von Ulrich Siebgeber
Man könnte eine Liste literarischer Nachkriegsexistenzen zusammenstellen, deren Modelle durch die politmediale Entwicklung der letzten Jahrzehnte obsolet wurden. Allen voran das großgeschriebene ICH des österreichischen Society-Grantlers Thomas Bernhard: Es auszulöschen reichte der Massenerfolg der sozialen Medien aus, in denen Volkes Stimme sich nicht mit allgemeinen Schimpfkanonaden in Richtung ›Elite‹ begnügt, sondern Ross und Reiter eintunkt, wann immer die Galle überläuft. Sie ist nicht der einzige Überläufer in diesen Tagen. Das hat, wie jeder weiß, zu Hassparagraphen Anlass gegeben, ohne dass die Notgemeinschaft der Verletzten und Beleidigten damit des Problems Herr geworden wäre.
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Mehr Überlebenschancen könnte sich der berufsempörte Rheinländer Heinrich Böll ausrechnen, dessen Katharina Blum, den Haupt- und Staatsmedien der Republik sei Dank, in gewissen Kreisen neuerdings eine zarte Nachblüte zeitigt. Zu mehr als einem demonetarisierten YouTube-Kanal dürfte es trotzdem nicht reichen. Immerhin wäre er dort unter seinesgleichen. Die reine Freude wäre es nicht: Zu viele Glücksritter drängeln sich auf diesem Terrain – je bescheidener der Anspruch auf ›Geist‹, desto eindrucksvoller der in Abonnenten und Aufrufen messbare Erfolg. Aber war das damals anders?
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›Mit Stumpf und Stiel‹ hingegen haben die Kassandren des Geldsystems das Genre der einstmals Suhrkamp-verwöhnten Untergeher in ihre Hände gebracht, um noch die letzten Anlegerschafe in ihre diversen Pferche zu treiben. Am Untergang verdienen –: Ja woran denn sonst? Dazu braucht’s keine gestellte Schrift, bloß ein Mundwerk und das Wohnzimmer als Studio. Wer gelernt hat, die Bombe zu lieben, den verlässt sie nimmermehr.
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Zwischenfrage: Ob an Holzschnitzer Martins Krippenfiguren weiter Bedarf bestünde? Eher nicht, obwohl die Holzschnitzerei Konjunktur hat. Einen Walser kupfert man nicht ab, bei Strafe der Lächerlichkeit, er ist so mit den Zeitereignissen verbacken, dass man ihn einfach nicht herauslösen kann, jedenfalls nicht, ohne ihn … zu zerbrechen, ganz sicher würde er zerfallen, zu Staub oder in kleinere Partikel, Feinstaub vielleicht, doch das klingt bereits zu gefährlich, als dass etwas dran sein könnte. Im übrigen gilt: Jeder wollte damals den letzten Walser besitzen, hoffend, dass dann endlich Ruhe wäre. Und jedesmal war es der vorletzte – bis auf den letzten natürlich, der dann wirklich der letzte sein sollte und sicherstellte, dass es keine zweite Paulskirchenrede geben würde.
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Seit Grass tot ist, sind auch seine Bücher tot. Das mag bedauerlich klingen, aber es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ein Grass war stets ein Grass, gleichgültig, welches Zeug er wieder zusammengeschrieben hatte. Der Großschriftsteller mit dem Doppel-s im Namen lebte von seinen Verrissen wie andere Leute von ihren Dividenden, und als das Leben aus ihm entwich, da seufzten seine fettleibigen Bücher, weil sie wussten, dass sie jetzt nicht mehr gebraucht würden und endlich dort bleiben könnten, wo sie hingehörten. Grass’ Aufstieg war eigentlich der Aufstieg der Sozialdemokratie im Land der Adenauer und Erhard – angesichts ihrer heutigen Umfragewerte Hypothek genug, um jeden Nachahmungstäter abzuschrecken. Ausschließen lässt sich nicht, dass hier und da ein Grässlein im Verborgenen sprießt, denn schreiben wie ein Grass – welcher Ambitionierte könnte es nicht, auch wenn er’s nicht wollte? Gerade das macht ihn unverwechselbar und das sollte er bleiben.
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Weiter im Text: Seit das Devisenmodell der DDR - im Osten schreiben, im Westen kassieren – außer Dienst gestellt wurde, hat die deutsche Literatur einen tiefen Fall getan, wie jeder Beobachter mühelos feststellen durfte. Arno Schmidt, vernarrt in seine Typoskripte, ahnte den Abgang früh und wollte den Druck von ihr nehmen, zumindest das Druck-Bild, um dem anarchischen Hantieren des Schriftstellers mit seiner Schreibmaschine zur freien Selbstdarstellung zu verhelfen – fernab aller Politik und der von ihr angerichteten Dachschäden. Als die Dachschäden des Ostens auch für arglose Reisende sichtbar wurden, hatte er längst sein Schäfchen im Trockenen und sich selbst unter die Erde … verbracht, dürfte einer seiner Protagonisten sagen, mit einem Taschentuch vor der Nase oder etwas Größerem. Was besagt das? Mit dem Abgang der Schreibmaschine von der Weltbühne verschwanden die welthistorischen Typoskripte, mit ihnen verschwand die Genauigkeit des Literaturnarren, die sich kein Vertippen leisten darf, mit der Genauigkeit der Stil und mit dem Stil verschwand die ganze Chose, genannt Dichtung, in Richtung Auferstehung: Wer’s glaubt, folgt dem blauen Dunst. Schmidt steht sich noch bevor.
