von Ulrich Schödlbauer

11. Ein Stück Nachkriegsgeschichte

Wenn die ›Beziehung‹ soziales Kapital verspricht oder ›darstellt‹, dann sollte die Frage nach der deformierenden Gewalt, die dem Begriff als einem gesellschaftlichen Universale innewohnt, nicht nur den Minimalismus als den Mechanismus des Unsichtbarmachens der zentralen Aspekte der Fortpflanzung, der Weitergabe familiärer und kultureller Informationen im als ›eigen‹ wahrgenommenen Nahbereich umfassen, sondern auch den Begriff des sozialen Kapitals, wie er in dieser Anwendung erscheint. Dass der simple Gedanke der Beziehung (Relation) zweier Gesellschaftsglieder ein Erwerbsverhältnis impliziert, gehört nicht von vornherein zur Sache, es reflektiert die dritte Seite im Spiel. Die Annahme, dass einige Beziehungen sozial wertvoller sind als andere, verschiebt das sexuelle Spiel in den Bereich von Einfluss, Karriere und Macht. Das wollen viele, dennoch fällt der Begriff der ›Geschlechterbeziehung‹ in ein abweichendes Register. Hier geht es primär um die biologische und kulturelle Matrix, der die Einzelperson nicht entkommt und die durch Gesinnungen und Lebensentscheidungen weder modifiziert noch aufgehoben werden kann. Die Formel ›eine Beziehung haben‹ fällt in den Bereich zweideutig-eindeutiger und damit sexuell konnotierter Rede. Sie der herkömmlichen Mannigfaltigkeit von Ausdrücken für sämtliche Spielarten der Teilhabe am Geschlechterverhältnis zu substituieren, erscheint verheißungsvoll im Zusammenhang mit öffentlicher Urteilsabstinenz und dem Rückzug gesellschaftlicher Autoritäten aus einem als intim ausgegrenzten und tendenziell sanktionsfrei erklärten Raum individueller ›Entfaltung‹. Vielleicht hat es diesen Moment in der Geschichte der westlichen Gesellschaften einmal gegeben. Plausibler erscheint es, die Deutung dem schon erwähnten rückwärts-vorwärtsgewandten Mantra zuzurechnen.

Das seine Lebensform frei wählende Individuum gerät von zwei Seiten unter Druck: durch die in gewissen Aspekten unausgesprochen bleibenden, aber wirksamen Wünsche des ›Partners‹ oder der ›Partnerin‹ und durch die ökonomisch-rechtliche Situation, die sich nach einer gewissen Übergangsphase auf die neuen Gegebenheiten der Wahl einstellt, sobald sie statistisch relevant werden. Die Umformung der Rechtsverhältnisse unter Rubriken wie Gleichbehandlung, Trennung, Versorgung, Eltern- und Kindesrechte läuft in ihrer Gesamtheit zwangsläufig auf eine effiziente staatliche Bewirtschaftung der ›neuen‹ Lebensformen und damit auf einen Vergesellschaftungsschub hinaus, in dem die ›Familie‹ zwar weiterhin mit materiellen Zuwendungen seitens des Staates rechnen kann, aber als gesellschaftliche Größe sui generis aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet. Selbstverständlich wird weiterhin für sie geworben, doch schon die Art, in der dies geschieht, zeigt an, dass ihre Glanzzeit vorüber ist und attraktivere Angebote den Markt beherrschen. Die administrative Moderne folgt der ›gefühlten‹ nach: die Unsichtbarmachung der Bedingungen, unter denen Menschen Kinder in die Welt setzen, und die Verrechtlichung des Kinderhabens (mit allen teils realen, teils eingebildeten Vorteilen für die jungen Menschen) wirken in die gleiche Richtung.

