von Ulrich Schödlbauer
19.
Auch unsere Moderne wird, wie jede andere, vergessen. ›Unsere Moderne‹? Was soll das sein? Das müssten wir wissen, wir wissen es aber nicht und werden es niemals wissen. Nur wer eine Moderne projektiert, weiß Bescheid, denn er will etwas durchsetzen. Deshalb ist jede Moderne ein ›unvollendetes Projekt‹, solange noch eine Hand sich regt und ein Gehirn sich dafür ›einsetzt‹. Dieser Einsatz für eine bessere Welt, die heute die ökologische heißt und morgen anders, für eine andere Ordnung der Dinge und Menschen, setzt voraus, dass einer sich selbst als in einer anderen – spirituellen oder historischen – Ordnung stehend begreift. Das gilt als ›selbstverständlich‹, aber was heißt das? Die Hoffnung auf Erneuerung kann sich mit allem Erdenklichen verbinden, sie bleibt immer das Tierchen, das trabt. Diese seltsame Allianz aus jungen Leuten, die ihr Lebensrecht reklamieren, und unfrohen Konvertiten, die sich als Träger der frohen Botschaft ihr Quentchen öffentlicher Befriedigung holen, wenn sie nicht nur ihren Etat aufstocken möchten, beide auf der ewigen Suche nach einem Volk, das gegen die Verhältnisse aufbegehrt, nach der Mehrheit ›links von‹, trägt ihre Welt mit sich herum, lebenslang, lebenslänglich. Bei den Erfolgreichen verbindet sie sich mit dem, was sie anfassen, macht gleichsam selbst Karriere und verwandelt sich in ein Plakat, das die verteilte Wirklichkeit verdeckt und ersetzt, bei den Erfolglosen wird sie zum Vorbehalt, zur bitteren Losung, zum Ressentiment und zum Erinnerungsposten. Wer nicht vorankommt, darf es sich merken, man merkt es ihm an und man lässt es ihn merken. Man hält sich auch an ihm schadlos; so endet ein reiches Gelehrtenleben unter höhnischem Erbarmen und doppelzüngigem Lob. Ein recht humanes Schicksal, verglichen mit den Erschießungspeletons und Ausrottungsfeldzügen, mit denen sich seine Vorläufer ins Buch der Geschichte einschreiben durften und denen sie selbst zum Opfer fielen. Die Unerträglichkeit des Humanen muss tief empfunden werden, um sie durch die Unerträglichkeiten der Humanisierung ersetzen zu wollen. Angesichts solcher Prägungen ist Ratlosigkeit ein hohes Gut, das man nicht leicht verschleudern sollte. Erklärungen finden sich immer, sie sind billig und Wasser auf die Mühlen der Erklärten. ›Der Mensch‹ ist kein unvollendetes Projekt, sondern eine traurige Figur, die gern lacht.
