckener Meisters — die »Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes — vielleicht dass, wenn auch nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!« (F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)
Steffen Dietzsch