Dass eine konsequent das ›Projekt Moderne‹ verfolgende Gesellschaft, die sich ihrer Herkunft kaum anders als in Abwehr und Abscheu erinnert, hier größere Hürden als andere aufbaut, die ein entspannteres Verhältnis zum Herkommen pflegen, wirkt plausibel. Dummerweise bleibt in ihr die durchgestrichene Vergangenheit zweifach präsent: als bereits vorausgegangene Schwächung der relativen Autonomie familiärer Strukturen während der faschistischen Periode und als durchgestrichene, soll heißen als Dauerdisput zweier zum Irrealisieren neigender Fraktionen innerhalb der Gesellschaft, der die kontroversen Positionen über lange Zeiträume konserviert. Hinzu treten weitere, nicht minder wirksame Faktoren. Heute hegt man kaum noch Zweifel darüber, dass viele der in den sechziger und siebziger Jahren als ›patriarchalisch‹ wahrgenommenen und bekämpften Eigentümlichkeiten der Nachkriegsfamilie als pathologische Kriegsfolgen zu bewerten sind und eher einer psychotherapeutischen Behandlung bedurft hätten. Die Identifikation der Jüngeren zunächst mit den Siegern, dann mit den Opfern des nationalsozialistischen Gewaltregimes, das im väterlichen Regiment ein schattenhaftes Nachleben zu führen schien, gehört zur Delegitimationsgeschichte des familiären Herkommens. Der Auszug einer Generation aus einer als unerträglich empfundenen oder interpretierten Zwangsveranstaltung ›Familie‹ vollzog sich unter Voraussetzungen, die aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte zu guten Teilen als falsch oder schief angesehen werden können. Auch die zunächst selbstverständliche, später gesellschaftlich missliebige und schließlich weitgehend aus dem allgemeinen Bewusstsein entfernte Tatsache, dass die Mehrheit der Angehörigen der Kriegsgeneration(en) das Ende des Zweiten Weltkriegs primär als Niederlage und erst sekundär – und in geringerem Maße – als Befreiung wahrgenommen hatte, konnte zur Diskreditierung des Familienmodells beitragen, weil sie zu den Auslösern der ›Sprachlosigkeit‹ zwischen den Generationen gehörte und die Attraktivität dieser Form des Zusammenlebens minderte.

Sicher ist, dass einige signifikante Unterschiede der demographischen Entwicklung in den ökonomisch und gesellschaftspolitisch weitgehend kongruenten westeuropäischen Gesellschaften den durch Nationalsozialismus, Faschismus, Krieg und Niederlage/Befreiung vorgegebenen Bruchlinien folgen. In den neuen Bundesländern, den mittel- und osteuropäischen Staaten und Russland hat der Untergang des sowjetischen Systems eine demographische Situation entstehen lassen, die analoge Züge trägt und allein anhand der ökonomischen Daten wohl ebenfalls nicht schlüssig zu beurteilen ist. Auch hier verlangt das psychologische Drama der erlittenen Niederlage führender Schichten und ihrer unterschiedlichen Interpretation im Namen der Freiheit, wie es sich in der Abfolge vieler Wahlergebnisse spiegelt, nach Aufmerksamkeit. Die Wertentscheidungen und Verhaltensparameter der Konsum- und Freizeitgesellschaft allein erlauben jedenfalls keine sicheren, schon gar keine hinreichenden Erklärungen außer dem Hinweis auf eine mit allgemeinem Wohlleben, Alterssicherheit und ›aktiv gestalteter‹ Freizeit einhergehende Tendenz zu geringeren Kinderzahlen. Die weltweit gültige Formel verdeckt die äußerst unterschiedlichen Interpretationen, die Gesellschaften bereitstellen, wenn es darum geht, ökonomische und kulturelle Trends zu inkorporieren. Diese Interpretationen, die tief in das Institutionen- und Handlungsgefüge hineinwirken, in dem sie verankert sein müssen, um wirksam werden zu können, gehören zu den kulturellen Fakten, die eine Gesellschaft produziert und deren Eigenart man nur eingeschränkt zur Kenntnis nimmt, solange man sie ausschließlich an Effizienzparametern misst.


