von Jörg Büsching

I. Europa dankt ab – wovon?

Europe does not have a sense for the future anymore.
Martin Jacques

1. Von der Euphorie zur Dysphorie

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion war unstrittig, dass die Legitimität einer Gesellschaftsordnung sich vor allem an deren Fortschrittlichkeit, d. h. dem Grad der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung sowie der darauf basierenden Verbesserung der allgemeinen materiellen Lebensbedingungen der Menschen ablesen lasse. Der nach dem Start des ersten von Menschen hergestellten Himmelskörpers, Sputnik 1, so genannte »Wettlauf der Systeme« bezog seine Attraktivität auf beiden Seiten des ideologischen Grabens zwischen West und Ost aus einer materialistischen Weltanschauung. Dieser Umstand wird von heutigen Marktromantikern, die den Zusammenbruch des Ostblocks allzu selbstherrlich als »Sieg des Westens«

interpretieren, gerne unterschlagen. Die weithin akzeptierte Erklärung, das sozialistische Modell der »Kommandowirtschaft« habe schlichtweg nicht funktionieren können, weil (a) das Anreizsystem fehlerhaft, (b) die Ressourcenallokation ineffizient und (c) langfristige Planbarkeit der menschlichen Bedürfnisse ohnehin eine – totalitäre – Illusion sei, scheint vordergründig in den historischen Erfahrungen eine Bestätigung zu finden. Nicht wenige Angehörige der heutigen politischen und wirtschaftlichen Eliten westlicher Länder finden sie deshalb so immens befriedigend, weil sie das Lebensmodell des Homo Oeconomicus mit seinem auf Konsumtion und Produktion reduzierten Repertoire gesellschaftlich relevanter Handlungen zu bestätigen scheint. Dass dieser Topos sich mittlerweile zu einer quasi-anthropologischen Konstante verfestigt hat, erkennt man nicht zuletzt an dem stupenden Unverständnis, mit dem besagte Eliten auf die kulturellen und sozialen Herausforderungen, die sich den bislang dominierenden Mächten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs stellen, reagieren: 1. die Konfrontation mit Kulturen, welche die Prävalenz des westlichen Modells in Frage stellen, indem sie selbstbewusst (und manchmal auch trotzig) das Recht auf einen eigenen Weg für sich in Anspruch nehmen, auch wenn dieser mit den ›westlichen Werten‹ nicht vereinbar ist; 2. die wieder zunehmende soziale Segregation gerade innerhalb der ›fortschrittlichsten‹ Ökonomien und 3. die in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise zutage getretenen institutionellen Fehlentwicklungen in den Marktgesellschaften des Westens.

Auf den ersten Blick haben diese drei Punkte nichts miteinander zu tun – zumindest werden sie im politischen Tagesgeschäft in der Regel separat behandelt. Dies geschieht aber weniger um einer genaueren politischen Analyse willen, als vielmehr wegen der eingängigen Symbolik der im jeweiligen Kontext diskutierten Fälle: Mit (1.) verbinden sich Diskurse über vermeintliche Gefahren, die von muslimischen Kulturen ausgehen (von der Sarrazin- über die Kopftuch- und Moscheendebatte bis hin zum »Krieg gegen den Terror«); (2.) wird vor allem mit der Hartz-IV-Problematik und damit zusammenhängenden Themen verknüpft (Mindestlohn, prekäre Beschäftigung, Abstiegsängste des Mittelstandes usw.) und (3.) macht sich vornehmlich an Staatshilfen für marode Banken mitsamt den Nachrichten über ausufernde Boni und Managergehälter fest sowie am in jüngster Zeit immer unverblümter zutage tretenden Lobbyismus von Großkonzernen, die in ihrem Bemühen, im internationalen Wettbewerb Vorteile zu erlangen, bedenkenlos auf den Staat und seine finanziellen Ressourcen übergreifen, sich umgekehrt aber jegliche regulative Eingriffe verbitten. Wird von den verantwortlichen Akteuren zwischen mehreren dieser Themenkomplexe doch einmal ein Zusammenhang konstruiert, dann dient dies in der Regel polemischen Zwecken, so etwa bei den Auseinandersetzungen um die Integrationsunwilligkeit (bzw. -fähigkeit) bestimmter Gesellschaftsgruppen, in der die Komplexe (1.) und (2.) zu einem gefährlichen Ressentiment kurzgeschlossen werden (vermutlich auch, um von der unter (3.) aufgeführten Problematik abzulenken). Abgesehen davon, dass diese provokative Zuspitzung für die Suche nach einer Lösung der zu Grunde liegenden realen Probleme eher kontraproduktiv sein dürfte, offenbart sie auch ein hohes Maß an – mit überbordendem ideologischem Eifer gerechtfertigter – Unredlichkeit, so dass sich unweigerlich der Verdacht aufdrängt, die Protagonisten seien angesichts der krisenhaften Entwicklung nicht einfach nur überfordert, sondern betätigten sich insgeheim sogar als deren Agenten. Ein solcher Verdacht aber, ob nun begründet oder nicht, erweist sich langfristig für demokratisch verfasste Gesellschaften als schleichendes Gift. Der Vertrauensverlust lässt sich auf Dauer durch kein noch so heftiges rhetorisches Gefuchtel wieder wettmachen, sondern beschleunigt letztendlich den Auflösungsprozess. Auch die Präsentation neuer äußerer Feinde hilft, anders als in den zurückliegenden Jahrhunderten, schließlich kaum mehr über die inneren Widersprüche hinweg.

2. Kampf der Kulturen – oder der Emotionen?

Neun Jahre nach den Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon werden diese Ereignisse von einigen immer noch als überzeugender Beleg für den von Samuel P. Huntington kurz vor der Jahrhundertwende in seinem gleichnamigen Buch heraufbeschworenen Kampf der Kulturen (New York 1996, Übers.: München 1998) angeführt. Korrekter – wenngleich weniger marktgängig – müsste die Übersetzung des Originaltitels »Zusammenprall der Zivilisationen« lauten, worauf bereits Wolfgang Schluchter in seinem Vortrag Kampf der Kulturen? hinweist; vgl. Schluchter (Hg.): Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg, Weilerswist 2003, S. 25. Der Vorbehalt gegen die griffigere Formel nährt sich weniger aus dem Umstand, dass bei der Übersetzung der – vermeintlich – präzisere Begriff der »Zivilisation« durch den unklarer definierten der »Kultur« ersetzt wurde, sondern gibt eher dem Unbehagen über die polemische Verwendung des Begriffs »Kampf« Ausdruck, die im Deutschen in erster Linie eine gewaltsame Auseinandersetzung bezeichnet: Gewiss kommt es vor, dass Menschen gegeneinander kämpfen, und zwar nicht nur in persönlichen Auseinandersetzungen, sondern auch in institutionellen Zusammenhängen, als Ausführende einer Staatsgewalt, die gegen innere oder äußere Feinde vorgeht. Da ein solcher Kampf aber immer mit dem Risiko der Niederlage verbunden ist, geht ihm eine Entscheidung dafür oder dagegen voraus. Die Abwägung kann selbstverständlich durch ein erhebliches Maß an Verblendung, – Hybris aber auch übertriebene Angst – verfälscht sein, aber sie findet nichtsdestotrotz immer statt, sofern ein Mensch sich nicht blindwütig in einen Kampf stürzt, was aber eine psychische Ausnahmesituation darstellt. Demgegenüber naturalisiert der Topos »Kampf der Kulturen« die stets mögliche (aber eben nicht allgegenwärtige) gewaltsame Eskalation menschlicher Verhältnisse; nicht umsonst wird in diesem Zusammenhang häufig auf die Hobbessche Phantasmagorie des »Krieges aller gegen alle« verwiesen. – Die realen Verhältnisse mit ihren global immer stärker vernetzten Ökonomien sprechen indes einegrundlegend andere Sprache, daran ändert auch der sogenannte »Krieg gegen den Terror« nichts. Was sich hingegen geändert hat, sind die globalen Machtverhältnisse und mit ihnen die Perspektive unter denen Differenzen kultureller, sozialer oder politischer Art betrachtet werden.

Huntington kann zwar bei seinem Versuch einer Prognose über die nach dem Ende des Kalten Krieges zu erwartende »Weltordnung« vage auf die seit den sechziger Jahren etablierten kulturalistischen Diskurse in den Geistes- und Sozialwissenschaften bauen, in denen nach und nach auch Angehörige ehemals kolonialisierter Völker ihre Stimme einbrachten (paradigmatisch, wenngleich nicht unumstritten: Edward Said). Allerdings bleibt sein Kulturbegriff, wie Schluchter zeigt, sehr oberflächlich, und sein tektonisches Modell miteinander in Widerstreit stehender, monolithischer Zivilisationsblöcke spiegelt weder die Realität unserer Welt wider noch vermag es Anhaltspunkte über die künftige Entwicklung der einzelnen Zivilisationen im Kontext einer fortschreitenden Gobalisierung zu geben. Auch der von ihm konstatierte zivilisationsübergreifende Trend weg von der rein säkularen, aufklärerischen Sicht hin zu einer Restauration der Religion als identitätsstiftender Instanz stellt sich für den Heidelberger Soziologen etwas differenzierter dar: »Der religiöse Fundamentalismus ist eine moderne Bewegung gegen die Moderne. Er ist also unzureichend beschrieben, wenn man darin nur den unverstellten Rückgang auf die religiösen Fundamente […] sieht.« (Schluchter 2003, S. 40, Hervorhebungen im Original.) Es gehe ihm vielmehr darum, »die Ausdifferenzierung von Politik und Religion, die ›Entstaatlichung‹ der Religion rückgängig [zu] machen.« (Ebd.) Im Zusammenhang mit der Entstehung des westlichen Modells des »säkularen Verfassungsstaates« ist diese Charakterisierung in erster Linie auf den christlichen Fundamentalismus gemünzt, wie er heute vor allem in den USA anzutreffen ist. Beim Islamismus tritt noch ein weiteres Element hinzu: die Befreiung vom kolonialistischen Erbe des 19. Jahrhunderts. Die politische Weltbühne betrat der islamische Fundamentalismus bereits lange vor dem Ende des kalten Krieges, nämlich mit der »islamischen Revolution« im Iran, in deren Verlauf 1979 das von den USA unterstützte Regime Schah Mohammed Reza Pahlavis gestürzt wurde. Ihren Anfang nahm diese Bewegung bereits in den frühen sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als der Schah Reformen einleitete, mit denen der iranische Staat stärker am Modell des Westens ausgerichtet – sprich: modernisiert – werden sollte (u. a. Landreform und Frauenwahlrecht). Schluchters oben zitierter Aussage zufolge wäre es allerdings irreführend, den islamischen Fundamentalismus aufgrund dieser Oppositionshaltung schlichtweg mit rückwärtsgewandter Orthodoxie (oder schlimmer noch: mit prinzipieller Rückständigkeit, wie dies aus der in der deutschen Journaille verbreiteten pejorativen Bezeichnung »Steinzeitislamisten« für die afghanischen Taliban herausklingt) gleichzusetzen. Diese Kurzschlüssigkeit hat weniger mit politischer oder sozio-kultureller Analyse zu tun als mit dem Selbstverständnis der liberalen Demokratien des Westens, die Inkarnation alles dessen zu sein, was üblicherweise mit »Modernität« in Verbindung gebracht wird: technisch-wissenschaftlicher Fortschritt und ökonomische Prosperität, die beide nach der westlichen Lesart ohne individuelle Freiheit nicht denkbar seien. Abgesehen davon, dass diese Auffassung, historisch betrachtet, zumindest fragwürdig ist, werden dabei unreflektiert Mittel zu Zwecken umgewidmet. Dass auch Islamisten moderne technische Mittel keineswegs rundweg verachten, sollte nicht erst seit dem Erscheinen global vernetzter islamistischer Terrororganisationen wie der Al Kaida bekannt sein: Der relativ lange Zeitraum zwischen dem Ausbruch der fundamentalistischen Opposition im Iran, 1963, und dem letztendlichen Sturz des Schah-Regimes im Jahre 1979 erklärt sich auch daraus, dass erst die herausgehobene Position des Ayatollah Chomeini im französischen Exil (seit 1978) ihm den Zugang zu modernen Massenmedien verschaffte, mit denen er seine Botschaften wirksam verbreiten konnte.

