Einhundert Jahre seit dem »Freideutschen Jugendtag«
von Arno Klönne
Im Oktober 1913 trafen sich einige Tausend junge Leute aus Wandervogelgruppen und reformerischen studentischen Vereinigungen auf dem Meißner im nordhessischen Mittelgebirge; »freideutsch« wollten sie sein, »aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung« ihr Leben gestalten. Das Treffen war als alternativer Auftritt gedacht zu den hurrapatriotischen Feiern gleichen Datums am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, das mit kaiserlichem Pomp eingeweiht wurde, zur Erinnerung an den »deutschen Sieg« 1813.
Mit dem »Freideutschen Jugendtag« trat erstmals die bürgerliche deutsche Jugendbewegung in die Öffentlichkeit, nicht mit einem eigenen gesellschaftspolitischen Programm, sondern mit dem Anspruch auf Jugendautonomie, auf einen selbstbestimmten sozialen Raum für die nachwachsende Generation. Offen blieb, wohin die Wege aus dem »Jugendland« führen würden. Auf die jugendkulturelle, pädagogische und politische Entwicklung in der deutschen Gesellschaft haben die Jugendbewegten bis in die Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches hinein gewichtigen Einfluss genommen, in zwiespältiger Weise.
Rassenwahn am Lagerfeuer - mit diesem Titel wird in Spiegel Geschichte (Heft 3/2013) das Meißner-Treffen 1913 charakterisiert, zugleich als »Ringelpiez«, bei dem »junge Menschen in trachtenähnlicher Kleidung um eine Art Maibaum hopsten«. Da ist Geschichte in einen Zerrspiegel geraten. Outfit und Gruppenstil der Wandervogeljugend damals mögen heute als skurril erscheinen; unter den Bedingungen der »Untertan«-Sozialisation in wilhelminischen Zeiten hatten sie etwas Befreiendes. Die Fahrten der jugendlichen »Horde« am Wochenende und in den Ferien, die »Heimabende« im »Wandervogelnest« und die musikalischen Abende am Lagerfeuer boten eine Chance, zeitweilig dem Zugriff von Elternhaus, Schule und staatlicher Jugendpflege zu entgehen und so etwas wie jugendliche Subkultur zu entwickeln, die »Blaue Blume« suchend, romantisierend also. Und im »freideutschen« Milieu dann fanden Heranwachsende die Möglichkeit, sich eigenwillig gedanklich auszutauschen, abseits der vorherrschenden Diskurse, eine Zeitschrift wie Der Anfang zeugt davon, Siegfried Bernfeld und Walter Benjamin gehörten zu deren Autoren. Kein Wunder, dass dieses Treiben bei obrigkeitsstaatlichen Pädagogen Entsetzen hervorrief und der bayerische Kultusminister ankündigte, er werde das »freideutsche« Jugendübel »im Keim ersticken«.
Zutreffend ist allerdings: Schon beim Meißner-Fest 1913 gab es auch rassistische und antisemitische Stimmen, sie kamen vor allem von älteren Ideologen, die sich der jungen Bewegung andienen, diese für eine »völkische« Version von Lebensreform gewinnen wollten. Christian Niemeyer hat jetzt in seinem Buch über Die dunklen Seiten der Jugendbewegung (2013) dieses protofaschistische Gedankengemisch im Detail beschrieben (um eine »Gesamtdarstellung der Jugendbewegung« allerdings, wie in der Werbung für das Buch beansprucht, handelt es sich keineswegs). Beim »Freideutschen Jugendtag« trat als Festredner der Reformpädagoge Gustav Wyneken den deutsch-chauvinistischen Anwandlungen entgegen, er warb für Völkerverständigung, für Friedensgesinnung. Es gibt keinen Grund, Wyneken nur ein Loblied zu singen; seine Auffassung von »Jugend und Eros« ist auch von Zeitgenossen schon als fragwürdig erkannt worden. Dennoch - seine Warnung vor kriegerischer »Phrasenuniformierung« der Jugendgeneration war klarsichtig und treffend. Ein Jahr später wütete in Europa der Erste Weltkrieg, das »Menschenschlachthaus«, wie es 1912 vorausschauend der Schulreformer Wilhelm Lamszus geschildert hatte. Danach war auch in der deutschen Jugendbewegung alles anders als in den Vorkriegszeiten.
