12. Exkurs über Erinnerungskultur
Mit den Siegern gehen stellt für die Menschen eine einfache und bei denen, die sich weiterhin, meist weil sie ohnehin keine andere Wahl haben, zur unterlegenen Seite bekennen, extrem missliebige Weise dar, verloren gegangenes oder in der gegebenen Lage nicht abrufbares soziales Kapital zurückzugewinnen. Dabei kann es zu komplexen Reaktionsmustern und prägnanten Verläufen kommen – vorausgesetzt, die Sieger lassen den Seitenwechsel überhaupt zu. Der Bevölkerungswissenschaftler Massimo Livi Bacci, der die »demographische Katastrophe« Hispaniolas nach der ›Entdeckung‹ durch Kolumbus untersucht hat, vertritt die These, allein der aufgrund der von den spanischen Siedlern diktierten Lebensweise eingetretene Fertilitätsschwund reiche aus, um die Auslöschung der Tainos binnen weniger Jahrzehnte zu erklären – auch ohne Immunschwäche und Leyenda negra. Sklavenarbeit in den Minen, Zerstörung der auf Herkommen gründenden Ökonomie, familiäre Trennungen, erzwungene dauerhafte Mobilität, forcierte Frauenarbeit und Frauenraub fügen sich in seiner Darstellung zum Bild einer Gesellschaft zusammen, deren Gliedern es nicht erlaubt war, ›mit den Siegern zu gehen‹. Damit löst sich Livi Baccis Argumentation von den durch ›nackte Gewalt‹, zügellose ökonomische Ausbeutung und willkürlich Ausübung von Herrschaft gezeichneten Daten und umkreist jenes ›Minimum‹ intakter Lebensbeziehungen, von dem auch die Literatur der Sklaven- und Vernichtungslager des Zwanzigsten Jahrhunderts ex negativo handelt.
Im Lauf der Jahrzehnte haben die in den Westen integrierten, ökonomisch und sozial extrem erfolgreichen Verliererstaaten des Zweiten Weltkriegs komplizierte partizipatorische Erinnerungssysteme ausgebildet, an denen alle ›relevanten‹ Gruppierungen teilhaben, die Deutungshoheit über das Geschehene beanspruchen. Ausgeschlossen von der Teilhabe blieben die Regimetäter und das rechtsradikale Spektrum aus Personen und Organisationen, die, aus welchen Motiven auch immer, sich ideologisch und politisch in die Kontinuität der Niederlage stellen. Als relevant gelten Gruppen, die von der durch die Niederlage bereitgestellten Möglichkeit der Freiheit angemessenen Gebrauch gemacht haben: also die Gemengelage aus Regimeopfern und ›unbelasteter‹ Funktionselite, aus Exilierten und Aktivisten des Widerstandes, Emigranten und ihren Nachkommen sowie Exponenten von Protestbewegungen, soweit sie in die Demokratisierungsgeschichte des Landes eingegangen sind. Das austarierte Gefüge wechselseitig attestierten Respekts angesichts der einen Vergangenheit aus divergenten Vergangenheiten überlagert und durchdringt die ›klassische‹, vor dem Hintergrund der Katastrophe eigentümlich geschichtslos wirkende Reputationshierarchie der Gesellschaft, in der ökonomische Kriterien wie Herkunft, Einkommen, Erfolg und ihren symbolische Äquivalente im Bereich von Bildung, Intellekt und Geschmack zählen. Hier einige Merkmale:
– Erinnerungskultur ist nicht gleich Gedenkkultur. Die institutionell ›verankerte‹ rituelle Gedenkkultur ist eine Angelegenheit des Staates oder staatsnaher Institutionen. Das gilt, solange die Legitimität des Staates nicht durch besondere Umstände in Frage gestellt ist: inoffizielle Gedenkhandlungen sind immer auch Ausdruck von Vorbehalten gegenüber dem Staat bis hin zum symbolischen Widerstand. Die Anwesenheit von Staatsvertretern bei nicht-staatlichen Gedenkhandlungen gesellschaftlich bedeutsamer Gruppen zollt diesem Zusammenhang Respekt. Dagegen ist die Erinnerungskultur auf überraschende, zumindest variable und ›ungewöhnliche‹ Äußerungsformen angewiesen, die unter bestimmten aktuellen Gegebenheiten ›ihren guten Sinn haben‹, also wirken sollen. Sie ist informell. Die Gesten des Erinnerns fungieren nicht als Ausdruck der Legitimität des Staates, sondern – auf Zeit und unter limitierenden Bedingungen – als legitimitätsverleihende Akte: die innere Distanz zum Staat und seinem Vorrat an symbolischen Handlungen ist ihnen inhärent.
