Falken, Pfadfinder, Alevitische Jugend, Wandervögel und Haschomer Hazair treffen sich mit Blick auf die Geschichte und Zukunft der Jugendbewegung am historischen Ort
von Kay Schweigmann-Greve
Der Mainstream der bürgerlichen Jugendbewegung plant im Oktober mit mehreren tausend Teilnehmern das hundertste Jubiläum des Treffens der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner zu begehen (hierzu vergleiche den Beitrag »Aufbruch der Jugend« - Aber wohin? von Arno Klönne auf dieser Plattform). Progressive Teile der heutigen Jugendbewegung trafen sich bereits Ende August in Weimar im Zeichen dieses hundertsten Jahrestages. Als der Teil der Jugendbewegung, der nicht nur Traditionen pflegt, sondern sich auch der dazugehörigen Inhalte vergewissern will, verband man dies mit einem anderen jugendhistorischen Ereignis, das Ende August 1920 – zu Goethes Geburtstag – in Weimar stattgefunden hatte: Der erste freie Arbeiterjugendtag in Deutschland.
Bereits damals gab historische Bezüge: Während sich die Wandervögel und ihre Freunde 1913 von den offiziellen Einweihungsfeiern des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig distanzieren wollten, traf sich die Arbeiterjugend 1920 in Weimar am Orte der Proklamation der ersten deutschen Demokratie. Hierin lag ein Bekenntnis, das sie von einem Großteil der bürgerlichen Wandervögel jener Jahre unterschied. Der zweite Grund, weshalb man sich in Weimar traf, war das Erbe der deutschen Klassik, »Goethe für Proletarierkinder!« war der Slogan, mit dem die Forderung nach Partizipation aller auch an der deutschen Hochkultur Ausdruck verliehen werden sollte. Keineswegs wollte sich die Arbeiterjugend auf den selbstverständlich wichtigen und zentralen Kampf für bessere materielle Lebensbedingungen und betrieblichen Jugendschutz reduzieren lassen.
1963, vor fünfzig Jahren, fand das erste Gedächtnistreffen auf dem Hohen Meißner statt, bei dem Helmut Gollwitzer eine eindrucksvolle Rede hielt, die dokumentierte, dass die Bünde nunmehr in der Demokratie angekommen waren. Bei ihren heutigen Nachfolgern muss man hier leider einen Rückschritt zur Kenntnis nehmen. Hatte Gollwitzer noch die »Meißnerformel« von 1913 radikal demokratisch interpretiert und alle jungen Menschen zu politischem Engagement in der noch jungen Demokratie aufgefordert, grenzen sich die heutigen Bünde nicht nur angesichts mancher bedenklicher Gruppierungen in angemessener Weise nach Rechtsaußen ab, sie erklärten auch bereits 2010, auf einer der ersten Vorbereitungssitzungen für das kommende Jubiläum, die Erben der Arbeiterjugend – die SJD Die Falken – für unerwünscht. Besonders befremdlich an diesem Beschluss war, dass die »Falken« noch gar nicht nach einer Teilnahme gefragt hatten, selber keinerlei Stellung nehmen konnten und ausdrücklich wegen ihres politischen Engagements nicht dabei sein sollten. Anders als vor fünfzig Jahren scheint das Bewusstsein der Notwendigkeit von politischem Engagement für den Fortbestand einer Demokratie dort heute weniger verbreitet zu sein. Umso erfreulicher war, dass dann 2012 der Aufruf für »Weimar 13« auch von einigen bündischen Gruppen unterzeichnet und insbesondere von einzelnen Pfadfindern verschiedener Bünde aktiv unterstützt wurde.
Seinen Abschluss fand das Weimarer Treffen, von dem im Folgenden ein kurzer Einblick gegeben werden soll, am Sonntagvormittag, den 1. September auf dem Weimarer Theaterplatz mit vielen Blauhemden, einigen Pfadfindern in Kluft und auch solchen ohne, außerdem mit Vertretern des Bundes der Alevitischen Jugendlichen, von Haschomer Hazair und vereinzelten Wandervögeln.