Die holzschnittartige Verkürzung der islamistischen Herausforderung des Westens auf einen ominösen »Kampf der Kulturen« dient im Grunde der Selbstvergewisserung eines Teils des letzteren (mit der Auflösung des Ostblocks hat bekanntermaßen auch dessen auf den Namen »freie Welt« getauftes Gegenstück ein Gutteil seiner Einheitlichkeit verloren); nicht ohne Grund hat Samuel P. Huntington im Jahre 2004 seinem Clash of Civilizations ein Buch mit dem Selbstzweifel und Verunsicherung ausdrückenden Titel Who are We? folgen lassen.

Die Auffassung, dass die Welt nach dem »Zeitalter der Ideologie« (dem 20. Jahrhundert) nun in das »Zeitalter der Identität« eingetreten sei, wird von vielen Autoren, auch solchen, die Huntingtons Ansatz widerprechen, geteilt. Der französische Politikwissenschaftler Dominique Moïsi etwa beschreibt die gegenwärtigen weltpolitischen Auseinandersetzungen als Kampf der Emotionen (München 2009). In seinem explizit als Antwort auf Huntingtons These konzipierten, auf Buchlänge ausgearbeiteten Essay konstatiert er drei vorherrschende Grundbefindlichkeiten, die er den unterschiedlichen Weltregionen zuordnet, und zwar je nachdem, wie sich ihre Situation unter den Bedingungen der forcierten Globalisierung darstellt. Die alten Mächte Europa und die USA sieht er gegenwärtig im Bann einer »Kultur der Angst« (vor ›den Muslimen‹ wie vor dem eigenen Bedeutungsverlust), während er in Asien eine vom wirtschaftlichen Aufstieg Chinas getragene »Kultur der Hoffnung« wahrnimmt, die nach und nach auch in die umliegenden Länder Süd- und Südostasiens und sogar bis nach Afrika ausstrahle, da das Reich der Mitte, anders als die USA, nicht als imperiale Macht wahrgenommen werde. Die islamische Welt schließlich werde in weiten Teilen von einer »Kultur der Demütigung« beherrscht, weil sie sich von den ehemaligen Kolonialmächten um ihre einstmalige Weltgeltung betrogen sehe, wofür die Gründung des Staates Israel nach dem Zweiten Weltkrieg das einschneidendste einer langen Reihe von Symbolen sei. Die Militärpräsenz westlicher Truppen im nahen und mittleren Osten hält die Erinnerung an die Demütigung bis zum heutigen Tag wach.

Moïsis Betrachtung hat, wie er selbst einräumt, den Nachteil, dass es schwer zu begründen ist, ganzen Bevölkerungsgruppen, Nationen oder gar Bewohnern bestimmter Weltregionen eine vorherrschende (d. h. das kollektive Handeln bestimmende) Emotion zuzuschreiben. Auf der anderen Seite stellt er aber die Frage, ob das tradierte Konzept der Geopolitik in unserer heutigen Zeit noch trägt; hier kann er durchaus fundierte Zweifel vorbringen. Der entscheidende Vorteil seines Ansatzes gegenüber dem von Huntington ist, dass der Versuch, kollektiv geteilte Emotionen nachzuvollziehen, den Diskurs wieder auf eine menschlich verständliche Ebene zurückbringt, während die Behandlung kultureller Differenzen, als seien es fundamentale anthropologische Unterschiede, Konflikte nicht nur von vornherein unlösbar erscheinen lässt, sondern sie schlimmstenfalls sogar noch anheizt, indem sie den Antagonismus als Teil der Identität substanzialisiert und so der jeweiligen Seite ein polemisches Argument liefert, an der eigenen Haltung unverrückbar festzuhalten und die der Anderen ebenso unnachgiebig zu verurteilen. Fundamentalismus ist eben kein spezifisches Merkmal des Islam.

3. Exkurs: Identität

Jemand, der dieser Tage von einem längeren Aufenthalt an einem der abgelegeneren Flecken unseres Planeten nach Deutschland zurückkehrte, würde sich nach einem Blick in die Massenmedien zweifellos schockiert fragen, was eigentlich Schlimmes vorgefallen ist, dass eine Bevölkerungsgruppe, die teilweise seit Jahrzehnten friedlich im Lande lebt, sich plötzlich kollektiv unter Verdacht gestellt sieht. In meiner Heimatstadt leben seit eh und je Menschen aus allen Teilen der Welt. Kopftuch tragende türkische Matronen, sommers wie winters in lange Mäntel gehüllt, sind mir seit frühester Jugend ein vertrauter Anblick in unserer Fußgängerzone. Ich könnte nicht sagen, dass es heute mehr sind als früher, eher im Gegenteil: Ihre Töchter geben sich lässiger und modischer, manche mit Kopftuch, manche ohne. Niemand erregt Aufsehen, niemand nimmt Anstoß. Wenn der Heimkehrer mich um Aufklärung über den Grund für die hitzigen Debatten ersuchen würde, müsste ich ihm die Bitte mit bedauerndem Kopfschütteln abschlagen: Ich weiß es nicht.

Lebe ich in einem Multikulti-Idyll? Verweigere ich mich der Realität (wie Herbert Ammon in seinem jüngst in Globkult erschienenen Artikel behauptet)? Gehöre ich gar zu jener »moral minority« (ein vornehmes Synonym für das in den diversen Publikumsforen der großen Tageszeitungen und Medienanstalten grassierende Schimpfwort »Gutmensch«) die in der Verwendung politisch korrekter Sprache einen adäquaten Ersatz für gelebte Tugenden sieht? – Die Antwort auf alle diese Fragen lautet: Ganz sicher nicht. Allerdings bin ich mir meiner Identität so gewiss, dass ich es nicht nötig habe, dem im Alltag mir begegnenden Fremden die Anerkennung zu verweigern, bloß um mich des Eigenen zu versichern.

Als ich in meinem Artikel Die Rückkehr der Brandstifter die Substanzialität Deutschlands bestritt, habe ich damit keineswegs zum Ausdruck gebracht, dass ich den »Begriff Deutschland« für eine »Schimäre« halte. Allerdings macht sich meine Identität nicht an einzelnen Begriffen oder sonstwelchen abstrakten Größen (wie internationalen Vereinbarungen, Verträgen oder theoretischen bzw. ideologischen Gebilden) fest. Meine Identität beginnt ganz konkret: mit meinem Namen. Mein Zuname verweist auf meine Familie, die seit Generationen in der Region um meine Heimatstadt verwurzelt ist. Diese Stadt, die übrigens unter dem preußischen Festungsregime länger und schwerer gelitten hat als unter jeder der zahlreichen Fremdherrschaften, die sie im Laufe ihrer langen Geschichte hat erdulden müssen (Heinrich Heines »Denk ich an Deutschland in der Nacht …« ist direkter Ausfluss einer deprimierenden Erfahrung dieser Drangsal), ist Teil einer unter vielen verschiedenartigen Regionen des föderalistischen Staates namens Bundesrepublik Deutschland, welcher sich, so jedenfalls habe ich es in der Schule und danach noch einmal während meines fünfzehnmonatigen Wehrdienstes im Rahmen des Staatsbürgerkundeunterrrichts gelernt, als freiheitliche, rechtsstaatliche und pluralistische Demokratie versteht und nicht als zentralistischer Einheitsstaat mit Gesinnungspolizei und politischer Justiz.

Dies alles ist Bestandteil meiner Identität. Man sieht, mein Deutschlandbegriff ist nichts weniger als eine Schimäre; er ist, im Gegenteil, sehr konkret – ohne deshalb substanzialistisch zu sein. Einst habe ich gelobt, dieses Land und seine Verfassung gegen äußere Feinde zu verteidigen. Zu diesen zähle ich allerdings nicht Menschen, denen nichts anderes anzulasten wäre, als dass sie nicht meinen Glauben, meine politischen Überzeugungen oder meine Volkszugehörigkeit teilen. Feinde geben sich durch gewaltsame Handlungen zu erkennen, die das Ziel haben, mein Land zu vernichten oder seine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung umzustürzen. Handelt es sich dabei nicht um andere Staaten, sondern um Individuen oder Gruppierungen, die aus dem Inneren heraus agieren, dann bin ich als Staatsbürger aufgerufen, mitzuhelfen, diese in die Hände von Polizei und Justiz zu überführen, um sie an ihrem Tun zu hindern oder, falls es dazu zu spät sein sollte, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Die Justiz – und nicht ich, noch sonst irgendein Bürger – hat dann darüber zu befinden, ob sie schuldig sind oder nicht. Es versteht sich von selbst, dass feindselige Handlungen nicht Gegenstand einer sinnvollen politischen Diskussion sein können. Es versteht sich aber auch von selbst (oder sollte es wenigstens), dass der Bau eines Bahnhofs oder einer Moschee nicht zu dieser Sorte Handlungen gehört.

