von Helge Buttkereit
Die Linke in der alten Bundesrepublik hat den Notstand immer bekämpft. In den 1960er Jahren mobilisierte alte und neue Linke gemeinsam gegen die Notstandsgesetze, in den 1970er Jahren gegen den Atomstaat und bis in die 1980er Jahre ging es immer wieder gegen den ›Notstand der Demokratie‹. Wer so lange aktiv ist wie Peter Nowak, der erinnert sich daran. Angesichts der aktuellen Krise konstatiert er: Diese Zeit sei vorbei, der Notstand sei auch in der Linken und bei den Linksliberalen salonfähig geworden, als sie überall den Klimanotstand ausrufen ließen.
von Johannes R. Kandel
Der Autor (Jahrgang 1971), Philosoph, Germanist und Soziologe und bereits mit einigen Veröffentlichungen in seinem Fach hervorgetreten, macht es dem geneigten Leser nicht einfach. Dieser muss sich erst, insofern nicht vom Fach, in die tiefendimensionierte philosophisch-soziologische Sprache einlesen. Gelingt dies, dann wird er größten Gewinn aus dieser ambitionierten Analyse eines erstaunlichen und verstörenden Vorgangs in unserer Gesellschaft ziehen. Es gelingt ganz offensichtlich einer »Phalanx aller gesellschaftlichen Akteure von den Parteien bis zum Bildungssystem, von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften, von den Industrieverbänden bis zu den Nichtregierungsorganisationen« eine politische Agenda durchzusetzen, die »den Interessen der Mehrheit eklatant widerspricht« und deren »zerstörerische Folgen« offensichtlich sind (S. 7). Wie ist das möglich? Esders begründet das mit der Existenz eines umfassenden »Sprach- und Deutungsregime[s]«, das in der Lage ist »Evidenzen« zu liefern gegen die empirische Widerlegungen keine Chance haben. Ein sich immer stärker artikulierender »smarter Totalitarismus der Vielfalt und Differenz« bediene sich eines Sprachregimes, das in dreifacher Weise funktioniere: Da Macht auch immer »Definitions-und Deutungsmacht« sei, bilde es »Wahrheitssysteme« aus, entkoppelt und entortet von der empirischen Realität (I). »Narrative der Hypermoral« erzeugten einen Zwang zur Personalisierung und förderten schon »strukturell eine schrankenlose Gesinnnungsethik« (II). Und schließlich: die postmoderne Linke schaffe eine »Matrix der Differenz«, die alle Formen von Identität und »kollektivem Selbst« unter Generalverdacht stelle (III). (S.9). Einem Kritiker und Kenner der Geschichte und Entwicklung von Totalitarismustheorien wird gewiss die Formel vom ›smarten Totalitarismus‹ übel aufstoßen. Es hätte auch dieses Ausdrucks gar nicht bedurft, um deutlich zu machen, wie sich ideologisch konstruierte Wahrheitssysteme von der Realität abdichten und abkapseln (Hanna Arendt). Aber davon abgesehen, gelingt es dem Autor insgesamt mit brillianten Formulierungen, die sich bisweilen zu einem Wort- und Satzmanierismus steigern, seine grundlegende Hypothese von der Existenz eines ›Sprachregimes‹ plausibel zu belegen.
Ferda Ataman ist Publizistin und Sprecherin der ›Neuen Deutschen Organisationen‹, einem bundesweiten Netzwerk von Vereinen und Initiativen mit Migrationshintergrund. Im Sommer ist ihr Buch Ich bin von hier! Hört auf zu fragen. erschienen. Das Buch ist eine ›Streitschrift‹ für die Neuen Deutschen, wie sie sich selbst nennen. Hierin expliziert die Autorin den Anspruch der Neuen Deutschen auf Anerkennung als vollwertige Deutsche, auf gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen, darauf, dass Deutschland »auch unser Land« ist und deswegen ein neues Leitbild von Deutschland und von Integration vonnöten sei. Das leicht lesbar geschriebene Buch führt »Fünf Missverständnisse im Einwanderungsland« aus und »Fünf Vorschläge, wie es weitergehen kann«.
Die folgende Kritik konzentriert sich auf die zentralen Aspekte des Buches: »Was ist Deutschsein?«, ein neues ›Narrativ‹ von Migration und Integration und den durchgängigen Rassismusvorwurf gegenüber denen, die Deutschsein auch mit Abstammung und Volk bzw. Nation in Verbindung bringen.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G