von Gunter Weißgerber
Arthur M. Schlesinger (1917-2007), Sandra Kostner und Paul Nellen mögen mir verzeihen, dass ich mit Carl Schurz beginne. Ich denke, das hat sich der badische 1848er Revolutionär und spätere US-Innenminister (1877-1881) redlich verdient. Der sich das (US-)amerikanische Versprechen auf Teilhabe und Wohlstand tatkräftig im Sinne der Gründerväter erfüllte.
Ohnehin ist er in deutschen Landen leider fast vergessen. Er sollte wieder einmal in die Hand genommen werden. Wie seine oben zitierten Bemerkungen unter Beweis stellen. Wie war das in den Anfängen der heutigen leicht wankenden westlichen Führungsmacht, ohne die ich mir unsere Freiheit, unsere Idee staatlicher Gewaltenteilung nicht gesichert denken kann? Wie war das vor dreißig Jahren zu Schlesingers Zeiten und wie ist es heute zwischen Donald Trump und Joe Biden und vor allem zwischen und in den Blöcken ›alte weiße Männer‹ und ›Black Lives Matter‹? Wären es nur die Vereinigten Staaten, könnte man sich gleichgültig zurücklehnen. Es sind aber nicht nur die Vereinigten Staaten, wir alle hängen mit drin. Früher oder später.
Sandra Kostner stellte ihrer deutschen Ausgabe ein Vorwort voran, welches für sich genommen bereits Stoff für ein weiteres Buch zum Thema USA bietet. Sehr lesenswert geht sie auf die »Identitätslinke Läuterungsagenda« ein. Damit bezeichnet sie
»Ein früher Diagnostiker… war der Historiker Arthur M. Schlesinger Jr., der 1991 in seiner so hellsichtigem Schrift The Disuniting of Americavor der ethnischen Spaltung der USA gewarnt hat … Heutzutage sind die USA auf eine Art und Weise gespalten, die wahrscheinlich selbst einen so weitsichtigen Analytiker wie Schlesinger mit Erstaunen erfüllen würde.« (S.8). …
»Zur Illustration nur ein Beispiel: Wenn in den USA ein Afroamerikaner bei einem Polizeieinsatz sein Leben verliert und der kanadische Premierminister Justin Trudeau deshalb auf die Knie geht, tut er dies nicht, weil er mit dieser Demutsgeste seine Schuld für eine von ihm begangene Tat ausdrücken möchte, sondern er tut dies einzig und allein aufgrund seiner Hautfarbe und einer vermeintlich daran gekoppelten Kollektivschuld. Eine solche Geste heißt und soll heißen: Alle Weißen sind schuld am Tode George Floyds, denn ohne Rassismus wäre er noch am Leben.«
Der Übersetzer Paul Nellen nutzt seine Vorbemerkungen um auf die Verständnisprobleme des Begriffs ›Rasse‹ über die Zeiten hinweg aufmerksam zu machen. Für das Verständnis des Stoffs ist das sehr wichtig. Das US-amerikanische ›race‹ ist nicht der Begriff ›Rasse‹, wie er in Deutschland verwendet wird. Auch sind ›Rassentrennung‹ oder ›rassistische Konflikte‹ in den USA keine intendiert diskriminierenden Formulierungen. Sie werden zur Verdeutlichung von Missständen gebraucht. (S. 17).
Nun zu Schlesinger. In seinem Vorwort auf Seite 21 schreibt er
Auf Seite 26 schreibt Schlesinger »E pluribus unum – Eines werden aus Vielen« und meint damit die Vereinigten Staaten in ihrer »brillanten« Ursprungsidee: »die Schaffung einer gänzlich neuen nationalen Identität durch Individuen, die ihre alten Loyalitäten hinter sich ließen ...«. Soweit zur Idee. Die Realität wich und weicht oft genug davon ab. Wie im richtigen Leben halt.
»Der Eindruck verfestigte sich, dass der Schmelztiegel nur ein Mittel war, um anglozentrische Vorstellungen und Werte auf glücklose Migranten zu übertragen … Der Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 machte die Amerikanisierung schließlich zu einer zwingenden Angelegenheit. Sogar einwanderungsfreundliche Präsidenten wie Theodore Roosevelt und Wodrow Wilson waren besorgt, ob ›Bindestrich-Amerikaner‹in einer Krise womöglich stärkere Loyalitäten zu ihrem Herkunftsland empfinden mochten als zu ihrer neuen Heimat.
Drei Tage nach der Versenkung der RMS Luisitania durch ein deutsches U-Boot sprach Wilson in Philadelphia vor einem Publikum von frisch Eingebürgerten. ›Man kann kein vollständiger Amerikaner sein‹, so sagte er, ›wenn man sich selbst nur in Gruppen betrachtet.‹« (S.48/49).
Mehr als zwei Jahrzehnte später formulierte es Franklin D. Roosevelt so: »Das Prinzip, auf das dieses Land gründet und durch das es immer regiert wurde, … , besteht darin, dass der Amerikanismus eine Sache des Herzens und des Verstandes ist, er ist und war niemals eine Sache der Rasse und der Herkunft. Ein guter Amerikaner ist einer, der loyal zu seinem Land steht und zu unserem tiefen Glauben an Freiheit und Demokratie«. (S.51). Präsident Joe Biden mit seiner Förderung der Black Lives Matter Bewegung hat sich aktuell wohl von seinen demokratischen Vorgängern Wilson, Roosevelt und Kennedy (›Frage nicht was dieses Land für dich tut, frage, was Du für dieses Land tun kannst‹) abgenabelt. Wie dieser Großversuch ausgehen wird, werden wir und die US-Amerikaner noch erleben. Good luck, Mr. President!