Ich empfinde es als Segen, in einem Land mit so weitgehenden Freiheiten zu leben, doch ich verstehe auch, dass es Menschen gibt, denen es Schwierigkeiten bereitet, den damit verbundenen Mangel an Zusammengehörigkeitsgefühl auszuhalten. Sie sehnen sich nach einer metaphysischen Instanz, an die nur appelliert zu werden braucht, um kollektives Handeln auszulösen, mit dem eine wirkliche oder vermeintliche Gefahr abgewendet und zugleich die eigene Identität gestärkt werden kann. Die Konfrontation mit Menschen, die noch über eine solche Instanz verfügen (oder dies zumindest glauben) macht es nicht einfacher, mit diesem Mangel umzugehen – aber es bleibt dennoch das Problem derer, die ihn verspüren. Man kann es nicht dadurch lösen, dass man es jenen Anderen aufbürdet, die, womöglich ohne es zu wissen, durch ihre bloße Anwesenheit zum Auslöser für dieses Gefühl werden.

Vielleicht der größte Vorzug der Freiheit, ohne eine solche metaphysische Instanz zu leben, ist, dass mir nicht alles, was meine Mitbürger tun oder sagen, gefallen muss. Ich kann eine Äußerung, eine Handlung zutiefst missbilligen, ohne dass dadurch meine Identität in Frage gestellt wird. Ich wünschte mir, dass viel mehr Menschen in meinem Land (und anderswo) diese Fähigkeit besäßen, dann hätte die »Kultur der Angst« vielleicht keine Chance zu verfangen.

4. Kontinent der Ängste

Dominique Moïsi unterscheidet zwei Typen von Angst, eine positive, die Menschen dazu bewegt, sich anzustrengen, einer Gefahr zu begegnen oder die Herausforderung zu einem Wettbewerb anzunehmen, aus dem schließlich etwas Neues hervorgeht, und eine negative, die lähmt und damit die Gefahr, von der sie ausgelöst wurde, noch vergrößert. Das Europa der Gründerjahre bis hin zur deutschen Wiedervereinigung gilt ihm als Beispiel für erstere. Es entstand aus der Angst heraus, eine mörderische Epoche wie die der Weltkriege könne irgendwann zurückkehren. Der Angst vor abermals überbordenden »patriotischen« Gefühlen verdanke sich das eher unterkühlte Erscheinungsbild der Europäischen Union mit ihrem Übermaß an Bürokratie (das auch Moïsi beklagt) und ihrem Mangel an symbolischer Strahlkraft. Der Angst vor einem erneuten Erstarken einer eigensüchtigen, die Nachbarn terrorisierenden deutschen Nation verdanke sich die Einführung des Euro. Den Moment der Wiedervereinigung beschreibt der Autor als verpasste Chance:

»Ich erinnere mich noch immer an die Reaktionen meiner Freunde im Élyseé-Palast, […], als ich mich ein paar Tage nach dem Fall der Berliner Mauer für eine symbolische Geste der französischen Diplomatie aussprach. Könnten sich der französische Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl nicht am Brandenburger Tor in Berlin die Hand reichen, wie sie es auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges in Verdun getan hatten? In Verdun hatten sie die Pforten der Vergangenheit geschlossen, in Berlin könnten sie symbolisch die Pforten der Zukunft öffnen. Mein Vorschlag wurde sofort als ›romantische Träumerei‹ abgetan. Stattdessen hielt der französische Präsident auf seiner Deutschlandreise an dem bereits in den letzten Zuckungen liegenden Regime in Ostdeutschland fest. Der alternde und kränkelnde Mitterand, dessen historisches Bewusstsein noch ganz der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg verhaftet war, konnte sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass das vereinigte Deutschland in dem Mächtegleichgewicht des neuen Europas eine entscheidende Rolle spielen würde.« (Moïsi 2009, S. 145 f.)

Der Höhepunkt des europäischen Einigungsprozesses war somit zugleich ein Umschlagspunkt. Von da an begann die Angst vor der Zukunft das weitere politische Handeln zu bestimmen. Zugleich begann bei den Menschen fast überall in Europa die Angst vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg zu überwiegen, die heute, nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/08, beinahe alles beherrscht.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erhielten diese Ängste lediglich eine neue, hysterische Tonart. Statt differenziert und angemessen auf die Herausforderung durch den islamischen Fundamentalismus zu reagieren, wird das Gespenst einer Überfremdung durch gebärfreudige, kopftuchtragende Frauen und finstere, bärtige Männer heraufbeschworen. Der Islam wird zur Projektionsfläche all der Ängste, mit denen ein kraftloses, alterndes Europa sich in der neuen, globalisierten Welt konfrontiert sieht. Wie das sprichwörtliche Kaninchen auf die Schlange, starrt es auf seine Statistiken und Schemata und sinnt verzweifelt darüber nach, wie das scheinbar Unentrinnbare vielleicht doch noch aufgehalten werden kann.

Währendessen kehrt man auf der anderen Seite der Welt die Scherben der Krise zusammen und nimmt mit einem Lächeln auf den Lippen die Zukunft in Angriff.

 


II. Der Weg in eine andere Moderne

 

China is the elephant in the room that no one is quite willing to recognize
Martin Jacques

1. Leitkultur – Anspruch und Wirklichkeit

Wenn bei Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, plötzlich ein Integrationsproblem entdeckt und dieses auf deren Glauben heruntergebrochen wird, der mit der »christlich-jüdischen Leitkultur« nicht zu vereinbaren sei, dann steht dahinter unausgesprochen dieselbe Frage, die auch Samuel P. Huntington seinen Landsleuten angesichts einer sich langfristig von den »white anglo-saxon-protestants« hin zu katholischen Mittel- und Südamerikanern sowie Asiaten verschiebenden demographischen Gewichtung gestellt hat: »Who are we?« Die bislang einzige weithin akzeptierte deutsche Antwort darauf, zusammengefasst in der zirrhotischen Formel »Grundgesetz geht vor Scharia!« zeigt, wenn überhaupt etwas, dann nur, wie brüchig das bundesdeutsche Selbstverständnis auch nach sechzig Jahren immer noch ist. Schaut man sich die innerdeutschen Kontroversen der letzten fünfzehn, zwanzig Jahre an, dann könnte man mit Leichtigkeit ein gutes Dutzend Varianten der Parole bilden, die alle so viel oder wenig aussagen würden, wie die aktuell über die Massenmedien hyperventilierte. Beispiele gefällig? – »Grundgesetz geht vor Parteibuch«, »Grundgesetz geht vor Sicherheit«, »Grundgesetz geht vor Vertragstreue«, »Grundgesetz geht vor Zivilrecht«, »Grundgesetz geht vor Selbstentfaltung«, »Grundgesetz geht vor Solidarität« … Die Reihe mag jeder nach Gusto selbst vervollständigen. Der Zahl der Gesetze eingedenk, die in den zurückliegenden Jahren vom Verfassungsgericht kassiert worden sind, könnte man sie allesamt in der Superparole »Grundgesetz geht vor Politik« zusammenfassen. Damit wäre die Absurdität der politischen Freiübungen, die seit der Wiedervereinigung an diversen Schauplätzen vorexerziert worden sind, vollständig auf den Punkt gebracht. Ob dieses Gebaren der Idee einer staatlichen ›Schicksals- und Wertegemeinschaft‹, die unartikuliert hinter der Angstvokabel »Parallelgesellschaften« lauert, förderlich ist, sollten sich all jene selbst beantworten, für die der »Gang nach Karlsruhe« schon beinahe so selbstverständlich geworden ist wie der Gang ins Parlament, sei es, dass eine Mehrheitsentscheidung nicht so ausgefallen ist, wie sie sich das wünschen, oder dass sie, ideologische Hartleibigkeit mit ordnungspolitischer Prinzipientreue verwechselnd, ihre gesellschaftspolitischen Abbruch- und Umbauphantasien auf Biegen und Brechen durchsetzen wollen. Hektischer Reformwut auf der einen korrespondiert patzige Unduldsamkeit auf der anderen Seite – was vor allem eines zeigt: Die Gesellschaft befindet sich nicht in Auf- oder Umbruch, sondern laboriert an einem fortschreitenden Mangel an Gemeinsinn, der sich wie ein Krebsgeschwür durch alle ihre Glieder frisst. Einstweilen läuft der »Standort Deutschland« noch wie eine computergesteuerte Fabrik im automatischen Modus, doch was geschieht, sollten die effizienzgesteigerten Abläufe irgendwann ernsthaft dysfunktional werden (was bis jetzt nur als statistische Projektion im öffentlichen Raum steht), möchte man sich lieber nicht ausmalen. Die Protagonisten dieser Entwicklung mögen sich bitte einmal die Frage stellen, was für eine Art Leitbild man den zurückhaltenden bis vorsichtig geneigten Integrationsaspiranten damit vorlebt, bevor sie darauf bestehen, ihnen Bekenntnisse abzuverlangen, die bislang von keinem gefordert worden sind, der auch nur einen einzigen ›deutschblütigen‹ Vorfahren in seinem Stammbaum nachweisen konnte, geschweige denn von jenen Alteingesessenen, die ihr Geld lieber in dubiosen Liechtensteiner Stiftungen oder anonymen Schweizer Banktresoren horten, als damit in Deutschland neue Arbeitsplätze zu schaffen, und die jeden unvermeidbaren Steuereuro nicht etwa als gerechten Beitrag zum Gemeinwesen verstehen, sondern als Investition, die sich gefälligst für sie persönlich auszuzahlen habe.

Vor diesem Hintergrund ist die »christlich-jüdische Leitkultur« kaum mehr als ein Alibi, mit dem sich der Status quo allenfalls noch eine Weile verteidigen lässt. Den zivilisatorischen Herausforderungen, vor denen wir in den kommenden zwanzig bis fünfzig Jahren voraussichtlich stehen werden, wird dieses, Integrationskurse hin, Hauruck-Reden her, sowenig standhalten wie einst das Gottesgnadentum dem Ansturm der Pariser Bürger. Anders als damals, muss heute zwar niemand akute Furcht vor der Guillotine haben; vorbereitet sollte man aber trotzdem sein. Man kann seinen Kopf nämlich auch durch bloße Angst verlieren.

2. Teure Selbstverständlichkeiten – und ihre kurze Geschichte

Bis 1989 waren wir es gewohnt, die Welt in westlichen Begriffen zu denken. Das Nationalstaatsprinzip, wie es sich aus den dynastischen und Glaubenskämpfen Europas im 17. Jahrhundert herauskristallisiert und im Westfälischen Frieden von 1648 das Vorbild für ein bis heute gültiges System internationaler Beziehungen gefunden hat, wurde im Zuge der Dekolonisation seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Schablone für die bis dahin von den Kolonialmächten abhängigen Völker – also für die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung. Die nach damaligen machtpolitischen Präferenzen erfolgte willkürliche Grenzziehung sorgt noch heute in etlichen Teilen der Welt für blutige Konflikte bis hin zum Völkermord.

Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die kulturellen Zwiste vom übergreifenden Ost-West-Antagonismus eher zugedeckt als beseitigt. Dass sie nicht frühzeitig wahrgenommen wurden, ist vor allem auf den universalistischen Anspruch des europäischen Modernebegriffs zurückzuführen, der, wie gesagt, auch vom kommunistischen Osten geteilt wurde. Wie sehr der Ausbruch der ethnisch und religiös motivierten Auseinandersetzungen – selbst auf dem europäischen Kontinent – nach 1989 die westlichen Politiker und Intellektuellen überrascht hat, zeigen die hilflosen Reaktionen auf die Balkankrise. Nur durch das – wiederum machtpolitisch motivierte – Engagement der USA konnte diese einigermaßen eingedämmt werden. Als Folge wurde das politische Ansehen der EU wie auch der UNO nachhaltig geschwächt. Die anschließende Periode des US-amerikanischen Unilateralismus bezog ihre Legitimation wiederum aus der Prämisse, der demokratische Nationalstaat westlicher Prägung sei quasi das ›natürliche‹ Ziel und Ende des Zivilisationsprozesses. Diese Annahme ist nicht nur institutionell in den internationalen Organisationen und Gremien wie der UNO, der Welthandelsorganisation oder den G8 verankert, sondern sie steckt – unreflektiert – auch in Termini wie »Entwicklungsland« oder »Schwellenland«, mit denen die aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangenen Staaten der sogenannten »Dritten Welt« (auch dies ein solcher Terminus) nach wie vor bedacht werden.

Paradigma für die »Entwicklung« eines Landes ist die industrielle Revolution, die Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien eingesetzt hat. Ökonomisch ist damit der Übergang von der agrarischen Subsistenzwirtschaft zur kapitalistischen Überschussproduktion gemeint. Für die Bevölkerung bedeutet es, dass ein Großteil der Menschen, die zuvor in kleinen Gemeinden lebten und mit manueller Arbeit in der Landwirtschaft oder Handwerksbetrieben beschäftigt waren, nun mehrheitlich in den Ballungszentren versammelt sind, wo sie einer Lohnarbeit in einem vom Wohnsitz getrennten Betrieb nachgehen. Haben sie zuvor den Hauptteil dessen, was sie zum Leben benötigen, selbst angebaut und hergestellt, so müssen sie nun alles auf dem Markt kaufen. Von Anfang an hat diese epochale Transformation zwei grundlegende Probleme aufgeworfen, für die bis heute keine allgemeingültigen (d. h. konfliktfreien) Lösungen gefunden worden sind: Das erste betrifft die angemessene Höhe der Löhne, das zweite die Frage nach den Abnehmern der Überschussproduktion. Ersteres wurde bis in die Hochphase der kapitalistischen Entwicklung Europas hinein anhand der ›wissenschaftlichen‹ Bestimmung der Reproduktionskosten der Arbeitskraft zu beantworten versucht (woran man schon sehen kann, dass das wechselseitige Begründungsverhältnis von demokratischer Freiheit und Marktwirtschaft keineswegs so eindeutig ist, wie heute ständig behauptet wird).

Das zweite Problem berührt direkt das Verhältnis zwischen den klassischen Industrieländern und ihren Kolonien bzw. den daraus hervorgegangenen Entwicklungsländern und hier insbesondere den beiden bevölkerungsreichsten: Indien und China. Bevor nämlich mit dem Aufstieg der USA als Industrienation die Arbeiter selbst als Käufer der von ihnen hergestellten Waren entdeckt wurden, lieferten die britischen Industriellen ihre Produkte, in der Hauptsache maschinell hergestellte Tuche, nach Indien und machten auf diese Weise dem dort hoch entwickelten Handwerk Konkurrenz. Auch wenn die Aussage von Marx, Ghandi und anderen, die britischen Exporte hätten dem indischen Tuchgewerbe vollständig den Garaus gemacht, in dieser Radikalität wohl nicht haltbar ist, wurde der Subkontinent durch begleitende administrative Maßnahmen mehr oder weniger auf die Rolle des abhängigen Rohstofflieferanten reduziert: Die britische East India Company (der, wenn man so will, erste globalisierte Konzern der Welt) übernahm ab dem 18. Jahrhundert nach und nach die Verwaltung der regionalen Fürstentümer, legte Zölle fest und trieb Steuern ein.

Mit dem Reich der Mitte sollte diese Strategie zunächst nicht aufgehen. Seit frühester Zeit war Europa an chinesischen Waren interessiert. Vor allem Seide und Porzellan wurden, zuerst auf der legendären Seidenstraße, später dann auf dem Seeweg, in die »Alte Welt« transportiert. Im 17. Jahrhundert kam noch der Tee hinzu. Dieser Handel war überaus defizitär für Europa. Nur durch die Ausbeutung der Silberbergwerke in den südamerikanischen Kolonien konnte er so lange aufrechterhalten werden.

Ab den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts sannen die Briten auf Abhilfe. In stark wachsendem Umfang (vgl. Jacques Gernet, Die chinesische Welt, Frankfurt am Main 1988, S. 451) boten sie das in Indien gewonnene Opium in Kanton (Guangzhou), dem einzigen Hafen, der ihnen offenstand, im Tausch gegen Silber an, für das sie dann Tee für die heimischen Märkte kaufen konnten. Schon bald wurde der Opiumhandel an freie Kapitäne vergeben, während der Teehandel zunächst in der Hand der East India Company verblieb. Als der chinesische Kaiser Daoguang schließlich den Opiumhandel verbot und seinen eigens dafür entsandten Beamten Lin Zexu rigoros gegen die Händler vorgehen ließ, überredeten die mächtigsten unter ihnen mit einer gut gefüllten Kriegskasse die britische Krone zu militärischem Eingreifen. Der erste Opiumkrieg (1839-42) führte zur Öffnung von fünf Häfen für den Freihandel und zur Abtretung Hongkongs an Großbritannien – und leitete den Niedergang des chinesischen Kaiserreichs ein.

Auf der britischen Seite, das wird beim Nacherzählen dieser Geschichte, wenn überhaupt, eher beiläufig abgehandelt, stärkte dieser gewaltsame Schritt die Position der Freihändler gegenüber der East India Company, die in der Folgezeit all ihre Schiffe verkaufte und zur reinen Verwaltungsgesellschaft für Indien mutierte, bevor eine Meuterei der von ihr rekrutierten einheimischen Soldaten, der sogenannte Sepoy-Aufstand, im Jahre 1857 die britische Krone veranlasste, die Herrschaft direkt zu übernehmen. Die East India Company wurde aufgelöst, während aus den, nun in Hongkong ansässigen, Opiumhändlern mächtige Handelsgesellschaften wurden, die, wie etwa Jardine Matheson & Co., teilweise bis zum heutigen Tage noch existieren (Jardine Matheson Holdings, heute mit offiziellem Sitz auf den Bermudas).

Es ist die Geschichte der letzten 200 Jahre, die ihren langen Schatten bis in die Gegenwart hinein wirft und zu großen Teilen das Bild bestimmt, das viele in den sogenannten »entwickelten Ländern« vom »Rest der Welt« haben. Der Aufbruch Europas in diese Weltordnung, gut 300 Jahre zuvor, war dagegen noch von ganz anderen Bildern und Geschichten motiviert. Christoph Columbus und die ihm nachfolgenden Seefahrer, die sich auf den Weg machten, einen Seeweg nach Indien zu erkunden, wurden von den durch frühere Kulturkontakte vermittelten Nachrichten über die märchenhaften Reichtümer des »Orients« angezogen. Die Anerkennung der fernöstlichen Kulturvölker schwand erst nach der endgültigen Loslösung der Vereinigten Staaten vom britischen Mutterland im frühen 19. Jahrhundert, wie Wolfgang Reinhard in seinem Buch Geschichte der europäischen Expansion (Stuttgart 1988, 4 Bde.) ausführt: »Europa vergaß seine Bewunderung für die Inder und Chinesen und hielt die Kulturvölker des Ostens hinfort für inferior und korrupt.« (Bd. 3, S. 9.) Dieses Vorurteil hat sich so tief in die Gemüter der Europäer eingegraben, dass der rasche Aufstieg Japans im Zuge der Reformen der Meiji-Epoche lange Zeit als große Ausnahme gehandelt und die Japaner eher dem Westen als der asiatischen Welt zugeordnet wurden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Land von den USA eine demokratische Verfassung diktiert bekam, um in den folgenden dreißig Jahren zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufzusteigen, hat sich diese Meinung noch verfestigt. Dass sie zu großen Teilen eher westlichem Wunschdenken als der politischen Realität entspringt, beginnt sich erst jetzt, mit dem Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht mit Weltgeltung, allmählich zu zeigen.

3. Nationalstaats- und Zivilisationsstaatsprinzip – zwei unterschiedliche Konzepte mit Universalitätsanspruch

Der britische Autor und Columnist Martin Jacques hat mit seinem Buch When China Rules the World. The Rise of the Middle Kingdom and the End of the Western World (London 2009) eine profunde Studie über die zu erwartenden wirtschaftlichen, geopolitischen und kulturellen Einflüsse der sich in Asien abzeichnenden Entwicklung vorgelegt. Seine langjährigen Erfahrungen als Journalist und Dozent an verschiedenen Universitäten im asiatischen Raum haben ihn dazu gebracht, den Gedanken, dass »Modernisierung« mit »Verwestlichung« gleichzusetzen sei, in Frage zu stellen. Vielmehr sieht er ein Zeitalter kommen, in dem kulturelle Unterschiede zu mehreren miteinander in Wettstreit stehenden Ausprägungen von Modernität führen werden: »[…] we are witnessing the birth of a world of multiple and competing modernities.« (S. 11.) Als »klassisches Beispiel« dient ihm die Entwicklung Japans: »[…] Japan remains, notwithstanding the fact that it is at least as advanced as the West, very different from its Western counterparts in a myriad of the most basic ways, including the nature of social relations, the modus operandi of institutions, the character of the family, the role of the state and the manner in which power is exercised. By no stretch of the imagination can Japanese modernity be described as similar to, let alone synonymous with, that of the United States or Europe.« (S. 111.)

Den wichtigsten Unterschied sieht Jacques darin, welche Rolle die Menschen dem Staat zuerkennen. In Europa hat sich, ausgehend von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Revolution, die Auffassung von der Notwendigkeit einer Machtbalance zwischen den entgegengesetzten Polen Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft herausgebildet. Nur in politischen Ausnahmesituationen wie Kriegen oder Krisen versammelt sich das Staatsvolk hinter seiner Führung, um gemeinsam gegen einen äußeren Feind vorzugehen.