Bereits seit Freitag hatten Kinder, Jugendliche und Ältere auf dem Gelände des ehemaligen Hufeland-Klinikums in Weimar ihre Zelte aufgeschlagen. Das Programm war so bunt gemischt, wie die vertretenen Organisationen und Einzelpersonen. Auf diese Weise gab es nicht nur die Möglichkeit persönlicher Begegnungen zwischen Pfadfindern des BDP (Bund Deutscher PfadfinderInnen) und des BdP (Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder), konservative Wandervögel konnten die veganen Speisen der anarchistischen »Volxküche« aus Hannover genießen, Deutschlehrer mit jungenschaftlicher Vita die Bearbeitung goethischer Texte bei den Falken beobachten. Ein von der Kulturinitiative »Lebendig Leben« gestalteter »Pfad der Sinne« beruhigte manches Gemüt nach engagierter Diskussion.
Die Aktivitäten waren unterschiedlichster Art, jede Altersklasse kam auf ihre Kosten. Während beispielsweise die zu Zeltlager gehörigen Kinder in den Weimarer Straßen bei einem Stadtspiel unterwegs waren, boten die Jugendlichen Ergebnisse ihres »Goetheschredders« dar, einer kreativen Schreibwerkstatt, die auf dem Zeltlager stattgefunden hatte. Nach einer Darstellung des historischen Zusammenhangs wurde am historischen Ort, zu Füßen Goethes und Schillers, die »Weimarer Erklärung 2013« verlesen, in der die beteiligten Jugendverbände ihr Bekenntnis zu Demokratie, Toleranz und Pluralismus und ihre Ablehnung von Rassismus und Antisemitismus formulierten.
Für die jüngeren Kinder bot »Lampi«, pensionierter Waldorflehrer und Mitbegründer der »Fahrtengemeinschaft Artaban«, Plastizieren mit Ton an. Etwas ältere konnten beim Amateurfunken mit Nils Grehm vom Pfadfinderbund »Boreas« mit der Welt ins Gespräch kommen. Während einige Teilnehmende mit Karsten Thiemann und weiteren Falken aus Berlin-Neukölln »Arbeiterlieder und politische Lieder« lernten und besprachen, besuchten andere das KZ Buchenwald. Wieder andere übten mit den Braunschweiger Falken jonglieren und den Umgang mit Feuerpois. Von den Falken aus Hannover kam eine AG über das Leben in Griechenland unter dem Regiment der Troika mit lebhaften Diskussionen über Euro, Europa und die Selbstorganisation in der Not der griechischen Bevölkerung. Gregor Kritidis, Politikwissenschaftler mit griechischen Wurzeln, referierte zu diesem Thema. Allen Teilnehmern gemeinsam war das große Interesse aneinander und die Offenheit für die Gruppen- und Verbandskultur, die die je anderen mitbrachten.
Eine interessante Bereicherung waren die Informationen zum Fortgang des »arabischen Frühlings« in Marokko und Ägypten, die die »Pfadfinder ohne Kluft und Hierarchien« (BDP) mitbrachten. Gewerkschafter aus Marokko berichteten über die Bedeutung ihrer Organisationen für den Demokratisierungsprozess der Gesellschaft. Für den Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland war die Teilnahme an einem Zeltlager Neuland, dennoch trugen sie bereits mit einer eigenen AG über die Verfolgung der Aleviten (eine am Rande des Islam stehende kulturelle und religiöse Gemeinschaft) in der Türkei zum Programm bei. Der langjährige Kontakt der Falken nach Israel kam diesmal leider nur durch das eine oder andere Lied zum Ausdruck, entsprechende AG’s kamen nicht zustande. Es ergaben sich jedoch viele Gespräche mit Yael Michail von »Haschomer Hazair« Deutschland, die viel über ihren zionistisch-sozialistischen Bund zu berichten musste, dessen deutsche Sektion nach 73 Jahren erst im vergangenen Herbst wiedergegründet worden war.
Die Bildungsstätte der Jugendburg Ludwigstein trug einen Theaterworkshop bei. Zu ihrer Gruppe gehörten auch Jugendliche, die als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus dem Sudan nach Deutschland kamen. Leider mussten die meisten dieser Jugendlichen in Hessen bleiben, da die Ausländerbehörde die Zustimmung zu ihrer Teilnahme verweigert hatte. Flüchtlinge dürfen sich in Deutschland nicht ohne Erlaubnis frei bewegen und ihr zugewiesenes Bundesland verlassen.
