von Helmut Roewer

Am 24. Februar 2022 haben starke Heeres-Verbände der russischen Armee die Grenzen zur Ukraine überschritten und sind in den Kampf gegen die weitgehend in der Ostukraine versammelten ukrainischen Armee eingetreten. Die Medien überschlagen sich seitdem in Sachen Kriegsberichterstattung, gepaart mit Parteinahme zugunsten der Ukraine. In den beiden folgenden Artikeln, die ich zwischen dem 15. und 21. März 2022 verfasst habe, gehe ich (1) auf die politischen Grundlagen des Ukraine-Konflikts ein und beschreibe (2) das psychologische Moment der Kriegseröffnung anhand historischer Beispiele und als aktuelles Massenphänomen.

Teil 1: Ukraine – einige Anmerkungen zu den Grundlagen des Konflikts

Der Ukrainekonflikt ist eine Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland. Er beruht auf den unvereinbaren Auffassungen beider Staaten bezüglich der Ukraine.

Russische Auffassung: Die Ukraine (auch Kleinrussland genannt) ist seit Jahrhunderten ein integraler Bestandteil des Russischen Reiches und soll es auch wieder werden.

US-amerikanische Auffassung: Die Ukraine ist der Dreh- und Angelpunkt, um Russland so zu schwächen, dass es seine Großmachtstellung endgültig verliert.

Für beide Auffassungen gibt es aus den letzten Jahren ungezählte Belege. Beide Auffassungen sind der jeweils anderen Seite wohlbekannt. Ohne die Berechtigung oder Nicht-Berechtigung beider Auffassungen zu diskutieren, lässt sich sagen, dass sie miteinander nicht zu vereinbaren sind. Im Folgenden werde ich kurz auf den Ursprung und den Verlauf des Konflikts zu sprechen kommen.

In den Jahren 1988-92 löste sich die Sowjetunion auf. Der Auflösungsprozess zeitigte weltpolitisch relevante Folgen in zwei Richtungen: (1) Das unter den Zaren begründete russische Großreich zerspaltete sich in selbständige Einzelstaaten. (2): Das unter Stalin eroberte Osteuropa sprang aus dem Vasallenbündnis des Warschauer Paktes ab.

(1) Das Zersprengen der Sowjetunion

wurde durch den Ausbruch der drei baltischen Sowjetrepubliken ausgelöst. Alle drei hatten sich bereits 1918-40 aus dem russischen Großreich mit Gewalt herausgelöst. Die Berufung auf diese Erfahrung war der innere Motor. Das Einfordern eines Rechtes auf Austritt konnte sich auf eine Norm der sowjetischen Verfassung stützen, in der genau dieses Recht auf Austritt aufgeschrieben stand.

Dem Beispiel der drei baltischen Staaten folgten die anderen Sowjetrepubliken. Doch anders als im Baltikum dominierten bei ihnen nicht nationalistische Gesichtspunkte, sondern die Hoffnung, auf diese Art und Weise dem Strudel des wirtschaftlichen Untergangs zu entkommen. Die Gelegenheit zum Austritt erschien auch deswegen günstig, weil die internen Auseinandersetzungen an der Spitze der Sowjetunion, die sich auf die persönliche Rivalität zwischen Michail Gorbatschow und Boris Jelzin zuspitzten, letztlich mit dem Sieg Jelzins endeten. Jelzin hatte werbewirksam auf das selbständige Russland gesetzt, Gorbatschow war Ende 1991 ein König-ohne-Land.

Was diese Priorisierung des selbständigen Russlands bedeuten würde, war den neuen Herrschern sehr wohl bewusst. Sie versuchten das Großreich durch einen Staatenbund zu ersetzen, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Der anfangs vielversprechende Versuch scheiterte alsbald, weil, wie gesagt, den sich abspaltenden Staaten der Verbleib an der Seite des vom wirtschaftlichen Untergang bedrohten Russland nicht attraktiv erschien. Eine Vorreiterrolle beim Verweigerungsprozess spielte die Ukraine.

Kurze Rückbesinnung auf die Ukraine

Zur Orientierung sehen wir in die stets zuverlässige Jubiläumsausgabe des Großen Brockhaus von 1908. Dem ist (Bd. 16, S.46) der Begriff Ukraine ganze 19 Zeilen wert.