– Erinnerungskultur ist nicht gleich Medienöffentlichkeit. Erinnerungskultur findet in den öffentlichen Medien statt, ihre Pflege ist ein Teil des medialen ›Geschäfts‹, aber die Akteure und Handlungstypen unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten. Was immer sie in Erinnerung ruft, ist in den Grundzügen allgemein bekannt. Journalistische Recherche und aktuelle Berichterstattung berühren nicht den Kern der Darbietung. Darin ähnelt ihr Repräsentationstyp dem der Politik, die zwar mit Hilfe der Medien, aber nicht in den Medien ›gemacht‹ wird. Auch die Vermischung der Zonen und die wechselseitige Funktionalisierung wirken analog. Der distanzierende Faktor heißt im einen Fall – legitimiert durch den Wählerauftrag – Macht, im anderen Fall Authentizität. Die ist in der Politik zwar gefragt, aber ein knappes – und in der Regel verzichtbares – Gut. Die Erinnerungskultur kann das besser. Eine nicht unwesentliche unter ihren Aufgaben besteht darin, der Gesellschaft in einem ›permanenten Prozess der Erneuerung‹ Quellen der Authentizität zu erschließen und ihr die entsprechenden Akteure zuzuführen. Ob sich die in der Unterhaltungsindustrie oder im gehobenen kulturellen Dienstleistungssektor (Literatur, Theater, Regiefilm, Biographik) finden, ist im Prinzip gleichgültig, auch die Aneignung der ›ernsten‹ Stoffe durch Fernsehregisseure und -schauspieler, Kritiker, Interessenvertreter, Moderatoren und willkürlich ausgewählte Teilnehmer an einschlägigen Gesprächsrunden kann ohne weiteres als authentische Erfahrung in das Distributionssystem ›Erinnerung‹ eingespeist werden. Authentizität ist keine inhärente Qualität, sondern die Qualität des Inhärenten: der überzeugenden Demonstration von Erinnerung im öffentlichen Raum.
– Die Träger der Erinnerungskultur repräsentieren keine gesellschaftliche(n) Gruppe(n). In einem strikten Sinn von Authentizität repräsentieren sie ihre individuellen Lebensgeschichten und damit sich selbst. Die Anmutung, die von einer solchen Selbstrepräsentation ausgeht, entspricht in mancher Hinsicht derjenigen von Schauspielern, deren spezifische Leistung dem Publikum und nicht den in ihm vertretenen Bevölkerungsgruppen gilt. Adressat der Erinnerungskultur ist die ganze Gesellschaft oder ihr gemäß der Exklusionsregel – siehe oben - zugelassener Teil. Diese Reputationsgesellschaft ist eine verwirrende Größe, sie ähnelt in manchem der ›legitimen‹ Gesellschaft der ›herrschenden Kreise‹ Bourdieus, ohne über ihre Macht, ihren Einfluss und ihre ökonomische Potenz zu verfügen – in allen diesen Hinsichten ist sie einfach ›Gesellschaft‹. Aktivisten und Passivisten der Erinnerungskultur treffen sich darin, dass ihr gesellschaftlicher Status nicht spezifisch differiert, wenn man von der Prominenz einmal absieht, die der öffentliche Auftritt unabhängig von den Inhalten verleiht. Betrachtet man Erinnerungsaktivismus unter dem Aspekt der Bildung symbolischen Kapitals, dann muten die Ergebnisse ähnlich zwitterhaft an wie im Fall des privaten Beziehungslebens. Die Beziehung zwischen Erinnerungsträger und Gesellschaft fällt für ersteren umso unbefriedigender aus, je mehr er in sie ›investiert‹ – was sich unschwer an den persönlichen Enttäuschungen, Verbitterungen und Radikalisierungen ablesen lässt, die derartigen Lebensläufen nicht selten eignen, während derjenige, der sie zu plündern gedenkt, weit bessere Chancen besitzt, mittels sekundärer Effekte wie Ehrungen, Aufbau eines persönlichen Beziehungsgeflechtes etc. ›auf seine Kosten zu kommen‹. Die Erinnerungskultur ist weder elitär noch egalitär, sie ist weder exklusiv noch inklusiv, sie ist ›parteiisch‹, ohne Partei zu sein. Sie ist funktionale Repräsentation und Selbstrepräsentation in einem: ein integratives Angebot an alle, die es angeht, weil sie sich als Teil des Gemeinwesens verstehen.