12. Exkurs über Erinnerungskultur

Mit den Siegern gehen stellt für die Menschen eine einfache und bei denen, die sich weiterhin, meist weil sie ohnehin keine andere Wahl haben, zur unterlegenen Seite bekennen, extrem missliebige Weise dar, verloren gegangenes oder in der gegebenen Lage nicht abrufbares soziales Kapital zurückzugewinnen. Dabei kann es zu komplexen Reaktionsmustern und prägnanten Verläufen kommen – vorausgesetzt, die Sieger lassen den Seitenwechsel überhaupt zu. Der Bevölkerungswissenschaftler Massimo Livi Bacci, der die »demographische Katastrophe« Hispaniolas nach der ›Entdeckung‹ durch Kolumbus untersucht hat, vertritt die These, allein der aufgrund der von den spanischen Siedlern diktierten Lebensweise eingetretene Fertilitätsschwund reiche aus, um die Auslöschung der Tainos binnen weniger Jahrzehnte zu erklären – auch ohne Immunschwäche und Leyenda negra. Sklavenarbeit in den Minen, Zerstörung der auf Herkommen gründenden Ökonomie, familiäre Trennungen, erzwungene dauerhafte Mobilität, forcierte Frauenarbeit und Frauenraub fügen sich in seiner Darstellung zum Bild einer Gesellschaft zusammen, deren Gliedern es nicht erlaubt war, ›mit den Siegern zu gehen‹. Damit löst sich Livi Baccis Argumentation von den durch ›nackte Gewalt‹, zügellose ökonomische Ausbeutung und willkürlich Ausübung von Herrschaft gezeichneten Daten und umkreist jenes ›Minimum‹ intakter Lebensbeziehungen, von dem auch die Literatur der Sklaven- und Vernichtungslager des Zwanzigsten Jahrhunderts ex negativo handelt.

Im Lauf der Jahrzehnte haben die in den Westen integrierten, ökonomisch und sozial extrem erfolgreichen Verliererstaaten des Zweiten Weltkriegs komplizierte partizipatorische Erinnerungssysteme ausgebildet, an denen alle ›relevanten‹ Gruppierungen teilhaben, die Deutungshoheit über das Geschehene beanspruchen. Ausgeschlossen von der Teilhabe blieben die Regimetäter und das rechtsradikale Spektrum aus Personen und Organisationen, die, aus welchen Motiven auch immer, sich ideologisch und politisch in die Kontinuität der Niederlage stellen. Als relevant gelten Gruppen, die von der durch die Niederlage bereitgestellten Möglichkeit der Freiheit angemessenen Gebrauch gemacht haben: also die Gemengelage aus Regimeopfern und ›unbelasteter‹ Funktionselite, aus Exilierten und Aktivisten des Widerstandes, Emigranten und ihren Nachkommen sowie Exponenten von Protestbewegungen, soweit sie in die Demokratisierungsgeschichte des Landes eingegangen sind. Das austarierte Gefüge wechselseitig attestierten Respekts angesichts der einen Vergangenheit aus divergenten Vergangenheiten überlagert und durchdringt die ›klassische‹, vor dem Hintergrund der Katastrophe eigentümlich geschichtslos wirkende Reputationshierarchie der Gesellschaft, in der ökonomische Kriterien wie Herkunft, Einkommen, Erfolg und ihren symbolische Äquivalente im Bereich von Bildung, Intellekt und Geschmack zählen. Hier einige Merkmale:

– Erinnerungskultur ist nicht gleich Gedenkkultur. Die institutionell ›verankerte‹ rituelle Gedenkkultur ist eine Angelegenheit des Staates oder staatsnaher Institutionen. Das gilt, solange die Legitimität des Staates nicht durch besondere Umstände in Frage gestellt ist: inoffizielle Gedenkhandlungen sind immer auch Ausdruck von Vorbehalten gegenüber dem Staat bis hin zum symbolischen Widerstand. Die Anwesenheit von Staatsvertretern bei nicht-staatlichen Gedenkhandlungen gesellschaftlich bedeutsamer Gruppen zollt diesem Zusammenhang Respekt. Dagegen ist die Erinnerungskultur auf überraschende, zumindest variable und ›ungewöhnliche‹ Äußerungsformen angewiesen, die unter bestimmten aktuellen Gegebenheiten ›ihren guten Sinn haben‹, also wirken sollen. Sie ist informell. Die Gesten des Erinnerns fungieren nicht als Ausdruck der Legitimität des Staates, sondern – auf Zeit und unter limitierenden Bedingungen – als legitimitätsverleihende Akte: die innere Distanz zum Staat und seinem Vorrat an symbolischen Handlungen ist ihnen inhärent.

– Erinnerungskultur ist nicht gleich Medienöffentlichkeit. Erinnerungskultur findet in den öffentlichen Medien statt, ihre Pflege ist ein Teil des medialen ›Geschäfts‹, aber die Akteure und Handlungstypen unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten. Was immer sie in Erinnerung ruft, ist in den Grundzügen allgemein bekannt. Journalistische Recherche und aktuelle Berichterstattung berühren nicht den Kern der Darbietung. Darin ähnelt ihr Repräsentationstyp dem der Politik, die zwar mit Hilfe der Medien, aber nicht in den Medien ›gemacht‹ wird. Auch die Vermischung der Zonen und die wechselseitige Funktionalisierung wirken analog. Der distanzierende Faktor heißt im einen Fall – legitimiert durch den Wählerauftrag – Macht, im anderen Fall Authentizität. Die ist in der Politik zwar gefragt, aber ein knappes – und in der Regel verzichtbares – Gut. Die Erinnerungskultur kann das besser. Eine nicht unwesentliche unter ihren Aufgaben besteht darin, der Gesellschaft in einem ›permanenten Prozess der Erneuerung‹ Quellen der Authentizität zu erschließen und ihr die entsprechenden Akteure zuzuführen. Ob sich die in der Unterhaltungsindustrie oder im gehobenen kulturellen Dienstleistungssektor (Literatur, Theater, Regiefilm, Biographik) finden, ist im Prinzip gleichgültig, auch die Aneignung der ›ernsten‹ Stoffe durch Fernsehregisseure und -schauspieler, Kritiker, Interessenvertreter, Moderatoren und willkürlich ausgewählte Teilnehmer an einschlägigen Gesprächsrunden kann ohne weiteres als authentische Erfahrung in das Distributionssystem ›Erinnerung‹ eingespeist werden. Authentizität ist keine inhärente Qualität, sondern die Qualität des Inhärenten: der überzeugenden Demonstration von Erinnerung im öffentlichen Raum.