Ukraine, russ. und poln. ukraina (d.i. Grenzland), im moskauischen Reich und ehemaligen Königreich Polen die äußersten, meist wenig bevölkerten Grenzgebiete gegen die Tataren und andere nomadisierende Völker.

Auffällig ist, dass die Gebiete, die nach den Polnischen Teilungen der Donaumonarchie zufielen, also der Großraum Lemberg (Lwiw, Lwow) nicht zur Ukraine gerechnet wurden. Diese Gebiete wurden als Galizien und die Mehrzahl der dortigen Bewohner als Ruthenen bezeichnet.

Während des Ersten Weltkriegs (1914-18) unternahm die deutsche Führung zahlreiche Versuche, das gegnerische Zarenreich durch Maßnahmen der politischen Kriegführung zu zersprengen. Ich erwähne diese Maßnahmen hier, um darauf hinzuweisen, dass sich bezüglich Russlands an diesem Vorgehen bis heute nichts Wesentliches verändert hat. Es ist lediglich der Kriegsgegner ausgewechselt worden. An die Stelle des Deutschen Reiches sind die USA getreten.

Zu den genannten Maßnahmen politischer Kriegführung der Deutschen gehörte die sog. Randstaaten-Politik. Hinter dem Tarnbegriff verbarg sich die unfriedliche Abspaltung von Nationalitäten vom russischen Zentralstaat, um diesen in die Niederlage zu treiben. Eines der Zielgebiete war hierbei die Ukraine, d.h. selbstredend nur derjenige Teil, der damals zu Russland gehörte. 1918 erzwang Deutschland nach Abschluss des Friedensvertrags von Brest-Litowsk, den die Regierung von Lenin genötigt war zu unterschreiben, durch einen raschen und sehr weit reichenden militärischen Vorstoß nach Südosten bis zur Krim die Abspaltung der Ukraine vom Russischen Reich und die Installierung eines deutschen Vasallenstaats unter einem ukrainischen Hetman.

Nach der deutschen, respektive der österreichischen Niederlage gegen die Westmächte im Ersten Weltkrieg Ende 1918 wurde die deutsche Grenzziehung bezüglich der Ukraine mehrfach revidiert. Im Verlauf des Russischen Bürgerkriegs (1918-22) wurden die abgespaltenen Gebiete in das russische Großreich wieder einverleibt. Ausgenommen hiervon waren die Gebiete, die nach dem Siegerwillen dem neu errichteten Polen zufielen. Etliche der fraglichen Gebiete wechselten zwischen dem polnisch-russischen Krieg (1919-20), dem sowjetischen Einmarsch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs (1939), der vorübergehenden deutschen Besetzung (1941-44) und der endgültigen Grenzziehung aufgrund der Vereinbarungen der Siegermächte (1943-45) den Besitzer. Das heutige Staatsgebiet der Ukraine entspricht im Wesentlichen der sowjetischen Gebietsfestlegung von 1945. Allerdings wurde zudem Anfang der 1950er Jahre der Ukraine aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung die Krim von der Sowjetführung zugeschlagen.

Mit der Zersprengung der Sowjetunion in selbständige Einzelrepubliken zeigte sich der Pferdefuß der einst ziemlich willkürlich durch Stalin vorgenommenen Grenzregelungen innerhalb der Sowjetunion. Russland wurde fortan bis auf einen kurzen Küstenstreifen vom Schwarzen Meer abgeschnitten. Die einst sowjetische und jetzt russische Schwarzmeerflotte hing quasi in der Luft. Russland suchte im allgemeinen Auflösungs-Tohuwabohu die Trumpf-Karte der einstigen Roten Armee in der Hand zu behalten, indem es die sich abspaltenden Staaten veranlasste, die auf ihrem Territorium befindlichen Kern-Waffen nach Russland abzugeben, ebenso die wesentlichen Teile der noch intakten Roten Armee.

Die Führung der Ukraine widersetzte sich dem russischen Vorgehen insofern, als sie sich – handstreichartig – die militärischen Stützpunkte der einstigen Roten Armee unterstellte, während sie dem Abzug der atomaren Bewaffnung nichts entgegensetzte. Hinsichtlich der Schwarzmeerflotte wurde ein Kompromiss erzielt. Der russischen Führung wurde zugebilligt, den Hafen von Sewastopol zu pachten.

