16. Erinnerungskultur und Geschlechterkampf
Die Deutung des Rechts als Waffe im emanzipatorischen Kampf und ihre rituelle Verfestigung im Zuge der Durchsetzung des Beziehungsmodells stellt letzteres als institutionalisierte Interpretation des Geschlechterkampfs neben die Erinnerungskultur als institutionalisierte Interpretation des Kampfs der Generationen. Als ›lange‹ historische Ereignislinien produzieren Geschlechter- und Generationenkampf Auseinandersetzungen geringer Intensität, deren reale und nicht immer erbauliche Folgen von der Privatsphäre abgefedert werden. Dem Individuum steht es frei, sich zu verhalten: ob es sich kopfüber in die anstehenden Kämpfe stürzt oder die Freiheit eines aus persönlicher Wahl hervorgehenden zivilen Umgangs bevorzugt, wird ihm von keiner Instanz zwingend vorgeschrieben. Die im Medium der Interpretation verfestigten Kulturen des öffentlichen und privaten Miteinander lassen beide Möglichkeiten zu. Es bedarf des unsichtbaren Dritten, um den Stil der Auseinandersetzungen zu verschärfen und die kämpferische Interpretation des Generationen- und Geschlechterverhältnisses im Alltag überwiegen zu lassen. Die seit den sechziger Jahren schwelende, in die Altenheime und Sterbezimmer hinein verlängerte Friedlosigkeit zwischen den dominanten Generationen der ›Verlierernation‹ ist ein hinreichend aussichtsreicher Kandidat für diese Figur des unsichtbaren Dritten, um genauer in Augenschein genommen zu werden.
Anders als die Erinnerungskultur, die aus dem Generationenkonflikt hervorgegangen ist und ihn, wie immer verstellt, nachdrücklich genug thematisiert hat, um partielle Friedensschlüsse und jenen historischen Kompromiss zu ermöglichen, in dem – fast – alle Erinnerungen zugelassen sind, sofern sie das Reputationssystem stützen, ist das Beziehungsmodell per se gedächtnislos und lenkt die Energien der in ihm verbundenen – und durch es separierten – Personen in demonstrativen Akten gegeneinander. Ein populärer Ausdruck wie ›Mehrgenerationenhölle‹ für den durch die familiäre Herkunft gegebenen und durch keine Handlungen oder Willenserklärungen aufzulösenden Generationenverbund kann als mehr oder weniger drastischer Ausdruck dafür durchgehen, dass der Abschied vom ›Familienmodell‹ des Zusammenlebens im Beziehungsmodell auf Dauer gestellt ist, weil die Alternative nur im Imaginarium der Interpretation existiert. Historisch gesehen bestreichen die signifikant niedrigen Geburtenraten die aktive Lebenszeit weniger, mit Krieg und Nachkrieg aus kindlicher Perspektive vertrauter Jahrgänge und der nach dem Krieg geborenen, die kulturelle Revolution der Sechziger vor den heimischen Fernsehern und in den Klassenzimmern nachspielenden Generation, für die die Niederlage, das Schibboleth in den Auseinandersetzungen der Achtundsechziger mit der Vätergeneration, bereits keine greifbare Realität mehr besaß. Dem blinden Ausagieren eines unbegriffenen, aber in beträchtlicher Härte inszenierten Generationenkonflikts bot und bietet das kämpferisch gegen die familiäre Herkunft gesetzte Beziehungsmodell eine optimale Plattform. Seine sukzessive Verrechtlichung darf mit einiger Berechtigung als Bereitstellung des Terrains gelten, auf dem diese politisch eher parasitäre Generation ihre zentralen Lebensentwürfe erfand und konfliktreich ausagierte.
Und es geht weiter: fragt man sich, was öffentliche Erinnerungskultur und private Beziehungskultur miteinander verbindet, so sieht man sich auf Lücken der Erinnerungskultur verwiesen, von denen man einige erst im letzten Jahrzehnt zu schließen begonnen hat. Einige dieser Lücken – Bombenkrieg, Flucht, Umsiedlung, Vergewaltigungen etc. – sind nicht zufällig oder auf Grund eines im Nachhinein unverständlichen Schweigens der Zeugen, sondern aus ethisch-funktionalen Gründen in den sechziger Jahren entstanden. Sie sparen aber, lange Zeit unbeachtet, just den – vornehmlich weiblichen – Erinnerungsraum aus, in dem sich viele Gründe für die Feinjustierung der Geschlechterbeziehung in der Elterngeneration hätten finden lassen. An Ingeborg Bachmanns 1971 erschienenem Roman Malina ließ sich früh ablesen, welche Wirkung der gleichsam erschreckte Blick durch die Finger auf Krieg und Nachkrieg selbst dann entfalten kann, wenn er nur wenig geschichtliches Wissen transportiert. Das dem Entsetzen über die im Imaginationsraum abrufbaren väterlichen Grausamkeiten und das aus dem familiären Schweigen sich lösende Gorgonenhaupt des absoluten Verbrechens geschuldete, gleichwohl interessegeleitete und inszenierte Von-Anderem-Reden im öffentlichen Raum ist in der vieles falsch oder missverständlich interpretierenden Sprachlosigkeit im privaten Raum mit enthalten. Die durchgestrichene Wahrnehmung der elterlichen Existenz, diese in vielen Bereichen wiederkehrende Figur, bestimmt die Eigenwahrnehmung und die Solidaritäten. Mit ihrem nach familiären Maßstäben leeren und gerade darin einer Utopie des gemeinsamen Lebens verpflichteten Beziehungsleben zahlen die Deutschen der ›zweiten Generation‹ für den Nachkriegsaufstieg, der nicht ihr Werk ist, und das Geschehene, das, dank verbesserter medizinischer und finanzieller Versorgung der Älteren, in ihrem lebenslänglichen Unfrieden mit sich selbst erstarrte Präsenz besitzt.