… neulich bei Einstein Bros.
(wieder mal in Boulder/Col.), am Memorial Day (etabliert seit 1868), wurde mir die – ja, so würde ich es bezeichnen – wirklich emanzipatorische Dimension der offiziellen Erinnerungsvielfalt hierzulande deutlich, insofern sie sich auf das eigene Herkommen bezieht. Wenn man das charakterisieren wollte, so müsste man es eine robuste Erinnerungskultur nennen. Die stellt das Erinnern an unterschiedlich zu bewertende, individuelle Personen in ihren Hoffnungen, Absichten und auch Scheitern vors Angesicht der Öffentlichkeit, – und nicht nur die ›Sieger der Geschichte‹.
In anderen Regionen der Welt würden viele von ihnen von einem Tribunal der political correctness aussortiert. Was heißt das? – Ein Beispiel könnte es verdeutlichen. Entlang der breiten Allee, die beispielsweise in Austin zum Texas State Capitol führt, wurden (schon 1907) rund ein Dutzend Monumente errichtet zur Erinnerung an markante Persönlichkeiten, die in der Geschichte dieses Staates im Süden (seit 1836) so oder so eine Rolle spielten. Es zeigt Politiker und Militärs, die sich für diesen Südstaat, der eine markante Rolle in der Südstaaten-Konföderation (die im Civil War 1861-65 gipfelten) spielte, in die Schanze schlugen.
An einem Denkmal eines Generals jener Konföderierten Armee (Joseph Wheeler), ist in Bronze gegossen sein letzter Befehl (vom 24. April 1865) an seine Truppe in Erinnerung gebracht, die sich tapfer für ihre – verlorene – Sache eingesetzt hatte: »Gallant Comrades: You have fought your fight. Your task is done. The bones of your comrades mark the battlefields of Kentucky, Tennessee, North Carolina, South Carolina, Georgia, Alabama, and Mississippi. You have done all that human exertions could accomplish. In bidding you adieu I desire to tender my thanks for your gallantry in battle, your fortitude under suffering, and your devotion at all times to the holy cause you have done so much to maintain. I desire also to express my gratitude for the kind feeling you have seen fit to extend to myself and to invoke upon you the blessings of our Heavenly Father in the cause of freedom. Comrades in arms, I bid you farewell.«
Der Memorial-Day war ursprünglich ein Tag der Erinnerung an die Gefallenen der Unionsarmee, wandelte sich aber sehr schnell zur ehrenden Erinnerung aller auf beiden Seiten gefallenen Kämpfer, egal wie deren Einsatz später im Auf und Ab des öffentlichen Diskurses in der Gesellschaft bewertet wurde.
Was kann diese integrative Erinnerungsart gerade uns Deutschen heute vermitteln? Eines vielleicht, dass Erinnerungen nicht in (natürlich nie endende!) Reueprozesse und Reueaufrufe verwickelt werden sollten, denn auf diese Art werden sie in eine imaginäre (in ständiger Bewältigung stehende) Gegenwart 2.0 zu beliebigen Zwecken verwandelt und dadurch letztlich alltagspraktisch zum Verschwinden gebracht. Als Beispiel einer solchen – neudeutschen – ›Aufarbeitung‹ wäre auf den tribunalistischen Umgang zu verweisen, durch den ein deutscher Kriegsheld (aus dem I. Weltkrieg! – der Sieger von Tannenberg – mit auch von alten Kriegsgegnern anerkannter militärischer Leistung) mit einer moralischen, neuerdings ›facebookhaften‹ ›gefällt mir – gefällt mir nicht‹-Entscheidung aus den deutschen Stadtbildern verschwinden soll.
Wir können aufs Vergangene (egal, ob es vergehen will oder nicht …) sowieso nicht mehr unmittelbar – wie weiland auf ein Medusenhaupt – schauen, sondern immer nur mittelbar, im Spiegel unseres jeweiligen Selbst. Damit aber ist eine einheitliche, moralisch-reine, jeweils parlamentarisch akzeptierte tagesaktuelle Sicht (moralischer, genderkorrekter oder parteienproportionaler Observanz) aufs Geschehen
von ehedem durch die Vielfältigkeit der Sache selber eigentlich ausgeschlossen.
Steffen Dietzsch