von Ulrich Schödlbauer
Lieber Herr Oberreiter,
beim Wiederlesen der Schriften Ciorans, nachdenkend über das Wunder, dass es sie gibt, dass es sie in dieser Vollständigkeit gibt, dass sie entstanden sind und man sie gegen ein kleines Entgelt kaufen und lesen kann, stellt sich, unvermutet, diese Empfindung ein: was wäre, wenn dieser Autor heute schriebe, wenn er hierzulande schriebe, von alledem lesbar? Was davon käme jemals an den Tag? (Damit meine ich nicht jene frühe Verstrickung, gegen die, nach Adornos einschlägigem Wort, ein Lebenswerk einsteht.) Schon die lausige Übersetzung weckt Argwohn, doch sie entstammt einer anderen Zeit, einer anderen Gestimmtheit, man sollte sie ruhen lassen. Stattdessen sollte man das literarische Verfahren ins Auge fassen, die Art, wie der Autor sich freistellt, die Art von Thesen, mit denen er sich herumschlägt, überhaupt die Weisen, auf die er sich herumschlägt, das leicht Nachzumachende und das Unnachahmliche daran, die Unart, wörtlich und sogar persönlich zu nehmen, was für die Azubis des akademischen Systems nur kulturelles Gewäsch darstellt: Worte, Worte, nichts als Worte, nicht wahr? Eine kleine Schreib-Enthemmung, nicht wahr, ein Sich-Gehenlassen in Worten, vermutlich der transkulturellen Situation geschuldet, man müsste über Sozialisationen nachdenken, falls man dazu aufgefordert würde, ansonsten... besser schweigen. Einmal nachdenklich geworden, könnte man andere Namen aufführen, ganz andere, ich bleibe bei diesem, in dessen Wohnung ich einmal ein- und ausging, und bin mir ganz sicher, dass ihn diese Mauer aus Schweigen umstünde, aus Verlegenheit, wenn man so will, einer Verlegenheit, die rasch weg will, die bereits auf die Uhr schielt, die ihre Termine hat. Die kanonischen Texte unserer Kultur wären, würden sie heute geschrieben, nicht vorhanden. Die sie zu Gesicht bekämen, würden ungerührt darüber hinwegsehen, und die anderen würden ohnehin nichts mitbekommen. Das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, und jeder, den es angeht, ist darüber verständigt.
von Ulrich Schödlbauer
1.
Man wird den Fortschritt nicht so leicht los, wie man denkt. Die Geschichte schreitet fort, unaufhaltsam, was sollte sie auch sonst. Sie schreitet voran, das scheint bereits eine ernstere Sache. Denn es enthält den Hintergedanken, dass nicht alle in gleicher Front marschieren, dass es Zurückgebliebene gibt – im Denken, in der Kunst, in den Manieren, in den ›Verhältnissen‹. Ganze Länder und Regionen lösen sich aus dem Verbund, sie bleiben zurück. Offenbar sind sie weniger an der Geschichte interessiert als andere. Oder sie glauben bereits zu wissen, wie es ausgeht. Aber das ist nur so dahingedacht. Wer näher hinsieht, findet keine Zurückgebliebenen, dafür Einpeitscher und Hochmütige, Nachgiebige und Gemütsmenschen, die all das empfinden, was ihnen erzählt wird, Leute, die die Richtung zu kennen glauben und ihre Mitmenschen drangsalieren, schließlich diese Mitmenschen selbst, Mitmenschen, die ihr Menschentum aus dem Katalog oder dem Gruppenzauber beziehen. Dazu kommen Verlierer, die den Anschluss suchen, soll heißen, die Mittel erkunden, die ihnen erlauben, erlittene Niederlagen in Siege zu verwandeln. Die einfachste Sicht der Geschichte besitzt ein Mitteleuropäer zwischen seinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr: was war, ist Vorgeschichte, was sein wird, Zukunft, von seinesgleichen gestaltet, also dem Stand der Dinge gemäß. So einfach ist das Leben. Oder auch nicht. Kinder wachsen nach, das begrenzt den Ermessensspielraum. Jede Generation wird von der folgenden um die Früchte des Fortschritts betrogen – sie verzehrt, ohne hinzusehen. Gewöhnlich gelten die Früchte als faul und der Verzehr als schmerzhaft. Aber auch Schmerzempfindlichkeit und Schmerzrichtung wechseln. So erstarren beide Seiten rasch in Mißachtung oder Protest und es bedarf vieler Gespräche an imaginären oder realen Kaminen, um das Verhältnis ›im Fluss‹ zu halten, das heißt das definitive Urteil über den jeweils anderen in der Schwebe zu lassen. Die Aktionäre, alte und neue, können nicht erwarten, daß der Gewinn des laufenden Geschäftsjahrs auf ihre Konten überwiesen wird. Währenddessen investiert die Unternehmensleitung. Der Markt, so hört man, wird von Tag zu Tag schwieriger.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G