– Die Träger der Erinnerungskultur repräsentieren keine gesellschaftliche(n) Gruppe(n). In einem strikten Sinn von Authentizität repräsentieren sie ihre individuellen Lebensgeschichten und damit sich selbst. Die Anmutung, die von einer solchen Selbstrepräsentation ausgeht, entspricht in mancher Hinsicht derjenigen von Schauspielern, deren spezifische Leistung dem Publikum und nicht den in ihm vertretenen Bevölkerungsgruppen gilt. Adressat der Erinnerungskultur ist die ganze Gesellschaft oder ihr gemäß der Exklusionsregel – siehe oben - zugelassener Teil. Diese Reputationsgesellschaft ist eine verwirrende Größe, sie ähnelt in manchem der ›legitimen‹ Gesellschaft der ›herrschenden Kreise‹ Bourdieus, ohne über ihre Macht, ihren Einfluss und ihre ökonomische Potenz zu verfügen – in allen diesen Hinsichten ist sie einfach ›Gesellschaft‹. Aktivisten und Passivisten der Erinnerungskultur treffen sich darin, dass ihr gesellschaftlicher Status nicht spezifisch differiert, wenn man von der Prominenz einmal absieht, die der öffentliche Auftritt unabhängig von den Inhalten verleiht. Betrachtet man Erinnerungsaktivismus unter dem Aspekt der Bildung symbolischen Kapitals, dann muten die Ergebnisse ähnlich zwitterhaft an wie im Fall des privaten Beziehungslebens. Die Beziehung zwischen Erinnerungsträger und Gesellschaft fällt für ersteren umso unbefriedigender aus, je mehr er in sie ›investiert‹ – was sich unschwer an den persönlichen Enttäuschungen, Verbitterungen und Radikalisierungen ablesen lässt, die derartigen Lebensläufen nicht selten eignen, während derjenige, der sie zu plündern gedenkt, weit bessere Chancen besitzt, mittels sekundärer Effekte wie Ehrungen, Aufbau eines persönlichen Beziehungsgeflechtes etc. ›auf seine Kosten zu kommen‹. Die Erinnerungskultur ist weder elitär noch egalitär, sie ist weder exklusiv noch inklusiv, sie ist ›parteiisch‹, ohne Partei zu sein. Sie ist funktionale Repräsentation und Selbstrepräsentation in einem: ein integratives Angebot an alle, die es angeht, weil sie sich als Teil des Gemeinwesens verstehen.

– Die Erinnerungskultur ist eine auf dem Freund-Feind-Schema beruhende Teilrepräsentation der ›Nation‹. Nicht alle Erinnerungen sind gleichwertig – das gilt für die Schwere des Erlittenen, für Ort, Umstände und Art des Leidens, für Gruppenzugehörigkeiten und Konsequenzen, für den Heroismus des Widerstands und schließlich für die Tatsache des Leidens selbst. In dem Maße, in dem die Erinnerungskultur den Gründungsmythos anderer, ›intakter‹ Nationen vertritt (amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Bill of Rights, Französische Revolution), bleibt sie auf das entsetzliche Geschehen ausgerichtet, das der Neugründung des Gemeinwesens voranging, und damit auf die absolute Gegnerschaft zu den Schuldigen und ihren Entschuldigern. Die legitimierende Grundform des Erinnerns ist das Grauen. Eine detaillierte Geschichte der Erinnerungskultur könnte zeigen, wie durch die fortschreitende Rückwärts- und Vorwärtsintegration höchst unterschiedlicher ›Geschichten‹ die fast unlösbar wirkende Aufgabe gemeistert wurde, über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg diese Grundform zu erhalten – und damit die ursprüngliche Feindschaft real und lebbar zu gestalten –, während der stabile Alltag des Gemeinwesens die Marginalisierung des Gewesenen (das ›Vergessen‹) und seiner freiwillig-unbedarften Repräsentanten (der ›Ewiggestrigen‹, wie die prägnante Nachkriegsformel lautete) begünstigte.