Etwas kontrovers verlief – notwendigerweise – die Diskussion um die Weimarer Erklärung, in der die vertretenen Organisationen SJD Die Falken, Bund Deutscher Pfadfinder (Main-Taunus-Kreis und »Wilde Rose«), die Kulturinitiative »Lebendig Leben« und die Bildungsstätte der Jugendburg Ludwigstein einen gemeinsamen Nenner suchten. Einigkeit bestand schnell über die Dinge, die in dem Entwurf standen, besonders ersten Unterpunkt: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden und Andershandelnden. Wir wollen Verständnis und Wertschätzung von Menschen mit anderem sozio-kulturellem, konfessionellem und ethnischem Hintergrund entwickeln, ohne die universellen, an Menschenrechten und Demokratie entwickelten Werte außer Acht zu lassen.“ Auch die Forderung nach individuell ökologisch verantwortlicher Lebensweise und Schutz für Flora und Fauna passierte ohne große Diskussion. Auch soll es nicht nur um die parlamentarische Demokratie, sondern um die Ausweitung von Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen gehen. Partizipation und Mitbestimmung sind Grundwerte aller vertretenen Gruppierungen. Schwieriger war es, sich auf das zu einigen, was zunächst nicht im Entwurf stand: Besonders den Falken war es wichtig, Antisemitismus nicht nur als eine Teilmenge des Rassismus zu betrachten, sondern als ein gesondert zu bearbeitendes gesellschaftliches Problem (am Ende wurde auf die weitergehende Spezifizierung in religiös motivierte Judenfeindschaft, biologistischen Antisemitismus und israelbezogener Judenfeindschaft verzichtet). Dem BDP war in dieser Diskussion die Nennung von Islamfeindschaft wichtig, wobei es hierbei keine Gleichsetzung mit dem Antisemitismus geben sollte. Auch das hundertjährige Jugendbewegungsthema des Umgangs mit Alkohol und Drogen (Abstinenz oder geregelter, verantwortungsvoller Umgang) wurde kontrovers diskutiert, aber letztlich in die Verantwortung der verschiedenen Gruppen genommen und taucht daher in der Erklärung nicht auf. Auch die Einzelpersonen aus BdP, dem DPV (Deutscher Pfadfinderverband e.V.) und dem Wandervogel trugen noch manche Anregung bei.
Am Samstagnachmittag begrüßte Oberbürgermeister Stefan Wolf (SPD) die Teilnehmer auf dem Lagerplatz, auf dem er, selbst ein alter Pfadfinder vom VCP (Verband Christlicher Pfadfinder und Pfadfinderinnen), sich sichtlich wohlfühlte. In seiner Rede ging es dann nicht nur um die schöne Stadt der Klassiker, auch das KZ Buchenwald und der Umstand, dass dieses so eng mit der Stadt verwoben war, dass die Bürger sehr genau wussten, was dort geschah, fand Erwähnung. Dass die Regionalpresse einen Sozialdemokraten als Oberbürgermeister der bildungsbürgerlichen Kulturstadt schlechthin auch in der dritten Wahlperiode für einen »Betriebsunfall« hält, erregte allgemeine Heiterkeit.
Die Präsentation einiger AG-Ergebnisse leitete in ein ebenfalls vielseitiges Abendprogramm über: Neben Singerunden am Lagerfeuer gestalteten Robert Schöning und Christian Kirchhof aus dem BdP in der »Märchenjurte« einen Abend mit Erzählungen und Musik aus Orient und Okzident. »Musik mit Stromanschluss« gab es vor der Volxküche, was besonders viele jugendliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu schätzen wussten.
Das gelungene Treffen fand dann am Sonntag mit der Kundgebung vor dem Nationaltheater seinen öffentlichen Abschluss. Beim großen Abschlusskreis auf dem Lagerplatz waren sich die beteiligten Gruppen einig, sie wollen ihre Zusammenarbeit fortsetzen, und die Kinder und Jugendlichen freuen sich auf ein Wiedersehen. Vielleicht in Weimar im kommenden Jahr. Weitere hinzukommende Bünde werden dabei willkommen sein.
Bild: Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Treffens in Weimar (Foto: Hannah Jung)