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Was also bleibt? Die bekannten Dystopien waren längst gedruckt und zerfleddert, als jene antraten. Heute werden sie wieder eifrig zitiert, weniger eifrig gelesen, aber der Verdacht, dass vor der Realität der 2020er alle Schrecken, die gebildeten mitsamt den eingebildeten, des Jahres 1984 verblassen, begleitet die kleinste Erwähnung. Ach ja … was blieb von der feministischen Literatur? Im Ernst: Was blieb von ihr? Seit LGBTQIA+ auch juristisch die Szene beherrscht, fühlt sich eine wachsende Minderheit real existierender Frauen von anderen Problemen bedrängt. Das zu erkunden genügte das Los der erfolgverwöhnten Kinderbuchautorin aus merry old England, als sie eine Meinung zuviel in den Mund nahm oder ausspuckte – fern und stumm grüßt der britisch-indische Romancier Salman Rushdie, der, den Ayatollahs sei Dank, das Standbild des Dichter-Heros im Alleingang ins neue Jahrtausend rettete. Nicht in der Nussschale, nein … eine Sardinenbüchse musste es für die Duldungsikone der westlichen Literatur, literarisch notorisch überschätzt, schon sein, aber was heißt das schon?
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Im Land der Scheckbuchzücker auch in literaricis wechselte der notorische Michel Houellebecq aus dem seriös-verblichenen Feuilleton ins Kleinkunst-Lager der Besorgten. Houellebecq, ein Überlebender des großen Schiffbruchs, war und ist ein Spezialist für menschliche Gemeinheit, so etwas hat immer Konjunktur, vor allem als Importware. Womit verdienen Autoren hierzulande heute ihr Geld? Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Wenn’s zum Leben reicht! Gibt es sie überhaupt? Zum Teufel mit der Literatur! Aber da ist sie doch längst, dort, wo es brutzelt und trieft, gerade dort. Die Literaten haben das Klima nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, es zu retten – soviel weiß Karlchen und Karlchen, wie jeder Esel weiß, ist Goldstandard, einst wie jetzt. Das geistige Rüstzeug muss dürftig und es muss echt jetzt sein.
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Persönlich bevorzuge ich die Rolle des Poseurs, zu der einst sich Heiner Müller bekannte, als alles zu spät war, nachdem er sie ein Leben lang praktiziert hatte. Dasein heißt eine Rolle spielen, warum nicht die Schriftsteller-Rolle? Wenn ich am Bahnhof Zoo auf den Bus warte, strahlt mich ein Plakat mit der Aufschrift Schreib dein Buch! an. Nein, es strahlt nicht das Plakat, sondern die stetig länger werdende Reihe derer, die den Kursus, ohne den nun einmal nichts geht, offenbar erfolgreich absolviert haben und nun ihresgleichen rekrutieren – in krassem Gegensatz zum Schriftsteller alter Fasson, nach dem nichts Nennenswertes mehr kommen durfte, sollte das buchwerte Ego Ruhe haben. Narziss bekämpfen, indem man ihm freien Lauf lässt: Das, immerhin, ist ein Konzept. Einst hieß es »sich die Hörner abstoßen«, aber die Hörner, die Hörner … sie werden durch Einsatz nur länger.
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Gesichter, die etwas verkaufen sollen, verkaufen, vom Ende her betrachtet, nur sich, besser gesagt, ihren flüchtigen Anblick, der sich tief in die Seele des Konsumenten senkt. Warum nicht das eigene, längst aus dem Spiegel vertraute? Was spricht dagegen, damit am Roulette-Tisch der Eitelkeiten ein paar Mäuse mitzunehmen? Die Gesetze der horizontalen Öffentlichkeit gelten ebenso unerbittlich wie die der untergegangenen literarischen Welt, deren ärmliche Nachkommenschaft noch von fossiler Energie lebt. In ihren Kreisen mag man das Wort ›Selbstverlag‹ routinemäßig mit maximaler Verachtung ausspucken, aber sie ernten damit, unter Medienfreunden sei es gesagt, nur Befremden. Die altgedienten Prestige-Wächter, die sich aus langer Gewohnheit noch immer Verlage nennen, stehen gleich mittelalterlichen Stadttoren in der kommunikativen Brandung und rings an ihnen vorbei flutet der Verkehr. Nächtens erschrecken sie die Besucher: Haltet durch! Doch auch das zieht nur noch halb. ›Selbsternannt‹ waren sie schon immer.