Der Erinnerungskultur ist der Begriff der ›Nation‹ suspekt. Daraus folgt nicht, dass sie ihn ignoriert oder nicht zulässt. Im Gegenteil: der im Alltag präsente Zusammenhang zwischen Verdacht und Kontrolle, zwischen Kontrolle und Beherrschung ist auch auf diesem Feld evident. Das suspicium, der ›Argwohn‹, ist das Instrument, mit dessen Hilfe die Erinnerungskultur die Rede von der Nation kontrolliert und dominiert. Unter dem Gesichtspunkt authentischer Rede könnte es so aussehen, als handle es sich dabei um einen Nebeneffekt, über den man dieser oder jener Ansicht sein könne. Manches öffentliche Plädoyer dafür, Erinnerungskultur und nationale Rhetorik (oder ›Gemeinschaftsrede‹) voneinander zu trennen, um ›endlich‹ ein ›unverkrampftes Verhältnis‹ zur Nation zu bezeugen, huldigt diesem Missverständnis. Es fiele schwer, die Funktion (oder Funktionsbreite) der Erinnerungskultur zu bestimmen, ohne den Begriff der Nation ins Spiel zu bringen. Man verstünde bereits die außergewöhnliche Anstrengung nicht – oder nur in verstellter Form –, von der die Rede ist, wenn sie als singuläre Leistung der Deutschen gepriesen wird, wobei man die analogen, aber anderen kulturellen Stilen verpflichteten Leistungen anderer Nationen leicht als geringfügig abtut. Dieser Stolz darauf, die Bürde geschultert zu haben, Deutscher zu sein – im Verein mit dem Bannstrahl gegen alle, die in aufreizender und nur teilweise gültiger Symmetrie den ›Stolz, Deutsche zu sein‹ reklamieren – gibt mehr als anderes Auskunft in dieser Sache. Nicht die Nation gilt es unter Kontrolle zu halten – ein angesichts der Nachkriegsgeschichte eher donquichotteskes Motiv –, sondern das mit jener Bürde untrennbar verbundene Entsetzen. Die über Nacht ihrer Erinnerungskultur ledigen Deutschen wären vermutlich keine ›Nation unter Nationen‹, sondern die gesichtslose Population eines Wirtschaftsstandortes, angesichts dessen alle Arten von Assoziationen erlaubt und ›im Recht‹ wären – eine gelegentlich in der Literatur anzutreffende schwarze Vision.

Die Rede von der Nation hat in Westdeutschland, dessen Entwicklung hier zu Grunde gelegt wird, weil sie die geltenden Parameter besetzt, eine Reihe von Wandlungen erfahren, die den von der Erinnerungskultur durchlaufenen Stadien korrelieren. Ihre negative Besetzung im Schatten der Studentenrevolte und anderer Entwicklungen erscheint im Nachhinein nicht zwingend. Der von Willy Brandt propagierte Patriotismus der ›Bürger‹, der historische Versuch, das französische Modell des Citoyen mit dem Gedenken an die 1848 niveauvoll gescheiterte deutsche Freiheitsbewegung im sozialliberalen ›Konsens‹ zu verbinden, setzt wie bereits das Grundgesetz einen positiven Begriff der Nation voraus. Es ist nicht nötig, dass der Mythos der Nation alle Bevölkerungsteile zufriedenstellt; es genügt, wenn er sie tendenziell eint. Alle Nationbegriffe sind kämpferisch und nehmen jene manichäische Zweiteilung vor, in der kein Zweifel daran gelassen wird, welche Tradition – und welcher Bevölkerungsteil – als siegreich bzw. als unterlegen angesehen wird. Innenpolitisch steht der Kniefall von Warschau in einer bescheidenen Reihe ›aufsehenerregender‹ Versuche, mit den Mitteln der Gedenkkultur der Bürgernation die Scham und das Entsetzen, wie man sie in jenen Jahren empfand und artikulierte, rituell ›einzuhegen‹. Die Erinnerungskultur machte daraus etwas anderes: die überlebensgroße Geste des ehemaligen Exilpolitikers, der zwar das ›andere Deutschland‹ repräsentierte, aber weder die eine noch die am Ende siegreiche Nation. Der Sieg blieb eine Angelegenheit der Siegermächte, die Niederlage des nationalsozialistischen ›Reichs‹ verwandelte sich definitiv in die Niederlage der Nation – eine Deutung, die angesichts der unaufhebbar scheinenden innerdeutschen Grenze eine gewisse Plausibilität für sich verbuchen konnte. Dabei ist es aller staatstragenden Gedenkkultur zum Trotz bis 1989 geblieben.