Im Februar 2014 wurde durch die soeben neu installierte ukrainische Regierung der Widerruf der Pacht Sewastopols angekündigt. Tage später besetzten russische Truppen die Halbinsel Krim und machten dadurch das angedrohte Pachtende obsolet. Im März 2014 wurde zudem auf der Krim ein Referendum durchgeführt, in welchem sich die dortige Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss an Russland aussprach. Seitdem ist die Angelegenheit unter dem Rubrum der »völkerrechtswidrigen Annexion der Krim« ein international vielbeachteter verbaler Zankapfel. Dazu gleich mehr.

(2) Die Auswirkung der Zersprengung der Sowjetunion auf die Vasallenstaaten in Osteuropa

Mit dem Ende der Sowjetunion fand auch der Warschauer Pakt seine Erledigung. Die ehemaligen Mitgliedsländer traten nicht nur aus, sondern gaben durch innere Umwälzung ihrer politischen Verhältnisse unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung nichts mehr zu tun haben wollten.

Alle diese Länder brauchten keine westliche Nachhilfe für diese Willensbildung, denn sie kannten die Praxis des Sowjetkommunismus aus eigener Anschauung. Ob sie das westliche Gegenmodell in seinen Nuancen durchblickten, will ich an dieser Stelle nicht erörtern. Jedenfalls schien für sie zunächst klar, dass kommunistische Gewaltherrschaft und Russenherrschaft ein und dasselbe waren. Deswegen fällt es nicht schwer, den Wunsch nachzuvollziehen, zum Schutz vor neuerlicher Russenherrschaft unter das Dach der Nato zu schlüpfen.

Die Nato, das westliche Gegenmodell der Sowjetherrschaft, war 1949 als politisches und Militärbündnis gegründet worden, um – wie ein britischer Mitgründer flapsig, aber zutreffend bemerkte – in Europa die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten. Dieser Zweck war mit dem Ende der Sowjetunion bei schlichter Betrachtung der Bedrohungslage erfüllt worden. Der Kalte Krieg war zu Ende. Doch vom Ende der Nato war partout keine Spur.

Das liegt an einer grundlegenden Änderung der US-amerikanischen Selbsteinschätzung bezüglich der eigenen Stellung innerhalb der Welt. Vorsorglich merke ich an, dass das jetzt Folgende nicht auf einem irgendwie gearteten anti-amerikanischen Mist gewachsen ist, sondern von jedermann, der einigermaßen des Amerikanischen mächtig ist, nachgelesen werden kann. Eine wesentliche Quelle war für mich das US-amerikanische Strategie-Magazin Foreign Affairs, das ich seit Jahr und Tag lese. Die Zeitschrift gehört dem Council on Foreign Relations, der in den USA tonangebenden Vereinigung der einflussreichsten Exponenten von Geld, Wirtschaft und Außenpolitik.

Mit dem Ende der Sowjetunion erlebten Amerikas Strategen eine Art Sinnkrise, denn das, was sie seit Jahr und Tag propagiert hatten, war eingetreten. In ihrem Erstaunen sprachen sie zunächst vom Ende der Geschichte. Doch hielt diese Happy-End-Stimmung nicht allzulange vor, denn das Leben ging weiter. Deswegen kamen die Chefdenker auf die Idee, die Rolle der USA als Die einzige Weltmacht zu beschreiben. Diese Neubestimmung hatte inhaltliche Konsequenzen. Es kam nicht mehr darauf an, die bestehenden Machtblöcke in Schach zu halten, sondern allen irgendwie Mächtigen außerhalb der USA klarzumachen, dass sie sich dem außenpolitischen Willen der einzigen Weltmacht zu beugen hätten.

Mit Bezug auf die einstige Sowjetunion und deren Nachfolgemacht Russland bedeutete die neue Strategie die Notwendigkeit der unmittelbaren Einmischung. Folgerichtig wurden US-amerikanische Einflussnahme-Einrichtungen, wie zum Beispiel US AID, Weltbank und IWF, in Russland tätig. Dies geschah in der zutreffenden Einschätzung, dass nach dem zu erwartenden Sieg über Russland auch die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie Dominosteine fallen würden. Diese Rechnung schien bis Ende 1999 in Erfüllung zu gehen.