– Die Erinnerungskultur ist eine auf dem Freund-Feind-Schema beruhende Teilrepräsentation der ›Nation‹. Nicht alle Erinnerungen sind gleichwertig – das gilt für die Schwere des Erlittenen, für Ort, Umstände und Art des Leidens, für Gruppenzugehörigkeiten und Konsequenzen, für den Heroismus des Widerstands und schließlich für die Tatsache des Leidens selbst. In dem Maße, in dem die Erinnerungskultur den Gründungsmythos anderer, ›intakter‹ Nationen vertritt (amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Bill of Rights, Französische Revolution), bleibt sie auf das entsetzliche Geschehen ausgerichtet, das der Neugründung des Gemeinwesens voranging, und damit auf die absolute Gegnerschaft zu den Schuldigen und ihren Entschuldigern. Die legitimierende Grundform des Erinnerns ist das Grauen. Eine detaillierte Geschichte der Erinnerungskultur könnte zeigen, wie durch die fortschreitende Rückwärts- und Vorwärtsintegration höchst unterschiedlicher ›Geschichten‹ die fast unlösbar wirkende Aufgabe gemeistert wurde, über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg diese Grundform zu erhalten – und damit die ursprüngliche Feindschaft real und lebbar zu gestalten –, während der stabile Alltag des Gemeinwesens die Marginalisierung des Gewesenen (das ›Vergessen‹) und seiner freiwillig-unbedarften Repräsentanten (der ›Ewiggestrigen‹, wie die prägnante Nachkriegsformel lautete) begünstigte.
Der Erinnerungskultur ist der Begriff der ›Nation‹ suspekt. Daraus folgt nicht, dass sie ihn ignoriert oder nicht zulässt. Im Gegenteil: der im Alltag präsente Zusammenhang zwischen Verdacht und Kontrolle, zwischen Kontrolle und Beherrschung ist auch auf diesem Feld evident. Das suspicium, der ›Argwohn‹, ist das Instrument, mit dessen Hilfe die Erinnerungskultur die Rede von der Nation kontrolliert und dominiert. Unter dem Gesichtspunkt authentischer Rede könnte es so aussehen, als handle es sich dabei um einen Nebeneffekt, über den man dieser oder jener Ansicht sein könne. Manches öffentliche Plädoyer dafür, Erinnerungskultur und nationale Rhetorik (oder ›Gemeinschaftsrede‹) voneinander zu trennen, um ›endlich‹ ein ›unverkrampftes Verhältnis‹ zur Nation zu bezeugen, huldigt diesem Missverständnis. Es fiele schwer, die Funktion (oder Funktionsbreite) der Erinnerungskultur zu bestimmen, ohne den Begriff der Nation ins Spiel zu bringen. Man verstünde bereits die außergewöhnliche Anstrengung nicht – oder nur in verstellter Form –, von der die Rede ist, wenn sie als singuläre Leistung der Deutschen gepriesen wird, wobei man die analogen, aber anderen kulturellen Stilen verpflichteten Leistungen anderer Nationen leicht als geringfügig abtut. Dieser Stolz darauf, die Bürde geschultert zu haben, Deutscher zu sein – im Verein mit dem Bannstrahl gegen alle, die in aufreizender und nur teilweise gültiger Symmetrie den ›Stolz, Deutsche zu sein‹ reklamieren – gibt mehr als anderes Auskunft in dieser Sache. Nicht die Nation gilt es unter Kontrolle zu halten – ein angesichts der Nachkriegsgeschichte eher donquichotteskes Motiv –, sondern das mit jener Bürde untrennbar verbundene Entsetzen. Die über Nacht ihrer Erinnerungskultur ledigen Deutschen wären vermutlich keine ›Nation unter Nationen‹, sondern die gesichtslose Population eines Wirtschaftsstandortes, angesichts dessen alle Arten von Assoziationen erlaubt und ›im Recht‹ wären – eine gelegentlich in der Literatur anzutreffende schwarze Vision.