Eine nicht unbedeutende Funktion der Erinnerungskultur besteht darin, das durch Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hindurch von weiten Kreisen der Bevölkerung weitergetragene, kaum abzuschüttelnde historische Bewusstsein der Niederlage irgendwie zum Verschwinden zu bringen. Die angewandten Verfahren – Identifikation mit den Opfern, Ächtung bestimmter Elemente der offiziellen Gedenksprache, zeitweise Ausblendung ›eigener‹ (?) Erinnerungen an Härten der Kriegs- und Besatzungszeit aus dem Opferdiskurs, Ritualisierung der Rede von ›den Deutschen‹ als Trägern des nationalsozialistischen Vernichungswillens bei kollektiver Ablehnung der Kollektivschuldthese, Überschreibung durch reale Befreiungsgeschichten etc. – sind bekannt. Sie delegieren den Konflikt der Deutungen an die Nation, die, ebenso unabweisbar wie die Niederlage, ebenso hässlich wie die Schuld und ebenso gegenwärtig wie der Wille, zu den Siegern der Geschichte zu gehören, den Vorteil der Ohnmacht bietet, gleichgültig, ob man die Teilung des Landes oder der eigenen Bevölkerung nach Licht und Dunkel misst. Der Erinnerungsdiskurs eröffnet die Aussicht auf eine Reputation, die jenseits der Felder persönlicher Tüchtigkeit und der ›bloß ökonomischen‹ Potenz des Landes liegt, aber auf erstaunliche Weise beides reflektiert. Er ist einer Konstellation geschuldet, keiner Generation: in ihm finden sich die jüngere Frontgeneration, die Kinder der Bombennächte und der mehr oder weniger schuldigen, mehr oder weniger traumatisierten Kriegsheimkehrer zusammen, um die ›Meinungsführerschaft‹ im Lande zu übernehmen.


13. Das Reputationssystem der Gesellschaft

Der Exkurs über Niederlage, Erinnerung und Nation war notwendig, um den Sündenbock (und den dazu gehörenden Mechanismus) namhaft zu machen, auf dessen Vorhandensein ein bedeutsamer Teil des Reputationssystems der erst westdeutschen, seit 1991 gesamtdeutschen Gesellschaft beruht. Anders als das offizielle Gedenken, das sich einfacher ritueller Formen bedient, bevorzugt die Erinnerungskultur die rituell fundierte, aber in der Ausgestaltung freie, den unvorhersehbaren Konflikt kultivierende Form des medial inszenierten Dramas. Sein Handlungskern ist die ›irreversible‹ Diskreditierung der Nation durch das erinnerte Geschehen und die rituelle Verwünschung derer, die nicht bereit sind, sie zu akzeptieren. Wie die Polisbewohner der attischen Tragödie wohnen die Zuschauer (oder Leser) dem Untergang der Nation bei, die sie als Publikum repräsentieren. Der theatralische Untergang wird als ›notwendig‹ im Wortsinn empfunden: als geeignetes Mittel, die Not zu wenden, die aufgrund der umfassenden und als dauerhaft empfundenen Niederlage in der Befreiung dem Gemeinwesen inhärent ist. Die Schmach der Befreiung, das heißt die Reflektion des Umstandes, einer Nation anzugehören, die ›bis zum bitteren Ende‹ gegen die Befreiung von einem unmenschlichen Regime gekämpft hat, wird durch das Entsetzen und die Identifikation mit denen, die das erlitten haben, für eine Weile aus dem Bewusstsein getilgt und erlaubt es, den anderen Zuschauern des nationalen Dramas, den Angehörigen der Nationen, die historisch auf der richtigen Seite standen, mit Offenheit zu begegnen.