Doch der Machtwechsel von Jelzin auf Putin beendete das Eldorado der Harvard-Wall Street-Combo, die den staunenswerten Ausverkauf des russischen Staatseigentums unter Jelzin organisiert und den Rubel in eine absolute Pleite-Währung transformiert hatte. Die Reinigung des Kreml ging gleich nach Putins Amtsantritt mit atemberaubender Geschwindigkeit vonstatten. Der erste, der hierüber redete, war der Spekulant George Soros. Er schrieb im April 2000 an seine Spießgesellen:

Ein Jahrzehnt lang hatten wir es in der Hand. Wir haben es versemmelt.

Die US-Gesetzgebungskörperschaften benötigten etwas länger, um auf das Ungemach, das ihren reichen Leuten in Russland widerfuhr, zu reagieren. Doch 2001 war das erste Sanktionsgesetz unter Dach und Fach. Das Gesetz sanktioniert u.a. die Beschneidung der US-Einflussnahme-Organisationen in Russland, die Beschneidung des freien Marktzugangs für amerikanische Unternehmen und in praxi das Vorgehen gegen die sog. Oligarchen, d.h. im Klartext das Vorgehen gegen Russen, die verdeckt mit amerikanischem Kapital bedeutende Gegenstände des russischen Volksvermögens an sich gebracht hatten, und die nun unter Putin strafrechtlich verfolgt wurden. Zahlreiche weitere Sanktionsmaßnahmen gegen russische Einrichtungen und russische Handelspartner sollten folgen – Northstream II ist zum Beispiel ein solches deutsch-russisches Projekt, das durch Sanktionierung bekämpft wurde.

Man kann dies alles etwas harmlos als Sanktionen – also als Strafen für böses Tun – bezeichnen, in Wirklichkeit war es 2001 die Eröffnung eines Handelskrieges. Nichts Neues in der Geschichte der USA. Parallel hierzu schaltete die US-Administration mit Schwerpunkt auf die Randstaaten-Politik um. Hierzu gehörte auch die Osterweiterung der Nato und das Fußfassen in fast allen ehemaligen Staaten der Sowjetunion, vor allem in der Ukraine.

(3) Die Ukraine im Brennpunkt der US-amerikanischen Weltmachtpolitik

Die Ukraine wurde, wie zuvor Russland, von den einschlägigen US-Einflussnahme-Organisationen unterwandert. Zugleich versuchten die bekannten Investorengruppen, die wesentlichen, wirtschaftlich ausbeutbaren Teile des rohstoffreichen und agrarisch attraktiven Landes an sich zu bringen. Hierbei bedienten sie sich rivalisierender russischer und ukrainischer einheimischer Gangs und ehemals exilierter Rückwanderer, die bis in die politischen Spitzen hinein das Land zu dominieren suchten. Der Export der von der westlichen Wertegemeinschaft propagierten Demokratie erwies sich – wenn man das Manöver am Wohlergehen der Bevölkerung misst – als übler Flop. Weiten Teilen der Bevölkerung, besonders den im Osten des Landes lebenden Russen, ging es schlechter als zu Zeiten der Sowjetunion.

Mehrfach sorgten Spitzenfunktionäre der US-Administration dafür, dass US-genehme Ukrainer ans Ruder kamen und russophile Politiker abserviert wurden. Das markanteste Beispiel aus diesem Einflussreigen ist die blutige Revolte (die »orangene Revolution«) von Kiew im Februar 2014. Deren Ziel war es, einen nach US-Ansicht zu Russland-freundlichen Präsidenten abzuservieren und die russische Schwarzmeerflotte von ihrem Stützpunkt Sewastopol abzuschneiden. Der Putsch in Kiew gelang, die Sewastopol-Sache hingegen nicht: Die russische Blitz-Reaktion der Besetzung der Krim habe ich bereits weiter oben erwähnt.

Treibende Kraft des proamerikanischen Umsturzes in Kiew war innerhalb der Obama-Regierung die Mitarbeiterin des State Department Victoria Nuland. Ihre Rolle wurde offenbar, als die Russen Nulands einschlägigen Telefonate mit der US-Botschaft in Kiew in die Öffentlichkeit durchschoben. Aufs Ganze gesehen war die angezettelte Revolte nicht nur ein Schlag ins Wasser, sondern bezüglich der hierdurch ausgelösten russischen Besetzung der Krim eine deftige strategische Niederlage der USA. Nicht nur war es misslungen, die Russen von ihrer Schwarzmeerflotte abzuschneiden, sondern mit der nunmehr russisch gewordenen Krim riegelte Russland die Ukraine nach Süden ab. Das war das Gegenteil der von den USA formulierten Ziele.