Den größten Teil seiner Geschichte war das Nebeneinander von Völkern und Nationen in Europa von Rivalitäten und Auseinandersetzungen bestimmt. Wie oben dargestellt, hat die koloniale Expansion das Nationalstaatsprinzip in teilweise sehr willkürlicher und gewaltsamer Manier auf den Rest der Welt übertragen. Die Nationalstaatsbildung, wie sie sich außerhalb Europas zuerst bei den Siedlerkolonien in Nord- und Südamerika sowie Australien und Neuseeland abgespielt hat, ist dabei zum integralen Bestandteil des Verständnisses von Modernisierung geworden.

Unter diesem Blickwinkel müsste das Reich der Mitte wegen seiner Ausdehnung und der auf seinem Territorium versammelten Diversität an Völkerschaften eher als Imperium denn als Nationalstaat angesehen werden. Allerdings wäre ein Vergleich mit den verflossenen Imperien der vorderasiatischen, mediterranen und europäischen Welt ziemlich irreführend, wie Jacques ausführt. Dagegen sprächen nicht nur die lange Dauer der Existenz Chinas in seiner heutigen Gestalt und der Umstand, dass Han-Chinesen (sogenannte »ethnische Chinesen«) die bei weitem überwiegende Bevölkerungsmehrheit darstellen. Wichtiger als ethnische Zugehörigkeit (dieser Aspekt gewann – abgesehen von den Diskriminierungen der Chinesen durch die mongolischen Eroberer im 13. Jahrhundert – erst im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung, als mehr und mehr europäische Mächte und schließlich Japan das geschwächte China bedrängten; vgl. Jacques, S. 243 f.) oder historische Gebietsansprüche (die überwiegend im Zusammenhang mit den durch Bürgerkrieg und ausländische Okkupation verlorenen Territorien eine Rolle spielen) ist das Bewusstsein, einer besonderen Zivilisation anzugehören, die sich in den mehr als zweitausend Jahren ihrer Existenz (wenn man von der Einigung Chinas unter der Qin-Dynastie im Jahre 221 v. Chr. als herausragendem Datum ausgeht; die eigentlichen Wurzeln sind noch viel älter) als die Zivilisation schlechthin verstand. Sie beeinflusste benachbarte Länder wie Birma, Vietnam, Korea und Japan, und sie überstand Eroberungen durch fremde Völker wie Mongolen und Mandschu. Deren Herrscherdynastien, die Yuan bzw. Qing übernahmen das fortschrittliche Verwaltungssystem Chinas und, in Teilen, die Kultur.

Die zentralisierte Macht, die von den Qin etabliert wurde, lässt sich mit nichts vergleichen, was sich zu jener Zeit sonst irgendwo auf der Welt an Staatsideologie oder Herrschaftsordnung herausgebildet hat. Jacques Gernet beschreibt es in seinem universalgeschichtlichen Klassiker Die chinesische Welt so: »Das Gesetz ist vielmehr, als objektiver, öffentlicher und über allen stehender Begriff, der abweichende Auslegungen nicht zuläßt, das Instrument einer hierarchischen Einstufung der Individuen aufgrund eines allgemeinen Maßstabs von Würdigkeit und Unwürdigkeit, Verdienst und Verschulden. Gleichzeitig ist es das allmächtige Instrument, mit Hilfe dessen die einzelnen Aktivitäten in die für die Macht des Staates und den öffentlichen Frieden günstigste Richtung gelenkt werden können. Da es seinem Wesen nach eine Ordnung schaffen soll, kann es nicht mit der Natur der Dinge und der Menschen in Widerspruch stehen.« (S. 78 f.) Es handelt sich also um eine säkulare, hierarchische Ordnung mit universalem Anspruch. Anders als die europäische Ordnung, zu deren Begründung sich seit Rousseau die Fiktion vom »Gesellschaftsvertrag« eingebürgert hat, ist die chinesische demnach absolut (aber nicht notwendigerweise totalitär, denn das oberste Prinzip ist nicht ein bestimmender Wille, sondern die Harmonie aller Glieder). Im Westen hat sich für diese Ordnung der Begriff »Konfuzianismus« eingebürgert. Auch Martin Jacques verwendet ihn zur Beschreibung dessen, was er »the middle kingdom mentality« (Jacques 2009, S. 233-272) nennt, doch anders als Huntington sieht er die chinesische Zivilisation nicht als Block an, der in einem ideologischen Konfliktverhältnis zum Westen steht. Die Herausforderung, von der er spricht, entsteht einfach dadurch, dass China seinen eigenen Weg der Modernisierung geht, das adaptiert, was ihm nützlich erscheint und ablehnt, was die Ordnung stören oder die Einheit des Staates gefährden könnte. Die zahlreichen Fehleinschätzungen von Seiten des Westens seit der Öffnung des Landes sind für den Autor klare Indizien für das breite Missverständnis der chinesischen Zivilisation. So wurde etwa nach der Einführung der wirtschaftlichen Reformen erwartet, dass der Modernisierung der Öknonomie die Demokratisierung nach westlichem Muster folgen würde, nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 wurde über eine Destabilisierung des Staates analog jener der Sowjetunion spekuliert, und die Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik im Jahre 1997 war von der Furcht begleitet, dass über kurz oder lang das dortige politische und wirtschaftliche System der kommunistischen Ideologie geopfert werden würde. – Nichts von alldem ist eingetroffen. Stattdessen hat die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/08 den ökonomischen Aufstieg des Reiches der Mitte noch beschleunigt. Wenn sich heute der Westen von China einen signifikanten Beitrag zur Erholung der Weltwirtschaft erhofft, gleichzeitig aber dem Land und seiner politischen Führung die adäquate Anerkennung verweigert, dann weckt dies Erinnerungen an die Zeit der Demütigung des Kaiserreiches durch die westlichen Kolonialmächte. Unmotiviertes Festhalten des Westens am Vorurteil der eigenen Überlegenheit birgt so ein wesentlich größeres Konfliktpotential als alle kulturellen Unterschiede zusammengenommen.

Bereits heute sieht Jacques einen Wandel im Verhältnis zwischen der Volksrepublik und seinen südostasiatischen Nachbarn. Gerade die engsten Verbündeten der USA, Japan und Südkorea, beginnen sich wieder mehr an China auszurichten. Ähnliches, wenngleich in abgeschwächter Form, gilt auch für die Philippinen. Daher erscheint es ihm nicht ausgeschlossen, dass das Westfälische System souveräner Nationalstaaten, die sich auf internationalem Parkett als Gleiche begegnen, langfristig durch Elemente des alten Tributsystems abgelöst werden könnte. Vor dem Einfall der europäischen Kolonialmächte war das chinesische Kaiserreich das zivilisatorische Zentrum, an dem die umliegenden Staaten sich orientierten. Der jüngst bekannt gewordene Fall der Festnahme eines chinesischen Fischers durch japanische Küstenpatrouillen, dessen umgehende Freilassung von Beijing gefordert und auch erreicht wurde, erhält vor diesem Hintergrund eine ganz neue Bedeutung.

Allerdings läuft das, was Martin Jacques beschreibt, nicht einfach auf die Restauration älterer geschichtlicher Verhältnisse hinaus. China ist heute auch ein Nationalstaat unter anderen im internationalen Konzert, ein Staat mit eigenen Interessen, insbesondere was den Handel und die Versorgung mit Rohstoffen und zunehmend auch mit Nahrungsmitteln angeht. Die Globalisierung hat nicht nur einen fundamentalen Einfluss auf die Gewichtung der Machtverhältnisse, sondern auch auf die Mittel, sie durchzusetzen. Die USA verlassen sich als stärkste Militärmacht mit schwindendem ökonomischen Einfluss zunehmend auf ihre sogenannte »hard power«, um anderen Ländern ihren Willen aufzuzwingen und gegebenenfalls einen politischen Systemwechsel zu erzwingen. China verfolgt demgegenüber seit der Hochzeit des Kalten Krieges eine Politik der »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten« anderer Staaten (eine Haltung, die seiner Führung den Ruf eingebracht hat, rücksichtslose Diktaturen wie die im Sudan und Zimbabwe zu unterstützen). Was aus einer moralischen Perspektive heraus fragwürdig sein mag, entspricht allerdings eher den völkerrechtlichen Gepflogenheiten als der vom Westen praktizierte gewaltsame »regime change«, der zudem, was die eingesetzten Mittel (und bisweilen auch die Ziele) angeht, ebenfalls moralisch fragwürdig ist.

Dem westlichen Sendungsbewusstsein steht die fernöstliche Geduld gegenüber. China kann sie sich zweifellos leisten. Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten sprechen ebenso für das Reich der Mitte wie die Haltung seiner Bevölkerung gegenüber dem eigenen Land und seiner Führung. Während in Europa die Zustimmung der Menschen zu den eigenen Regierungen mehr und mehr schwindet, sehen die Chinesen ihre Lage trotz aller Defizite, die keineswegs geleugnet werden, überwiegend positiv und vertrauen ihrer Führung(vgl. Jacques S. 219 ff.). Das muss nicht so bleiben, aber momentan erscheint jedenfalls die behauptete Überlegenheit des Westens weniger begründet denn je.

 


III. Kooperation – die Zukunft der Globalisierung

 

Der Fürst von Schä fragte nach dem Wesen der Regierung.
Der Meister sprach: »Wenn die Nahen erfreut werden
und die Fernen herankommen.«

Konfuzius, Gespräche XIII 16.

1. Der schiefe Blick

Die uneingestandene Angst vor dem Bedeutungsverlust hat die in die Jahre gekommene Europa sehr mitgenommen. Ihre Gesichtszüge sind von Überheblichkeit und Argwohn verzerrt, ihr mürrisches Lächeln gleicht einem Zähnefletschen (besonders gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen) und ihren schielenden Blick verbirgt sie hinter einer dicken Brille mit verschiedenfarbigen Gläsern, einem rosaroten und einem tiefschwarzen. Durch das eine starrt sie beständig auf ihren Bauchnabel, während das andere ihr ein schemenhaftes Abbild von der Welt zeigt. Was sie dort sieht, vergrößert ihre Angst, und ihre Miene wird noch hässlicher und härter. – Ob Zeus sich heute noch in sie verlieben würde?

