Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein

traf ich einen guten Bekannten, Martin S., – der schob mir lachend zwei Zeitungsseiten aus zwei Berliner Blättern hin, die ein und dasselbe Bild präsentierten … fast ein und dasselbe Bild!

Die taz und der Tagesspiegel (jeweils vom 2.11.) gedachten des gerade verstorbenen Günter Schabowski (proletsprachlich Berlinschabe). Beide illustrierten das (beide auf S. 3) mit der gleichen Fotografie … der fast gleichen. Es handelt sich um den Schnappschuss von einer Demonstration, die am Freitagabend, des 10. November 1989 im Berliner Lustgarten stattfand. Beide Fotografien zeigen mit fast demselben Ausschnitt eine Personengruppe (im kämpferisch-applaudierenden Modus). – Man erkennt im linken Vordergrund den gerade Verstorbenen, auch den gerade neu installierten Staatsratsvorsitzenden, den FDJ-Chef und andere, deren Namen nur noch Bürgerrechtler und Historiker kennen.

Die Fotografien sind nicht zwei Abzüge derselben Aufnahme, sondern im Abstand weniger Augenblicke aufgenommen worden. Dieser Unterschied machte noch nicht die zum Lachen reizende ›Doppel‹-Fotografie aus. Freund Martin sah mich fragend an: Merkst Du nichts? – Wo, zum Teufel, kommt auf einmal im Bild der taz der Gott-sei-bei-uns Gregor Gysi her? Er kommt wie Kai-aus-der-Kiste hinter Staatsrat Krenz und vor FDJ-Aurich zu stehen! – Im Tagesspiegel aber ist er nicht unter der Emeute. Hier klafft eine Lücke zwischen den Bonzen. Ist er – sich erschreckt umblickend – abgetaucht? Bückt Gregor sich gerade, um sich die Schnürsenkel zu binden? Ist er Pinkeln gegangen? – Es erhebt sich also die Frage, die schon der russische Kinderbuchautor Samuil Jakowlevitch Marschak (1887-1964) in seiner Sowjetsatire Die sieben Sachen gestellt hatte: Genossen, wo ist der ganz, ganz kleine Hund? Die wichtigere Frage aber ist: wo kommt der Genosse G. her? Etwa – man will es nicht glauben – aus der Dunkelkammer des Josef Wissarionowitsch? Von ihm kennt man ja diesen neuen Typus von Fotografie, wo sich – je nach Parteilinie – auch auf historischen Portraitfotos wundersam immer die gerade currente Personage tummelt…

Was stört im Bild der taz? Zunächst, dass der Genosse G. nach der Demonstration und seiner Rede am vergangenen Samstag, am 4. 11. [die beste Staatssicherheit ist Rechtssicherheit], jetzt, eine Woche später schon wieder unter den alten Genossen kungelt? Dass er eigentlich, schon hierarchiemäßig, gar nicht in die Runde der alten Politbürokraten hineingehört? – Auch Äußerlichkeiten machen stutzig: alle anderen der abgebildeten Kohorte tragen Mäntel, Gysi steht mit seinem Anzug irgendwie underdressed in ihrer Runde im Freien. Er verschränkt die Arme, die anderen sind kämpferisch.

Die Quelle beider Fotografien ist die Firma imago, bei der taz mit der namentlichen Ergänzung Werner Schulz.

Also: erklärt uns mal den Gysi! Wer hat ihn reinmontiert, wer hat ihn rausgelöscht?

Steffen Dietzsch

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