Unter der folgenden Präsidentschaft von Trump (Januar 2017-Januar 2020) gerieten Russland und die Ukraine aus den amerikanischen Weltschlagzeilen, da Trump sich auf die unübersehbar gewordene Rivalität mit China konzentrierte. Mit dem Regierungswechsel zu Biden (Januar 2020) rückte die Ukraine-Russland-Strategie wieder auf die US-amerikanische außenpolitische Agenda und ein altbekanntes Gesicht (Victoria Nuland) erschien wieder auf den US-Bildschirmen, denn bald nach Übernahme des Präsidentenamtes ließ Biden verkünden, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nunmehr in die politische Wirklichkeit rücke. Wenn man bedenkt, dass dieser Schritt für die Russen unannehmbar sein würde – und das ganz allgemein und nicht nur für Putin und sein unmittelbares Gefolge – und die Amerikaner hierüber genau und zutreffend informiert waren, so ist der Gedanke nicht ganz fernliegend, dass die Ankündigung als offene Provokation gemeint war und als solche auch ankam.

Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Februar 2022 auf der Münchner Sicherheitskonferenz die provokative Schraube noch einen kleinen Dreh weiterbewegte, indem er die Teilnehmer wissen ließ, dass sein Land an der Schwelle der Atombewaffnung stehe, war das Maß in Moskau offenbar voll.

Teil 2: Der erste Streich – eine kleine Psychologie der Kriegseröffnung

Wenn wir den augenblicklichen Krieg in der Ukraine betrachten, beschleicht uns der Verdacht, dass wir – die wir bestinformiert sind in der offensten aller möglichen Welten – von der konkreten Kriegseröffnung Russlands überrascht wurden. Wir sind darüber empört, weil wir nicht gerne einräumen, dass etwas so Grundlegendes wie eine Kriegseröffnung derartig überraschend geschieht. Deswegen rotten wir uns zusammen und suchen einen Schuldigen. Mal ehrlich, Gustave le Bon (Die Psychologie der Massen) hätte seine helle Freude an uns gehabt.

Im Folgenden werde ich einige Anmerkungen dazu machen, (1) wie Kriege eröffnet werden und (2) was die Psychologie der Massen in diesem Zusammenhang für eine Rolle spielt. (3) In einem weiteren Abschnitt werde ich einige historische Beispiele Revue passieren lassen, um schließlich (4) auf den Ukraine-Konflikt zurückzukommen, und (5) wie dieser auf die Psyche der Ukrainer und (6) schließlich der Deutschen wirkt.

(1) Ab morgen ist Krieg – Wie Kriege eröffnet werden

Über das richtige, falsche, unzweckmäßige und angemessene Kriegführung sind eine Unzahl von grundlegenden Werken verfasst worden. Bereits die Chinesen längst vergangener Zeit wussten in Theorie und Praxis hierüber Bescheid.

Eine Psychologie der Kriegseröffnung, aus der ich – angesichts der aktuellen Ereignisse – zitieren könnte, habe ich in meiner Bibliothek nicht entdeckt. Aber bestimmte Grundregeln zur Kriegführung, die wichtige Fingerzeige enthalten. Der Chinese Sun Tzu (Schreibweise ungewiss) bemerkte mit Bezug auf unser Thema vor rund 2500 Jahren das Folgende:
I.1: Krieg ist für den Staat von entscheidender Bedeutung. (...) Er ist gründlich zu überdenken.
I.2: Beurteile ihn daher nach den fünf grundliegenden Faktoren...
[einer davon:] I.4: Unter moralischer Führung verstehe ich das, was das Volk in Einklang mit seiner Führung bringt. (...)
I.17: Jegliche Kriegführung beruht auf Täuschung.
II.3: Das Hauptziel des Krieges ist der Sieg. Wird dieser zu lange hinausgezögert, so werden die Waffen stumpf und die Moral geschwächt.
Ich übersetze das mal ins Hier und Heute. Der Staat, der Krieg führt, spielt mit seiner Existenz. Er hat keine Chance, wenn er das eigene Volk nicht hinter sich bringt. Der Kriegführende muss täuschen können. Wichtig allein ist der Sieg. Er darf nicht herausgezögert werden, weil die Kampfmoral von Volk und Armee mit der Zeit nachlässt.

