
Unten ohne auf dem Sprung
von Immo Sennewald
Gregor Gysi, Präsident der Europäischen Linken
Ja, die ›gesellschaftlichen Zwänge‹, möchte einer ausrufen und dem Genossen Gysi in diesem Falle verständnisvoll zunicken. Wer sich Tag für Tag als Kader im Anzug mit Schlips bewegen, die Rituale des Apparates befolgen, Konferenzstühle drücken oder gar in Uniform und militärisch strammer Haltung Wutausbrüche seines Vorgesetzten ertragen muss, kann sich innerlich aufrichten, sobald er sich den Hauptabteilungsleiter, Oberst, gar Genossen Minister nackt vorstellt.
Einem von ihnen unbekleidet gegenüberzustehen war in der DDR durchaus möglich, denn nirgendwo sonst auf der Welt war ›Freikörperkultur‹ – FKK – landesweit so verbreitet, massenhaft beliebt und selbst außerhalb von Saunen, Kleingärten, Stränden anzutreffen, wie im »sozialistischen Staat deutscher Nation«. So beschrieb Artikel 1 der Verfassung 1968 – noch zu Zeiten von Walter Ulbricht – das Herrschaftsgebiet der SED.
Alles wird wieder gut
von Herbert Ammon
Alle sind erleichtert über den Abgang Donald Trumps, alle sind bewegt und beglückt von der Inauguration Joe Bidens am sonnigen Wintertag des 20. Januar 2021. In seiner Rede, akzentuiert mit den in den USA üblichen religiösen/zivilreligiösen Formeln sowie mit einem stillen Gebet, hat Präsident Biden die Überwindung aller Zwietracht, die Einheit der Nation, ihre stolze Geschichte, und eine glückliche Zukunft beschworen. Alles werde wieder gut: Die Corona-Pandemie werde man überwinden, allen Bevölkerungsgruppen gerecht werden – das Stichwort lautete equity, nicht mehr equality –, dem historischen Auftrag Amerikas gemäß für Frieden und Gerechtigkeit in aller Welt wirken.
Verfall der Öffentlichkeit?
von Ulrich Schödlbauer
Verfällt die Öffentlichkeit der westlichen Gesellschaften? Um das zu entscheiden, müsste man sich die Frage stellen, ob die Begriffe ›Verfall‹ und ›Öffentlichkeit‹ überhaupt zueinander passen. Ehrlich gesagt: Ich bin mir da nicht so sicher. ›Verfall‹ oder ›Dekadenz‹ setzt eine Normgestalt voraus, eine (meist kulturell gedeutete) erreichte Höhe, sagen wir, eines Baustils wie der Gotik oder des Barock oder eines allgemeinen Bewusstseins, die nur leider viel weniger gemessen, geschweige denn gedeutet werden kann. Die Rede vom Verfall bezeichnet dann den Fall, dass der Zenit überschritten ist und es bergab geht, also zum Beispiel – um vom Baustil auf die zugrunde liegende Gebäudemetapher zu kommen –, dass Sanitäranlagen nicht mehr richtig funktionieren und irgendwo der Putz zu blättern beginnt, sich hier und da bereits erste Risse im Mauerwerk zeigen und das Dach nicht mehr dicht hält.
Scheitert Europa am Nahen Osten?
von Heinz Theisen
Orient und Okzident sind, wie Goethe einst verkündete, in der Tat nicht mehr zu trennen. Sie haben sich sogar ineinander verstrickt, worüber oft ihre jeweils schlechtesten Seiten zum Durchbruch kommen. Die militärischen Interventionen des Westens zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die Instabilität des Orients in offene Gewalt und Chaos getrieben. Sie waren Ausdruck einer völligen Überschätzung der Universalisierbarkeit von Demokratie und anderer westlicher Werte. Wie wenig beide Kulturen miteinander kompatibel sind, zeigte sich schlaglichtartig als das – nach der Befreiung von den Taliban – frei gewählte Parlament Afghanistans umgehend die Scharia zur Grundlage jeder weiteren Gesetzgebung erhob.
Klimawissen – ein Produkt aus dem Computer?
von Hans von Storch
Man hört bisweilen Aussagen von der Art, die Klimaforschung sei ›eigentlich die Erfindung des Computers‹. Dass also die Aussagen der Klimaforschung – was meistens heißt: zum Klimawandel – Resultat intransparenter Computer-Codes seien. Das hebt ab auf die Prominenz ›der‹ Klimamodelle in der Klimaforschung. Ist dem so? Spielen Empirie und Theorie keine signifikante Rolle?
Im Folgenden werde ich versuchen zu umreißen, was alles zur Klimaforschung gehört – und damit hoffentlich zeigen, dass die Klimamodelle zwar eine Rolle spielen, aber eben nur eine. Die Aussage, dass wir derzeit einen Klimawandel erleben, dass dieser nicht mehr im Rahmen der natürlichen Klimaschwankungen liegt und mit unserem derzeitigen Wissen nur durch einen dominanten Beitrag der menschlichen Emissionen von Treibhausgasen erklärt werden kann, basiert auf der Auswertung von Langzeitreihen klimatologischer Beobachtungen, die allerdings teilweise geleitet wird durch Hypothesen, die mit Klimamodellen abgeleitet wurden.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Die frei verwendeten Motive stammen von Monika Estermann, Renate Solbach und Ulrich Schödlbauer.