Der eurozentrische Blick hat in der Vergangenheit verheerende Folgen gezeitigt, von denen einige, wie im letzten Abschnitt dargelegt, bis in die Gegenwart hineinwirken. Die Verzerrungen, die er heute erzeugt, kann man u. a. an dem schiefen, widersprüchlichen Bild erkennen, das sich einem von China bietet, wenn man in unsere aktuelle Tagespresse schaut: Da ist auf der einen Seite das Milliardenvolk mit seiner prosperierenden Wirtschaft, die uns billige Produkte des täglichen Bedarfs beschert (auf diese Weise die schwindende Kaufkraft des hiesigen Mittelstands wenigstens teilweise kompensierend) und zunehmend auch als Absatzmarkt für unsere teuren High-tech-Produkte in die Bresche springt, da die darniederliegende Ökonomie der USA als Zugpferd der Weltwirtschaft bis auf weiteres ausfällt; auf der anderen Seite nehmen wir die »kommunistische Diktatur« mit ihren Polizeistaatsmethoden und ihrer politischen Justiz als eine Art Doppelgänger des verblichenen Sowjetsystems wahr. Ihre Dissidenten verwandeln wir, ob sie es wollen oder nicht, in traurige Ikonen eines ›westlichen‹ Bürgersinns, der uns daheim weitgehend abhanden gekommen ist oder, wo nicht, sehr schnell, wie Ende September in Stuttgart geschehen, als lästig und fortschrittsfeindlich gebrandmarkt und bei erster sich bietender Gelegenheit niedergeknüppelt wird. Und dann ist da noch das China, das ›unser‹ geistiges Eigentum stiehlt, ›unsere‹ Rohstoffe aufbraucht, ›unsere‹ Umwelt verschmutzt, ›unsere‹ Milch trinkt … Die Reihe der Vorwürfe ist endlos, während die Dankbarkeit für den raschen Aufschwung nach der großen Krise schon ein Ende findet, sobald Chinesen einmal nicht als Käufer ›unserer‹ Produkte, sondern als Investoren auftreten.

Derselbe Blick trifft auch Menschen aus islamischen und anderen fremden Kulturen. Allenfalls als Fachkräfte sind sie uns noch willkommen. Doch auch in dieser Rolle schlägt ihnen, bevor sie überhaupt Fuß gefasst haben, schon der Argwohn entgegen. Mit allerlei Regeln und Tests soll ihre Kompatibilität mit ›unserem‹ wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System sichergestellt werden, bevor man ihnen die Erlaubnis erteilt, die Konkurrenzfähigkeit ›unserer‹ Industrie zu erhalten (wozu wir aus eigener Kraft anscheinend nicht mehr in der Lage sind). Die beinahe ein halbes Jahrhundert alte Mahnung von Max Frisch, »man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen«, ist offenbar längst in Vergessenheit geraten. – Indem ich dies niederschreibe, höre ich bereits das Echo jenes hasskeuchenden »Gutmensch!«-Geheuls aus den finsteren Höhlen deutscher Leitkulturwölfe hallen. Indessen, was will man denn damit zum Ausdruck bringen: dass Menschen am ›Standort Deutschland‹ nicht geduldet werden?

Fast könnte es so scheinen. Das angestrebte »System für eine zielgerichtete Zuwanderung« (http://www.tagesschau.de/inland/zuwanderung138.html, abgerufen: 25. Oktober 2010), das der Bundesarbeitsministerin offensichtlich vorschwebt, reduziert Menschen auf ihre für die deutsche Wirtschaft nützlichen Qualitäten. Der von ihnen mitgebrachte kulturelle Hintergrund interessiert nur insoweit, als er »zu uns passen« soll. Es liegt auf der Hand, dass hier nicht die vielbeschworene »christlich-jüdische Leitkultur« die Feder führt, sondern eine ganz und gar technokratische Auffassung von »policy making« und »governance«. Die »Leistungsträger« dieser obskuren (Un-)Kultur hat Samuel P. Huntington völlig zu Recht mit dem despektierlichen Ausdruck »Davos man« belegt.

Derselbe Reduktionismus liegt auch der vom Westen verfolgten Politik des gewaltsamen »regime change« zugrunde. Man geht einfach davon aus, dass alle Menschen im Prinzip über den gleichen minimalistischen Fundus moralischer Überzeugungen verfügen, der sie die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts als erstrebenswerte Regierungsform und den auf seine »Kernkompetenzen« sich beschränkenden »Nachtwächterstaat« als geeignetes Instrument zur Gewährleistung ihrer individuellen Freiheit ansehen. Erst nach einem Jahrzehnt des »Krieges gegen den Terror« mit Hunderttausenden Toten beginnt einigen unserer verantwortlichen Politiker langsam zu dämmern, dass die Dinge wohl doch nicht so einfach liegen.

Auf eine selbstkritische Reflexion wartet man indessen vergebens. Lieber wird das atemlose Reformtempo noch einmal angezogen. Sie denken über »Effizienzsteigerung«, »Ressourcenallokation« und eben »Systeme für eine zielgerichtete Zuwanderung« nach. Danach, was die Menschen, »nahe« und »ferne«, wollen, fragt niemand. Wissen sie es? – Nein. Glauben sie es zu wissen? – Zweifellos. Aber solange der Gedanke, dass man sich darüber auch irren kann, keinen Raum erhält, wird es schwerlich einen Ausweg aus der Sackgasse geben, in die wir uns manövriert haben.

2. Negative Freiheit

Ein Teil der kulturellen Mißverständnisse, denen Martin Jacques mit seinem Buch entgegenzutreten versucht, lassen sich auf das heute in den meisten westlichen Ländern vorherrschende Freiheitsverständnis zurückführen, das der kanadische Philosoph Charles Taylor in Anlehnung an Isaiah Berlin als »negative Freiheit« bezeichnet (vgl. Negative Freiheit? Frankfurt am Main 1999. Darin: Der Irrtum der negativen Freiheit, S. 118-144). In seiner krudesten Form gehe dieser Freiheitsbegriff auf Jeremy Bentham bzw. Thomas Hobbes zurück, die Freiheit lediglich als »Abwesenheit von externen physischen oder gesetzlichen Hindernissen begreift.« (S. 119.) Die utilitaristischen Vordenker des Liberalismus interpretieren ihn »ausschließlich im Sinne der Unabhängigkeit des Individuums von der Einmischung anderer […], sei es in Gestalt der Regierung, von Körperschaften oder von Privatpersonen; […]« (S. 118). In seiner unreflektierten Form ist er die Grundlage des in den westlichen Demokratien mit jeweils leicht unterschiedlichen Präferenzen praktizierten Pluralismus der Lebensstile, der prinzipiell alles als Privatangelegenheit behandelt, solange es nicht gegen bestehende Gesetze verstößt.

In seinem Aufsatz weist Taylor auf die inneren Widersprüche dieses Freiheitsbegriffs hin. Letztendlich läuft seine Argumentation darauf hinaus, durch Analyse sogenannter »starker Wertungen« (vgl. Taylor 1999, S. 11 u. ö.), die gegen die »schwachen Wertungen« einfacher, aus konkurrierenden Wünschen resultierender Handlungsalternativen abgegrenzt werden, eine durch die krude Freiheitsdefinition verschüttete Dimension kulturellen Handelns freizulegen, die nicht ohne Verlust auf ein individuelles Interessenkalkül reduziert werden kann. Auf diese Weise soll Terrain, das in der zweiten Hälfte des 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert an materialistische und positivistische Positionen verloren gegangen ist, wieder zurückgewonnen werden.

Wie oben dargelegt, gehört es bislang zum westlichen Selbstverständnis, solche »starken Wertungen« – gemeint sind damit Urteile über wünschenswertes bzw. verächtliches Handeln, also solche, die auf internalisierten ethischen Normen basieren – bei fremden Kulturen als Zeichen der Rückständigkeit zu deuten, d. h. unser Freiheitsbegriff führt direkt zur Abwertung solcher Kulturen. Da die Idee des Pluralismus einen derartigen Schritt eigentlich nicht zulässt, geht man bei uns dazu über, dem positiven Recht eine symbolische Dimension zuzuschanzen, die dieses von sich aus nicht hat. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das jüngst von der ›bürgerlichen‹ Koalition beschlossene Verbot der sogenannten »Zwangsheirat«. Eine kulturelle Praxis, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein auch in Deutschland durchaus noch ihre – bürgerlichen – Anhänger hatte (zumindest in der negativen Form des Verbots »nicht standesgemäßer« Eheschließungen durch die Eltern) und deren gewaltsame Durchsetzung bereits durch das bislang bestehende Recht unter Strafe gestellt ist (»schwere Nötigung«, »Freiheitsberaubung« usw.) wird durch explizite Aufnahme in das deutsche Strafrecht stigmatisiert, ohne dass dadurch die rechtliche Position der betroffenen Personen verbesssert würde (ungeachtet der Tatsache, dass von einer arrangierten Ehe ja immer zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts betroffen sind, werden a priori nur die Frauen als ›Opfer‹ angesehen; beim Bräutigam wird offenbar generell unterstellt, dass er mit der Brautwahl seiner Eltern einverstanden ist). Lediglich neue Ansprüche auf staatliche Unterstützung sind durch die mit dem Gesetz verbundenen Änderungen im Rückkehrrecht geschaffen worden. Damit hat die schwarz-gelbe Koalition nichts weniger getan als den »Kampf der Kulturen« in verbindliche Rechtsform zu gießen – und Deutschland qua Rechtsprechung auf eine bestimmte politische Linie festzulegen (diese Neigung zum ›Kreuzzug‹ aus Gründen, die dem Liberalismus inhärent sind, analysiert Ulrich Schödlbauer eingehend in seinem Aufsatz Croces Türken. Kreuzzüge im liberalen System. Vgl. Iablis 4. Jahrgang: Übersprungene Identität. Von Proto-Nationen und Post-Existenzen. Heidelberg 2005, S. 92-107).

Der Fall kann durchaus als paradigmatisch dafür angesehen werden, dass die auf einen negativen Freiheitsbegriff gegründete Kultur sich letztendlich selbst ad absurdum führt. Da starke Wertungen genauso wie schwache behandelt werden, also keinerlei allgemeine Verbindlichkeit mehr besitzen dürfen, muss der Staat nicht nur mit seinem Gewaltmonopol dafür sorgen, dass kodifizierte Normen auch tatsächlich eingehalten werden, sondern er muss vermehrt dazu übergehen, solche Normen selbst zu definieren: War am Ausgangspunkt des liberalen Systems alles Privatangelegenheit, so ist es am Ende nichts mehr, d. h. um die Freiheit zu retten, ist der Staat gezwungen, sie zu zerstören. Im Grunde verhalten wir uns wie der Paranoiker, der aus Angst vor dem nur in seiner Einbildung existierenden Mörder Selbstmord begeht.