Die so gewonnene Reputation unterscheidet sich von dem sozialen Kredit, den die Gesellschaft ihren einzelnen Gliedern einräumt, in einigen wesentlichen Punkten. Zum einen ist sie nicht oder nur in geringem Maße konvertierbar. Es darf bezweifelt werden, dass die politische Handlungsfreiheit des Landes durch die Erinnerungskultur gewinnt. Auch die im Ausland kurrenten Urteile über die Nation werden durch sie kaum berührt. Der Kredit wirkt praktisch ausschließlich nach innen: als Selbstkreditierung der teilnehmenden und damit nolens volens in das ›Wir‹ der Nation einstimmenden Einzelnen. Der Glaubwürdigkeitsverlust der Nation schwächt und stärkt das teilnehmende Individuum in einem Zug: er bedient den Mechanismus der Kollektivscham und hilft ihn zu kontrollieren. Er fällt damit in jene ›unsichtbare Ökonomie‹ der Seele, die in Hegels früher Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als der »Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt« (Rechtsphilosophie § 182), im Moment der Vorgängigkeit von Familie und Staat vorausgesetzt ist und im soziologischen Fundamentalismus als ein Produkt von Gesellschaft, als diskursiv oder kommunikativ erzeugte Illusion personaler Selbständigkeit erscheint. Wenn in der Gesellschaft, wieder mit Hegels Worten, »jeder sich Zweck, alles andere ... nichts« ist, dann stößt man im Bereich des Erinnerns, wie so oft, auf das System der zwei Realitäten: die Bereitschaft, die jeweilige Stimme gelten zu lassen und auf sie hören, verlangt eine weitgehende Unempfindlichkeit dessen, der da spricht, gegenüber den Möglichkeiten, Vorteil aus dem, was persönlich erlitten und durchkämpft wurde, zu ziehen und zu beanspruchen, während der herrschende Verdacht das Gegenteil unterstellt. Was beim Konsum sogenannter Kulturgüter evident ist, die Diskrepanz zwischen dem sozialen Motiv und der Rhetorik des Vorzeigens, wirkt dort, wo die Integrität der Nation ›gehandelt‹ wird, blamabel.

Dieses ›unbezweifelbare Vorhandensein‹ von etwas, das, wie die gestrandete Nation, nur als Durchgestrichenes gedacht (und akzeptiert) werden darf, lässt an die eigenartige Interpretation von Moderne denken, die während des Zeitraums, den die Erinnerungskultur bestreicht, in einer anderen begrifflichen Region prominent wurde: der hartnäckig erhobenen Forderung, ›die Gesellschaft‹ müsse sich zur in allen Lebensbereichen dominanten, aber als ›unvollendet‹ zu denkenden Moderne bekennen – so als gelte es, einen Eid auf die Verfassung der gegenwärtigen, sich erst in naher Zukunft ganz entbergenden Welt abzulegen –, entspricht im immer regen Streit der Fakultäten der Anspruch der Soziologie, als Leitwissenschaft die Begriffe der ›Nachbardisziplinen‹ zu dominieren und zu disziplinieren. Der politische Begriff der Nation, rituell entzaubert durch Ideologiekritik und soziale Analyse, und seine durch den Gang der geschichtlichen Ereignisse desavouierten frenetischen Interpretationen zwischen Sarajewo und Srebrenica artikulieren einen Willen zur Moderne, der dort, wo er nach 1989 noch auftritt, einigermaßen mühelos als Wille, den Anschluss zu verlieren, gedeutet werden kann. Die broken nations – mitsamt dem geheimen Grauen, das sie ihren Nachbarn eingeben – teilen in einer breiteren Perspektive das Schicksal der broken civilizations, der durch den von europäischen Kolonisatoren erzwungenen Eintritt in die moderne Welt entgleisten Kulturen, durch keine jahrzehntelange Entwicklung zum Verschwinden gebracht zu werden: statt sich restlos in ›Gesellschaft‹ zu verwandeln, erinnern sie unverwandt an die katastrophische Geschichte und die fortdauernden Kosten der Modernisierung. Polemisch gesprochen ist Kulturwissenschaft die Wissenschaft der Defizite von Gesellschaft und dem notwendigen Verfehlen ihrer Ziele.

– wird fortgesetzt –

Teil 1: Demographischer Wandel: Der große Übergang (1)

Teil 2: Demographischer Wandel: Der große Übergang (2)

Teil 3: Demographischer Wandel: Der große Übergang (3)

 

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