…neulich im Einstein
als ich mich wieder einmal mit Magda, einer polnischen Kollegin aus der Fakultät, traf, um ihre Fortschritte in deutscher Philosophie zu begießen, hatte sie den eben in der Warschauer Terminus-Reihe erschienenen Marquard-Band Aestetica i anaestetica (vol. 46) mitgebracht.
Meine Seminarmarotte, nach dem jeweiligen ›Schlüsselsatz‹ eines Textes (den ich den ›Jakob-Taubes-Satz‹ nenne) zu fragen, wendete sie sofort gegen mich: Wenn ich Marquards bunten Blütenkranz von philosophischen Einfällen (von der Apologie des Zufalls bis zur Philosophie des Stattdessen) auf ein Diktum zu bringen hätte, wie hieße das?
Das, was mir sofort einfiel, war etwas, das gerade auch dem neuesten deutsch-polnischen Diskurs not täte: Lasst doch bitte die Kirche im Dorf! Damit ist alltagssprachlich ausgedrückt, was mir an Odo Marquard immer gefallen hat: sein flaneurhaft leiser Einspruch gegen alle schrillen Überdramatisierungen in unserer geschichtlichen Existenz. Dies ist, glaube ich, die Pointe von Marquards geistiger Haltung als Verweigerungsverweigerer, als einer, der sich dem Außerordentlichkeitsbedarf entzieht, der sowohl den Krisenstolz veralbert als auch die Angstübertreibung als Luxusreaktion – kurzum einer, der Nietzsches Hinweis, dass »alle felsenfesten Überzeugungen ins Irrenhaus« gehören, würdigen kann.
Ich konnte Magda erzählen, wie Odo Marquard mit seinem Aufsatz zur Philosophie als Inkompetenzkompensationskompetenz uns seinerzeit (Mitte der Siebziger) in Leipzig momentan aus dem – mit Kant gesprochen – »dogmatischen Schlummer« gerissen hatte. Wir kugelten uns vor Lachen, als wir dann wieder auf die ideologischen Könige sahen und bemerkten, dass sie alle nackt waren… Wir gingen als ›Marquardianer‹ ins Exil der Heiterkeit. So waren wir seither resistent gegen geistige Ausnahmezustände, Erlösungsphantasien und ihre Propheten (rote, grüne oder religiöse).
Odo Marquard verkörpert, selten bei seinesgleichen auf deutschen Kathedern, die singuläre Verbindung von traditioneller Gelehrsamkeit und moderner Fabulierkunst. Er ist ein selbstironisch unzeitgemäßer Bürger. Ein längerer Blick auf die Geschichte seiner philosophischen Bildung wäre allerdings lohnend: man erführe etwas über die freiheitlichen Potenzen der neuen zivilgesellschaftlichen parlamentarischen Demokratie in Deutschland nach dessen Zusammenbruch.
Also: Ein Hoch aus dem Einstein in der Kurfürstenstraße auf den Citoyen von Gießen!
Steffen Dietzsch