Im Falle der fremden Kulturen rettet uns vorderhand die Abgrenzung vor der Einsicht in diese Konsequenz. Jedoch können wir nicht dabei stehenbleiben, denn letztendlich ist jede Norm, die das Funktionieren der Gesellschaft sicherstellen soll, davon betroffen. Das fängt bei Vorschriften zur Mediennutzung (Zensur) an und geht über ›Präzisierungen‹ bei der Ausgestaltung von Vertragsverhältnissen, der Finanzberatung, Lebensmittelqualität usw. bis hin zu den Grundrechten. Die stete Verengung des Netzes von Vorschriften führt zusammen mit der symbolischen Überfrachtung des Rechts bei den betroffenen Bürgern zu einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Staat. Einerseits erscheint er als die Freiheit verschlingender Moloch, während andererseits von ihm die Lösung all jener Probleme und Konflikte erwartet wird, zu der der Einzelne sich selbst nicht mehr in der Lage sieht, weil damit womöglich die Aufgabe eines und sei es auch noch so kontingenten Stückchens der verbliebenen Möglichkeiten zur ›Selbstverwirklichung‹ verbunden wäre. Solch ein Dilemma hält keine Gesellschaft lange aus, ohne auf kompensierende Maßnahmen zurückzugreifen, mit denen das vermeintlich nicht Fassbare ›rationalisiert‹ wird. Wenn die Wertentscheidungen ganz und gar dem Inneren des Individuums angehören sollen, also weder artikuliert noch durch Argumente beeinflusst werden können, dann verschiebt sich die Auseinandersetzung um richtiges beziehungweise falsches Handeln zwangsläufig auf jene gesellschaftlichen Institutionen, die aufgrund ihrer systemischen Funktionalität noch nicht ihre Legitimität als ›objektive‹ Machtzentren eingebüßt haben – oder eben auf die Sprache selbst als gewissermaßen ›systemübergreifende‹ Instanz.

3. Das Ringen um Deutungshoheit – strategische Präferenzen

Der in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von den Sozial- und Geisteswissenschaften vollzogene Cultural Turn führte, wie oben angedeutet, zu einem erweiterten Verständnis kultureller Differenz und zu einer gewissen Relativierung der westlichen Perspektive (der sogenannten Zivilisationstheorien »toter, weißer Männer«, wie sie später in denunziatorischer Absicht genannt wurden). Diese Einsichten beeinflussten auch den Kampf der Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte sich die Praxis der Political Correctness (PC), die einen erzieherischen Anspruch verfolgt, indem sie bestimmte Begriffe und Themen zu tabuisieren versucht, weil sie in diesen eine sprachliche Diskriminierung sieht.

Die in den heutigen politischen Auseinandersetzungen verbreitete Form der PC tendiert dazu, absichtsvoll gedankenlose oder polemische Verwendungen stigmatisierter Begriffe misszuverstehen und sie zum Anlass zu nehmen, Personen, die darauf zurückgreifen, zu diskreditieren, um so unliebsame Diskussionen zu unterbinden. Auf der anderen Seite wird aber auch das Wissen um die Neigung zur PC beim politischen Gegner gezielt ausgenutzt, um durch provokativen Gebrauch solcher Tabubegriffe oder maßlose, an den Haaren herbeigezogene Vergleiche mit Tabuthemen entsprechende Reaktionen hervorzurufen und damit berechtigte Kritik von vornherein zu desavouieren. Darüber hinaus hat der gezielte Tabubruch natürlich seit jeher den Zweck, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In der heutigen Mediengesellschaft genügt er in der Regel sogar schon, dem Provokateur das Image eines kühnen ›Freigeists‹ zu verschaffen.

Es liegt auf der Hand, dass die mit dem Begriff der Political Correctness verbundenen rhetorischen Strategien und Gegenstrategien für sich genommen schon den Prozess der demokratischen Meinungsbildung ernsthaft stören und sogar zum Erliegen bringen können. Was in Deutschland die Bedingungen der politischen Debatte zusätzlich erschwert, ist, dass das stärkste historische Tabu eng mit der Frage der nationalen Identität zusammenhängt: die Verbrechen der Nazizeit. Die Hintergründe dieser Tabuisierung sind allerdings sehr viel komplexer und ernster, als dass man ihnen mit einer Diskussion um Für und Wider der PC Rechnung tragen könnte (so wäre es beispielsweise unsinnig und schlichtweg historisch falsch, die kulturellen Bemühungen der Gruppe 47 nach dem Krieg, die deutsche Sprache vom Ballast des Nazijargons zu befreien, als PC zu bezeichnen). Dem Versuch der ›Enttabuisierung‹ des Themas haftet automatisch der Ruch des Geschichtsrevisionismus an, folglich kann der Verweis auf die zensierende Wirkung der PC in diesem Feld nur schwer dem Verdacht der Verschleierung der wahren Absichten des Sprechers entgehen, und Kritik an einem solchen Versuch ist nicht per se Ausdruck von Political Correctness. Wer es auf diesem Gebiet an der gebotenen Sensibilität missen lässt, kann sich kaum glaubhaft als Opfer von ›Gesinnungsterror‹ oder Zensur darstellen. Versucht er es dennoch, braucht er sich jedenfalls über Beifall von der falschen Seite nicht zu beschweren.

Aber auch jenseits dieser Problematik führt die Auseinandersetzung auf der Ebene der Political Correctness zu einer Verschärfung der Konflikte, denn schon die ursprüngliche erzieherische Absicht muss bei Verfechtern der negativen Freiheit auf pauschale Ablehnung stoßen, weil sie prinzipiell als unstatthafter Zwang angesehen wird. Dabei muss derjenige, der an solchen Praktiken Anstoß nimmt, nicht einmal Anhänger der »harten Version« (Taylor 1999, S. 119) der negativen Freiheit sein, geht doch schon die Kantsche Ethik davon aus, dass das aufgeklärte Individuum sich seine Normen selber gibt.

Aufgeklärtes Denken ist wissenschaftsförmiges Denken. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass ausschließlich methodisch gesicherte Erkenntnisse Geltung beanspruchen können. Die Schwierigkeit, die wissenschaftliche Methode auf dem ureigensten Gebiet des Geistes, dem der reinen Vernunftbegriffe, anzuwenden, hat bereits Immanuel Kant in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft ausführlich diskutiert; die gesellschaftlichen Dimensionen wissenschaftlicher Arbeit leuchtet Max Weber in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf aus. Die heutige Praxis ist allerdings weniger von solcherart Problembewusstsein als vielmehr von gedankenlosem Hang zur ›Objektivierung‹ geprägt, der bei nicht wenigen sogar vor dem eigenen Selbst nicht halt macht. In seiner Untersuchung über die Quellen des Selbst nennt Charles Taylor diese scheinbare Versöhnung von Instrumentalismus und Selbstverwirklichung »Triumph des Therapeutischen« (Frankfurt/M. 1996, S. 875) und warnt zur Recht davor, dass dies letztendlich ein »Abdanken der Autonomie« (ebd. S. 878) bedeuten könne.

Im Wettstreit um die Zustimmung der Menschen in den westlichen Gesellschaften hat derjenige es leichter, der, statt sich auf irgendwelche übergeordneten Normen zu berufen, denen, und sei es auch aus eigener Einsicht, unbedingt zu folgen sei, ihnen ein Angebot unterbreitet, das sie annehmen oder ablehnen können. Kann der Anbieter Vor- und Nachteile der gewünschten Entscheidung mit ›objektiven Erkenntnissen‹ untermauern, dann hat er meistens gewonnen. Diese Karikatur einer aufgeklärten Haltung hat zur Herausbildung einer Meinungsindustrie geführt, der man sich heute kaum noch zu entziehen vermag, will man nicht ganz auf die Benutzung von Massenmedien verzichten. Das wohl wichtigste Instrument zur Herstellung ›objektiver Erkenntnisse‹ ist die Statistik. Der Eindruck der Objektivität entsteht dabei in erster Linie durch die mathematische Methode selbst. Für die öffentliche Wirkung entscheidend ist aber, dass in der Regel nur die Ergebnisse als Infohäppchen bekanntgegeben werden, etwa in der Form: »Das renommierte Institut XYZ hat in einer großangelegten Studie herausgefunden, dass A häufig zu B führt.« In dieser ›Information‹ wird durch bloße Berufung auf die Wissenschaftlichkeit des Ergebnisses insinuiert, eine statistische Korrelation sei als solche signifikant – geradeso als handele es sich um einen Kausalzusammenhang. Die Entscheidung darüber bleibt jedoch dem Empfänger der Information überlassen. Es schlichtweg zu behaupten, würde die Produzenten der zugrunde liegenden Studie sehr schnell als unseriös entlarven. Durch Auswahl passender Grundannahmen lässt sich nämlich zwischen völlig beliebigen Daten eine Korrelation herstellen, mit der erwünschtes Handeln ausgelöst bzw. unerwünschtes verhindert werden kann. So könnte man beispielsweise in einer ›wissenschaftlichen‹ Studie zu dem Ergebnis kommen, dass der Anteil graumelierter Bartträger unter den Porschefahrern höher ist als unter den Kunden irgendeiner anderen Automarke. Daraus zu folgern, dass ein gesetztes Alter im Verein mit gepflegter Gesichtsbehaarung einen für das Produkt aus Zuffenhausen prädestiniert, bleibt in das Belieben des stolzen Besitzers eines solchen Symbols der Manneswürde gestellt. (In gewissen arabischen und vorderasiatischen Kulturen könnte man vielleicht eine – ebenso aussagefähige – Verbindung zwischen Bart und Kalaschnikov herstellen.) Dass diese Verknüpfung von kontingenten Tatsachen keineswegs nur ein lustiges Spiel ist, das allenfalls Marketingargumente oder kuriose Nachrichten für die Rubrik »Vermischtes« erzeugt, davon können zahlreiche unschuldige Menschen, die schon einmal aufgrund ihres Aussehens oder eines bestimmten »Verhaltensprofils« im Netz internationaler Terrorfahnder hängengeblieben sind, ebenso ein trauriges Lied singen, wie jene, die aufgrund eines ungünstigen »Scorings« keinen Kredit mehr von ihrer Bank erhalten, keinen Ratenkauf mehr tätigen oder keine Versicherung mehr abschließen können.

Das ist, wohlgemerkt, kein Argument gegen die Statistik als solche, wohl aber gegen die absichtsvolle Manipulation der Öffentlichkeit unter dem Deckmantel der Objektivität. Mit Wissenschaftlichkeit hat das im Grunde wenig zu tun, denn diese wird, wie gesagt, in erster Linie von einem ausgeprägten Problembewusstsein getragen. Wenn hingegen Politik sich wissenschaftlicher Erkenntnisse und Techniken bedient, um die »Alternativlosigkeit« ihrer Entscheidungen zu behaupten, beschädigt sie nicht nur die Wissenschaft, sondern auch ihr eigenes demokratisches Fundament. Und Wissenschaftler, die sich für Machtinteressen in Dienst nehmen lassen, sind, darüber braucht eigentlich gar nicht diskutiert zu werden, keine Wissenschaftler mehr, sondern bestenfalls opportunistische Technokraten.