Schon vor 1914 war es auch in der Arbeiterjugend unruhig geworden, in den Jugendvereinen der Sozialdemokratie kam die Forderung nach mehr Selbständigkeit gegenüber der Erwachsenenpartei auf. Im Laufe des Weltkrieges sagten sich Gruppen proletarischer Jugendlicher von der »Burgfrieden«-Politik des Parteivorstandes los, ihr Weg ging zur USPD und später zur kommunistischen Richtung. Die sozialdemokratischen Jugendvereine bekannten sich mit ihrem Jugendtag 1920 in Weimar zur Jugendbewegung und gaben sich einen neuen Namen: »Sozialistische Arbeiterjugend«. Daneben entstand eine Vielzahl von kleineren jugendbewegten Bünden auf der politischen Linken, die sich auf die Perspektive der Arbeiterbewegung verpflichteten, aber nicht an SPD oder KPD gebunden sein wollten.
Ganz allgemein übernahmen nun die Jugendverbände, von den kirchlichen bis zur Turnerjugend, den Gruppenstil und die Symbolik, wie sie im Milieu der Wandervogelbünde und der »Freideutschen« entwickelt worden waren; auch im öffentlichen Schulbetrieb fand die jugendbewegte Erlebnispädagogik Eingang, »Klassenfahrten« in »Jugendherbergen« haben hier ihren Ursprung. Der Mythos von einer »Sendung der jungen Generation« breitete sich in der Weimarer Republik aus, »gesellschaftliche Regeneration« wurde von jugendlicher Dynamik erhofft. In der bürgerlichen Jugendbewegung schieden sich nach 1918 politisch die Geister. Der erhoffte Zusammenhalt einer »freideutschen«Jugend war nicht zu realisieren, die Meißnerfahrer gingen Wege in gegensätzliche Richtungen, manche nach ganz links, andere nach ganz rechts, und die jeweilige Deutung des »Kriegserlebnisses« war dabei entscheidend: Hier Antimilitarismus, dort »soldatische Ideale«.
Für einige Jahre noch hatte die jugendbewegte, lebensreformerische und pazifistische Zeitschrift Junge Menschen unter ihrem Herausgeber Walter Hammer erheblichen Einfluss auch im bürgerlichen Milieu, dann wandte sich die Mehrheit der »bündischen Jugend«, wie sie sich nun nannte und auch die Pfadfindergruppen an sich zog, dem nationalen Heroismus zu, dem männerbündischen Leitbild »Führer und Gefolgschaft«, den Ideen einer »konservativen Revolution«. Literarisch löste hier Ernst Jünger Autoren wie Hermann Hesse oder Leonhard Frank ab, und in der Gruppenpraxis trat immer mehr das disziplinierte Jugendlager an die Stelle der vagantenhaften Wanderfahrt. Die meisten bürgerlichen Jugendbünde hielten sich der NSDAP fern, aber es breiteten sich in ihnen Weltanschauungen und Mentalitäten aus, die dem Dritten Reich ideelle und emotionale Zubringerdienste leisteten. Bezeichnend hierfür ist der Einfluss, den in der Endphase der Weimarer Republik die Zeitschrift Die Tat in der jungen Generation des Bildungsbürgertums gewann. Mit jugendbewegtem Hintergrund wurde hier für den Übergang zum autoritären, antiliberalen Staat geworben. Bürgerliche Bünde waren auch maßgeblich beteiligt daran, die wehrerzieherische Legende vom »Opfertod der Jugend in der Schlacht bei Langemarck« unter das Volk zu bringen. Arndt Weinrich hat mit seiner Studie Der Weltkrieg als Erzieher (2013) diese Mythologie nachgezeichnet.
Als die Nationalsozialisten Massenanhang suchten und gewannen, boten sich für sie in diesem ideologischen Terrain verlockende Anschlussmöglichkeiten. Mit Erfolg präsentierte sich die NSDAP als »Partei der jungen Generation«, die dem »verkalkten Weimarer System« den Garaus machen werde. Nach der Machtübergabe an Hitler 1933 machte sich die NS-Führung daran, die Parole »Wer die Jugend hat, hat die Zukunft« machtpolitisch umzusetzen. Die Hitler-Jugend stellte sich zunächst als Jugendbewegung dar, sie übernahm jugendkulturelle Formen und Symbole der Bündischen Jugend und bekam dadurch in den ersten Jahren des Dritten Reiches in großem Umfange freiwilligen Zulauf, zudem gliederten sich ihr viele bürgerliche Jugendorganisationen ein. Die Arbeiterjugendbewegung wurde 1933 sofort durch staatlichen Zugriff zerschlagen, die linke oder antimilitaristische jugendbewegte Szene insgesamt unterdrückt. Aber auch bürgerliche, zum »nationalen Führerstaat« durchaus sich bekennende Konkurrenz im Feld der außerschulischen Jugenderziehung duldete die Hitler-Jugend nicht; lediglich die katholischen Jugendverbände konnten noch einige Jahre, wenn auch bereits drangsaliert, unter dem Schutz des Reichskonkordats existieren. »Schluß mit der Jugendbewegung« hieß ab 1936 die Devise des NS-Staates, seine Hitler-Jugend wurde nun umgeformt in eine völlig reglementierte Organisation mit Zwangsmitgliedschaft, ab 1939 bestand eine Jugenddienstpflicht, die Jugendideale vom Meißner 1913 galten nun der nationalsozialistischen Obrigkeit als Verirrungen.