An dieser Stelle würde ich gern Schlesinger und Tocqueville fragen, ob die Ausrottung der roten Menschen und die Existenz der schwarzen Population vielleicht nicht doch eher den europäischen Zuwanderern seit der Wiederentdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus anzulasten wäre als der frühestens nach 1776 langsam zusammenwachsenden Nation? Ab wann wäre denn redlich von einer US-Nation zu reden, die als Nation ihre Werte mehrheitlich vertrat? Wurde die Sklaverei nicht in den langen Geburtswehen der Nation mittels eines blutigen Bürgerkriegs abgeschafft und wurden den roten Menschen nicht auch erst von der entstehenden Nation – wenn auch zögerlich – die Menschenrechte zuerkannt?
›Eines werden aus vielen‹ (siehe oben) und › … die ihre alten Loyalitäten hinter sich ließen ...‹. (ebenfalls siehe oben) bedeutet doch im Grunde nichts anderes, als dass alle Zuwanderer ihre alte Lebenswelt und Lebenswirklichkeit mit in die Neue Welt brachten. Diese Menschen und ihre Nachkommen waren noch länger Träger der alten europäischen feudalen und halbfeudalen Gesellschafts- und Menschenbilder. Diese Muster gibt man nicht an der Garderobe ab, was wir gerade in Europa vor allem mit den muslimischen Zuwandern der dritten Generation dramatisch bemerken.
Als Europäer, der die Missetaten seiner europäischen Auswanderer durchaus kritisch sieht, denke ich, die US-Amerikaner geben sich hier eine Schuld, wo sie sich eher rühmen könnten: Sie fügten sich in auch gewalttätigen Konflikten selbst Schmerzen zu, um allen Mitgliedern ihrer Nation die Menschenrechte zukommen zu lassen. Einen solchen Selbsthäutungsprozess können nicht viele Nationen dieser Erde von sich behaupten! Mir fällt keine ein. Ich bin stolz, im Herzen auch Amerikaner zu sein. Weder Joe Biden noch Donald Trump vermögen das in mir zu ändern.
– eine Entwicklung, die notwendig und überfällig war. Chapeau!
Doch kam es, wie kommen musste. Oft liegt im Erfolg der Keim des Misserfolgs. Es entstand die Identitätspolitik. Michael Novak (US-amerikanischer Philosoph 1933-2017) »bekräftigte die Notwendigkeit einer Identitätspolitik. Gegen die Vorstellung von Amerika als einer Nation aus Individuen begrüßte Novak das, was er ›die neue ethnische Politik‹ nannte, die so Novak, ›besagt, dass Gruppen die Regeln, Ziele und Verfahren des amerikanischen Lebens strukturieren können‹.
Die Leidenschaft für ›Wurzeln‹ wurde unterstützt durch den ›Dritte-Genertionen-Effekt‹, auch als ›Hansens Gesetz‹ (Marcus Lee Hansen, Pionier der Einwanderungsgeschichte – 1892-1938) bekannt.
An dieser Stelle beende ich meine Rezension und hoffe, neugierig gemacht zu haben. Vor dem Hintergrund der Wechsel von George W. Bush zu Barack Obama, dann zu Donald Trump und jüngst zu Joe Biden lohnt sich die Lektüre Schlesingers. Arthur M. Schlesinger kann es uns nicht mehr beantworten, er kann es uns nicht mehr erläutern, was in den Vereinigten Staaten gerade passiert. Sicher ist, er würde ein kluger Ratgeber und Diskutant sein in schwierigen Zeiten. Sandra Kostner sei Dank, uns das noch einmal nahegebracht zu haben.
Schlesingers klare Sicht auf seine gefährdete Nation ist dreißig Jahre später aktueller denn je. Trotz allen Pessimismus' betont er helle Punkte im scheinbaren Dunkel:
God Bless America! Sage ich als Agnostiker.
Das Inhaltsverzeichnis:
Vorwort von Sandra Kostner, S.7
Vorbemerkung des Übersetzers, S. 17
Vorbemerkungen zur amerikanischen zweiten Ausgabe, S.19
Vorwort, S. 21
1 »Eine neue Rasse«? , S. 37
2 Geschichte als Waffe, S. 57
3 Der Kampf der Schulen, S. 85
4 Der Zerfall Amerikas, S. 113
5 E Pluribus Unum, S. 135
Schlesingers Bücherecke – ein gutes Dutzend Bücher oder: Unerlässliche Lektüre zum Verständnis Amerikas , S. 175
Quellenangaben, S. 189
Korrespondenz zur Rezension:
Richard Schröder am 26. März 2021:
Herzlichen Gruß, Dein Richard.
Gunter Weißgerber an Richard Schröder:
Hier eine Internetquelle zu Las Casas:
»... Einzelne Stimmen, die sich gegen die Indianersklaverei stark machten, darunter Bartolomé de las Casas, empfahlen hingegen die Zwangsarbeit von afrikanischen Sklaven. ....« (https://www.lai.fu-berlin.de/.../lexikon/sklaverei.html)