4. Offenheit oder Angst

Die heutigen Möglichkeiten interkultureller Kommunikation übertreffen die aller vergangenen Zeitalter bei weitem. Dank des Internet können Menschen aus allen Teilen der Welt leicht, schnell und kostengünstig miteinander in Kontakt treten, Meinungen und Erfahrungen austauschen, einander in Text, Bild und Ton die eigene Alltagswelt zeigen und so wenigstens mittelbar am Leben des Anderen teilhaben. Dadurch wird eine neue Wirklichkeit geschaffen, in der die überkommenen Vorstellungen von Universalität (der je eigenen nationalen oder zivilisatorischen Normen) unweigerlich einer täglichen Überprüfung durch divergierende Lebenswirklichkeiten unterzogen werden. Insbesondere relativiert sich (dies eine eigene Erfahrung mit sozialen Netzwerken wie Facebook und deviantArt) die landläufige Auffassung über den zivilisatorischen, technologischen und kulturellen Abstand zu den Menschen in den sogenannten »Entwicklungsländern«, wie sie auch durch die hiesigen traditionellen Massenmedien leider immer noch allzu oft transportiert wird (hier denke ich vor allem an die Dominanz von Elends- und Katastrophenbildern aus Südostasien, die gelegentlich von Tropenidyllen kontrastiert werden, so als ob es die ganze Bandbreite dazwischen – eben das gewöhnliche Leben der Menschen – überhaupt nicht gäbe).

Diese Erweiterung des eigenen Blicks ist keinesfalls mit der Haltung eines prinzipiellen Kulturrelativismus zu verwechseln. Die eigene kulturelle Prägung kann man nicht einfach ablegen wie ein altes Kleidungsstück. Es gehört Mutwille dazu, sie zu ignorieren. Solch mutwillige Ignoranz ist weder Zeichen besonderer Aufgeklärtheit noch ihres Gegenteils, vielmehr Zeugnis eines politisch-ideologisch motivierten Willens, die von dieser ermöglichte Offenheit zu negieren. Im Kern handelt es sich um einen Fundamentalismus, wie er im oben (Abschnitt I.2) angegebenen Zitat von Wolfgang Schluchter umrissen wurde: »eine moderne Bewegung gegen die Moderne.«

Solch eine Haltung kann sich aus religiösen, aber auch säkularen Quellen speisen, wie gegenwärtig in zahlreichen europäischen Ländern zu beobachten ist (in den USA scheint es sich um eine seltsame Mixtur aus beidem zu handeln). Ihr geht ein Gefühl von Verunsicherung bezüglich der moralischen Grundlagen der eigenen Gesellschaft voraus. Der Fundamentalist will diese durch einen gewaltsamen Akt ›reinigen‹, um die seiner Meinung nach ›vom rechten Weg‹ abgewichene Gesellschaft wieder dorthin zurückzuführen, wohin sie nach der je vorherrschenden Religion, Kultur oder Ideologie gehört. Ein Beispiel für die amerikanische Variante zitiert Robert Reich in seinem neuen Buch Aftershock (New York 2010): »Liquidate labor, liquidate stocks, liquidate the farmer, liquidate real estate. It will purge the rottenness out of the system … People will work harder, lead a more moral life.« (S. 30.) Dies die Empfehlung des Finanzministers von Herbert Hoover, Andrew Mellon, nach dem großen Crash von 1929.

Ausgelöst wird solche Verunsicherung durch Veränderungen, die als zivilisatorischer Niedergang gedeutet werden. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um Vorgänge, die über einen längeren Zeitraum hinweg allmählich Platz greifen. Krisenhafte Zuspitzungen können die Abläufe zwar beschleunigen, sind aber selten als alleinige Ursache auszumachen (so war der oben erwähnte Opiumkrieg sicher nicht der einzige und womöglich noch nicht einmal der entscheidende Grund für den Niedergang des chinesischen Kaiserreichs im 19. Jahrhundert). Deshalb sucht der Fundamentalist nach schädlichen Einflüssen und Sündenböcken, die für den Niedergang verantwortlich gemacht werden können. Um diese plausibel erscheinen zu lassen, müssen Geschichten erfunden werden, die in das jeweilige Weltbild passen. Im Falle des modernen Europa, das um seinen Status quo in der heutigen globalisierten Welt fürchtet, bieten sich dafür Geschichten an, die in irgendeiner Weise auf Wissenschaft rekurrieren. Gegenwärtig zeichnen sich zwei große Leitmotive ab, die in unterschiedliche Richtungen wirken. Das eine handelt von der genetisch bedingten Minderwertigkeit der Zuwanderer, die sich in einem angeblich statistisch ›belegbaren‹ Niedergang von Bildung, Leistungsfähigkeit, öffentlicher Moral usw. äußert, d. h. dieses Motiv grenzt die eigene Kultur von der fremden ab; das andere fasst die Ungleichheit noch weiter, indem es das für die modernen, aufgeklärten Gesellschaften konstitutive Gleichheitsprinzip komplett durchstreicht und die Aufklärung kurzerhand für gescheitert erklärt. Ausgehend von den politischen Philosophien Leo Strauss’ und Carl Schmitts vertreten die Protagonisten der letztgenannten Richtung einen elitären Freiheitsbegriff, der große Teile der eigenen Bevölkerung ausschließt, bzw. der politischen Täuschung zum Zwecke der persönlichen Machtsteigerung anheimgibt.

Obwohl zwischen den beiden Leitmotiven scheinbar ein Widerspruch besteht (wie kann man auf ›wissenschaftliche‹ Erklärungen bauen und gleichzeitig vom Scheitern der Aufklärung ausgehen?), finden beide besonders in konservativen bis rechtspopulistischen Kreisen Anklang – wobei der Begriff »konservativ«, wie ein Blick auf die US-amerikanischen »Neocons« zeigt, eher irreführend ist, denn es geht den zu diesen Kreisen zählenden bzw. ihnen nahestehenden Politikern und Publizisten nicht um die Bewahrung der klassischen bürgerlichen Normen und Lebensweise, sondern darum, alle staatlichen Restriktionen, die den Besitzindividualismus zugunsten einer prosperierenden Massendemokratie beschränken, zu beseitigen, um so den akkumulierten Besitz als Grundlage der Machtsteigerung einsetzen zu können – oder wie es George W. Bush als Präsidentschaftskandidat der Republikaner im Jahre 2000 in einer Rede vor reichen Gästen eines New Yorker Galadinners ausdrückte: »Some people call you the elite; I call you my base.«

Am Beginn dieses Essays standen der Fortschrittsbegriff der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ein seit der Jahrhundertwende sich ausbreitender Stimmungswechsel: die Angst, dass die Erwartungen, die an ihn geknüpft wurden, sich womöglich nicht erfüllen könnten. Das Paradoxe der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass diese Angst ausgerechnet in dem Moment um sich greift, da sich die ökonomische und technische Produktivität in einem Maß entfaltet, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Ein Grund für die Ambivalenz des Lebensgefühls in so vielen »entwickelten« Ländern dürfte darin liegen, dass in der heutigen Welt der globalisierten Konzerne und offenen Märkte das befreiende Moment von Wissenschaft und Technik seinen Charakter vollständig geändert hat: Dienten diese kulturellen Errungenschaften ursprünglich dazu, die Menschen von beschränkenden Vorurteilen wie von beschwerlicher Arbeit zu befreien, so ist ihre Aufgabe heute, den Wettbewerb um die noch verbliebene Arbeit potentiell auf die gesamte Menschheit auszudehnen und all jene, die dabei nicht mithalten können, auszusondern. Die so verstandene Globalisierung zeigt also zwei Tendenzen, eine vereinheitlichende und eine spaltende; beide haben der kulturellen Vielfalt den Krieg erklärt. Die Forderung nach Integration in der Form, wie sie heute bei uns erhoben wird, entspringt einem kapitalistischen Fundamentalismus, der die verlorenen Wettbewerbsvorteile durch forcierte Anpassung der Menschen an die effizienzgesteigerten Produktions- und Distributionsprozesse wieder wettmachen zu können glaubt. Warum sonst sollten einem der radebrechende türkische Gemüsehändler, der libanesische Kioskbetreiber oder der jordanisch-palästinensische Autoschrauber in der Vorstadt plötzlich ein Dorn im Auge sein? – Die spaltende Tendenz zielt nur vordergründig auf die fremde Kultur ab. In Wahrheit hat sie alle im Visier, die durch das Raster des Wettbewerbs fallen und so der Vereinheitlichung der Gesellschaft nach dem technokratischen Muster der Produktions- und Verwertungsmaschinerie im Wege stehen. So entpuppt sich der »Kampf der Kulturen« am Ende als der bereits aus der Kolonialzeit bekannte Kampf der kapitalistischen Zentren gegen die sogenannte »Peripherie«. Heute indes befindet sich die Peripherie nicht mehr an irgendwelchen gottverlassenen Orten im fernen Dschungel, sondern mitten unter uns, und die Zahl der Zentren hat sich vermehrt, so dass sich ihr gemeinsamer Schwerpunkt nach dorthin verlagert, wo die Mehrheit der Menschen lebt: nach Asien.

Diese trostlose Form der Globalisierung ist aber nicht so »alternativlos«, dass die einzige probate Antwort darauf eine Abkehr von ihr wäre. Die digitale Kommunikationstechnik hat ein gewaltiges Fenster zur Welt geöffnet, doch statt hinauszuschauen und die Vielfalt, die sich zeigt, zu rühmen, sperren wir uns ängstlich in unsere dunkle Kammer ein und halten an unserem engen Horizont als Maß aller Dinge fest. Damit lassen wir zu, dass die Profiteure freie Hand haben, dieses Fenster wieder zu schließen, die Informationsströme zu kanalisieren, um sie ihren Machtinteressen dienstbar zu machen, denn was sie am wenigsten gebrauchen können, ist Vielfalt. Sie brauchen die Uniformität der Machtzentren, das Monolithische der wetteifernden Kulturblöcke, die Normprodukte der Großkonzerne. Die Vielfalt lebt demgegegenüber in den Regionen – aber sie ist nicht mehr dort gebunden. Dank des Internet kann sie weltweit von sich reden machen. Das einzige, was dazu nötig ist, ist die ursprünglich menschliche Fähigkeit zum Zuhören: Offenheit statt Angst.

 

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