Im Laufe des Dritten Reiches erwies sich, dass in den Traditionen der Jugendbewegung aus der Zeit vor 1933, trotz deren nationalistisch-»völkischen« Beimischungen, auch ein antiautoriärer Impuls steckte; der Anspruch auf Autonomie der jugendlichen Gruppe und Szene vertrug sich nicht mit dem erzieherischen Herrschaftswillen des NS-Staates. Illegale jugendbewegte Aktivitäten bildeten sich heraus, der Staat verfolgte »bündische Umtriebe« als »zersetzend« und »staatsgefährdend«. Die Biographie des Hans Scholl, dessen Weg vom NS-Pimpfenführer zu einem heimlichen bündischen Netzwerk, ist ein Beispiel für viele ähnliche Vorgänge. In einigen Regionen dehnten sich ›wilde‹ Jugendgruppen aus, die an den Gruppenstil der einstigen freien Jugendbewegung anknüpften, die Hitler-Jugend sah darin ein massives Risiko für sich. Und als um 1937 junge deutsche Emigranten sich zu einem antifaschistischen Verband zusammenschlossen, gaben sie ihm keineswegs zufällig den Namen »Freie deutsche Jugend«; es lag darin auch die Erinnerung an die »Freideutschen« vom Meißner 1913, auch junge Kommunisten in dieser FDJ zielten damals nicht eine andere Staatsjugendorganisation an...
Bemerkenswert ist der hohe Anteil von Menschen jugendbewegter Prägung unter den Aktivisten des Widerstandes gegen den NS-Staat. Um nur einige zu nennen: Adolf Reichwein, Alexander Schwab, Theo Hespers, Harro Schulze-Boysen. Nicht wenige »linke Leute von rechts« waren darunter, die vor 1933 in bündisch-»nationalrevolutionären« Gruppen mitgewirkt hatten. Auch am »Nationalkomitee Freies Deutschland« waren ehemals Jugendbewegte maßgeblich beteiligt. Nach dem Untergang des Dritten Reiches gab es einige Jahre hindurch Versuche, die klassische deutsche Jugendbewegung wiederzubeleben. Der Historiker und Politiker Ulrich Noack schlug sogar vor, auf dem nordhessischen Meißner eine neue Hauptstadt für das Vierzonendeutschland zu errichten, »im Geiste der freideutschen Jugendbewegung«. Aber solche Projekte passten nicht mehr in die politische Landschaft, und jugendkulturell zeichneten sich bereits ganz andere Orientierungen ab. In den Jugendverbänden und auch in der Schulpädagogik heute sind nach wie vor Praxisformen aus der klassischen Jugendbewegung zu finden; aber einen »Aufbruch der Jugend« bedeuten oder beanspruchen sie nicht. Dynamik in den Jugendgenerationen der Gegenwart, soweit sie auftritt, hat andere Herkünfte und Motive als in den Zeiten des Wandervogels, der Freideutschen, der Arbeiterjugendbewegung und der Bündischen. Die Geschichte der Jugendbewegung vom Meißner 1913 ist abgeschlossen, sie kritisch in Erinnerung zu bringen hat Sinn − zu leicht machen sollten Publizisten es sich dabei nicht.
Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg bietet vom 26. September dieses Jahres bis zum 19. Januar 2014 die Ausstellung Aufbruch der Jugend; ausgehend vom Meißnerfest 1913 veranschaulicht sie die verschiedenen Facetten der Geschichte der deutschen Jugendbewegung.
Literatur:
Arno Klönne, Es begann 1913. Jugendbewegung in der deutschen Geschichte, (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen) 2013.
Ders., Jugend im Dritten Reich. Die Hitlerjugend und ihre Gegner, Köln (Papy Rossa Verlag) 2003.
Christian Niemeyer, Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen (Francke) 2013.
Arndt Weinrich, Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen (Klartext) 2013 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Neue Folge, Bd. 27).