von Ulrich Schödlbauer
Meine erste Begegnung mit der Kunst Walter Rüths – nicht mit seinen ersten Bildern, sondern mit dem, was er bald darauf grab_art nannte – verdanke ich, so unglaublich es klingen mag, einem Fahrradsattel. Dieser Sattel, wenn man ihn noch so nennen darf, hat sich aus seiner Halterung gelöst, er ist emporgestiegen, fast wie ein Tier, ein Marder oder ein Eichhörnchen, das sich kurzfristig auf seine Hinterbeine stellt, um zu schnuppern, vielleicht eine Gefahr, vielleicht die Freiheit oder einen Hauch davon. Gerade so, mit dieser charakteristischen Biegung der Hinterbeine, in der sich die Spannung und das Ungewohnte der Situation mitteilen, steigt der Sattel vor dem erstaunten Auge des Betrachters auf, das schon ahnt, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein kann, dass er heraustritt aus der Zeit der Begebenheiten und dadurch natürlich eine eigene Dauer gewinnt, die ihm niemand mehr nehmen kann, eine im Bild gewonnene Dauer.
by Henning Eichberg
Contents
From ›people‹ to ›population‹? – the problem
1. Volk as ideological contents
1.1. Agitprop and folk song– Volk as a term of appeal
1.2. Volksfront – ›People‹ as a strategic term of unity
1.3. Against Nazism – Volk as a term of distance
1.4. GDR – an alternative concept of German we-building
1.5. 1953 – Volk as a term of revolt
von Ulrich Schödlbauer
19.
Auch unsere Moderne wird, wie jede andere, vergessen. ›Unsere Moderne‹? Was soll das sein? Das müssten wir wissen, wir wissen es aber nicht und werden es niemals wissen. Nur wer eine Moderne projektiert, weiß Bescheid, denn er will etwas durchsetzen. Deshalb ist jede Moderne ein ›unvollendetes Projekt‹, solange noch eine Hand sich regt und ein Gehirn sich dafür ›einsetzt‹. Dieser Einsatz für eine bessere Welt, die heute die ökologische heißt und morgen anders, für eine andere Ordnung der Dinge und Menschen, setzt voraus, dass einer sich selbst als in einer anderen – spirituellen oder historischen – Ordnung stehend begreift. Das gilt als ›selbstverständlich‹, aber was heißt das? Die Hoffnung auf Erneuerung kann sich mit allem Erdenklichen verbinden, sie bleibt immer das Tierchen, das trabt. Diese seltsame Allianz aus jungen Leuten, die ihr Lebensrecht reklamieren, und unfrohen Konvertiten, die sich als Träger der frohen Botschaft ihr Quentchen öffentlicher Befriedigung holen, wenn sie nicht nur ihren Etat aufstocken möchten, beide auf der ewigen Suche nach einem Volk, das gegen die Verhältnisse aufbegehrt, nach der Mehrheit ›links von‹, trägt ihre Welt mit sich herum, lebenslang, lebenslänglich. Bei den Erfolgreichen verbindet sie sich mit dem, was sie anfassen, macht gleichsam selbst Karriere und verwandelt sich in ein Plakat, das die verteilte Wirklichkeit verdeckt und ersetzt, bei den Erfolglosen wird sie zum Vorbehalt, zur bitteren Losung, zum Ressentiment und zum Erinnerungsposten. Wer nicht vorankommt, darf es sich merken, man merkt es ihm an und man lässt es ihn merken. Man hält sich auch an ihm schadlos; so endet ein reiches Gelehrtenleben unter höhnischem Erbarmen und doppelzüngigem Lob. Ein recht humanes Schicksal, verglichen mit den Erschießungspeletons und Ausrottungsfeldzügen, mit denen sich seine Vorläufer ins Buch der Geschichte einschreiben durften und denen sie selbst zum Opfer fielen. Die Unerträglichkeit des Humanen muss tief empfunden werden, um sie durch die Unerträglichkeiten der Humanisierung ersetzen zu wollen. Angesichts solcher Prägungen ist Ratlosigkeit ein hohes Gut, das man nicht leicht verschleudern sollte. Erklärungen finden sich immer, sie sind billig und Wasser auf die Mühlen der Erklärten. ›Der Mensch‹ ist kein unvollendetes Projekt, sondern eine traurige Figur, die gern lacht.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G