Die Rede von der Nation hat in Westdeutschland, dessen Entwicklung hier zu Grunde gelegt wird, weil sie die geltenden Parameter besetzt, eine Reihe von Wandlungen erfahren, die den von der Erinnerungskultur durchlaufenen Stadien korrelieren. Ihre negative Besetzung im Schatten der Studentenrevolte und anderer Entwicklungen erscheint im Nachhinein nicht zwingend. Der von Willy Brandt propagierte Patriotismus der ›Bürger‹, der historische Versuch, das französische Modell des Citoyen mit dem Gedenken an die 1848 niveauvoll gescheiterte deutsche Freiheitsbewegung im sozialliberalen ›Konsens‹ zu verbinden, setzt wie bereits das Grundgesetz einen positiven Begriff der Nation voraus. Es ist nicht nötig, dass der Mythos der Nation alle Bevölkerungsteile zufriedenstellt; es genügt, wenn er sie tendenziell eint. Alle Nationbegriffe sind kämpferisch und nehmen jene manichäische Zweiteilung vor, in der kein Zweifel daran gelassen wird, welche Tradition – und welcher Bevölkerungsteil – als siegreich bzw. als unterlegen angesehen wird. Innenpolitisch steht der Kniefall von Warschau in einer bescheidenen Reihe ›aufsehenerregender‹ Versuche, mit den Mitteln der Gedenkkultur der Bürgernation die Scham und das Entsetzen, wie man sie in jenen Jahren empfand und artikulierte, rituell ›einzuhegen‹. Die Erinnerungskultur machte daraus etwas anderes: die überlebensgroße Geste des ehemaligen Exilpolitikers, der zwar das ›andere Deutschland‹ repräsentierte, aber weder die eine noch die am Ende siegreiche Nation. Der Sieg blieb eine Angelegenheit der Siegermächte, die Niederlage des nationalsozialistischen ›Reichs‹ verwandelte sich definitiv in die Niederlage der Nation – eine Deutung, die angesichts der unaufhebbar scheinenden innerdeutschen Grenze eine gewisse Plausibilität für sich verbuchen konnte. Dabei ist es aller staatstragenden Gedenkkultur zum Trotz bis 1989 geblieben.
Eine nicht unbedeutende Funktion der Erinnerungskultur besteht darin, das durch Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hindurch von weiten Kreisen der Bevölkerung weitergetragene, kaum abzuschüttelnde historische Bewusstsein der Niederlage irgendwie zum Verschwinden zu bringen. Die angewandten Verfahren – Identifikation mit den Opfern, Ächtung bestimmter Elemente der offiziellen Gedenksprache, zeitweise Ausblendung ›eigener‹ (?) Erinnerungen an Härten der Kriegs- und Besatzungszeit aus dem Opferdiskurs, Ritualisierung der Rede von ›den Deutschen‹ als Trägern des nationalsozialistischen Vernichungswillens bei kollektiver Ablehnung der Kollektivschuldthese, Überschreibung durch reale Befreiungsgeschichten etc. – sind bekannt. Sie delegieren den Konflikt der Deutungen an die Nation, die, ebenso unabweisbar wie die Niederlage, ebenso hässlich wie die Schuld und ebenso gegenwärtig wie der Wille, zu den Siegern der Geschichte zu gehören, den Vorteil der Ohnmacht bietet, gleichgültig, ob man die Teilung des Landes oder der eigenen Bevölkerung nach Licht und Dunkel misst. Der Erinnerungsdiskurs eröffnet die Aussicht auf eine Reputation, die jenseits der Felder persönlicher Tüchtigkeit und der ›bloß ökonomischen‹ Potenz des Landes liegt, aber auf erstaunliche Weise beides reflektiert. Er ist einer Konstellation geschuldet, keiner Generation: in ihm finden sich die jüngere Frontgeneration, die Kinder der Bombennächte und der mehr oder weniger schuldigen, mehr oder weniger traumatisierten Kriegsheimkehrer zusammen, um die ›Meinungsführerschaft‹ im Lande zu übernehmen.