(2) An mein Volk – Was die Psychologie der Massen bei der Kriegseröffnung für eine Rolle spielt

Lassen wir die Worte des Chinesen einmal im Raum stehen und sehen zur Sicherheit nach, was in der deutschen militärischen Kriegführungs-Bibel steht. Das ist die berühmte nachgelassene Schrift Vom Kriege des preußischen Generals Carl von Clausewitz aus dem Jahre 1832. Da erleben wir eine Überraschung, denn Clausewitz versorgt den Politiker zwar mit der bis heute immer wieder zitierten Weisheit, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, aber zur grundlegenden Frage, wie man ihn vom Zaun bricht, schweigt er sich aus.

Wir halten Clausewitz zugute, dass für ihn das Kriegführen das Normalste von der Welt war, um einen grundlegenden Konflikt zwischen Staaten zu entscheiden. So spielt denn auch sein Buch im Militärischen und gibt Rat, was zu tun und was zu lassen sei, um zu siegen. Wir halten ihm zugute, dass er Bismarck und seine Kriege nicht kannte. Wir werden darauf zurückkommen.

Doch ein bisschen Unverständnis bleibt schon, denn Clausewitz war Zeitzeuge des ersten und dazu auch noch erfolgreichen Versuchs der psychologischen Massenbeeinflussung in Deutschland, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Ich spreche von den Befreiungskriegen 1813-15. Hier ging es darum, die französische Oberherrschaft über Europa zu brechen. Die Befreiungskriege begannen mit dem legendär gewordenen Aufruf »An Mein Volk« des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 17. März 1813. Es war in Preußen der erste Fall, in welchem der Herrscher ans Volk appellierte. Der Krieg Preußens gegen Frankreich sollte ein solcher der preußischen Untertanen gegen den Aggressor Napoleon werden. So war der Aufruf gemeint und so geschah es auch.

An mein Volk

(3) Sand in die Augen streuen – Die Psychologie der Kriegseröffnung verändert unter Bismarck ihre Zielrichtung, und dabei bleibt es bis heute

Während wir soeben betrachtet haben, wie ein preußischer König durch den Appell ans Volk dieses in stürmische Kriegsbereitschaft versetzte, also eine Mobilmachung nach innen auslöste, verlagerte Bismarck in den drei preußisch-deutschen Einigungskriegen (1864-71), die er ganz bewusst auslöste, das psychologische Moment nach außen. Er ließ die übrige Welt wissen, dass Preußen einen gerechten Krieg führe, mithin nicht der Aggressor sei. Am deutlichsten griff diese Kriegsauslösungsmethode beim letzten der drei Kriege, dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71.

In Bismarcks Strategie war dieser Krieg notwendig, um die deutschen Länder südlich des Norddeutschen Bundes zum Mitmachen zu zwingen und die anderen europäischen Großmächte (Großbritannien, Russland, Österreich-Ungarn) zum Stillhalten zu veranlassen. Das gelang durch einen propagandistischen Handstreich, der dann später als Emser Depesche in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Inhalt des Manövers war, die ungeschickt und eitel handelnden Franzosen als kriegslüsterne Aggressoren dastehen zu lassen, gegen die der preußische König allen Anlass habe, seine Ehre zu verteidigen. Diese Strategie ging auf. Der preußisch-deutsche Krieg gegen Frankreich fand unbehelligt von den Großmächten Europas statt und führte Frankreich, das sich einen Angriff auf Preußen ganz anderes vorgestellt hatte, in eine krachende militärische Niederlage.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 zeigte sich, wie sehr die außer-deutschen politischen Führer diese Lektion gelernt hatten. Sie provozierten und warteten ab, bis Deutschland töricht genug war, sich durch Kriegserklärungen in Richtung Russland und Frankreich selbst ins unrechte Licht zu rücken. Die Kriegsschuldlüge war eine der am besten gepflegten Propagandaaktionen der Alliierten. Sie war ihnen so wichtig, dass sie Deutschland beim Friedenschluss von Versailles zwangen, diese Lüge vertraglich anzuerkennen.

Ein ebenso fatales Beispiel für den Unverstand der deutschen Führung ist der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939. Der massive militärische Angriff auf Polen ließ Deutschland in aller Welt als den allein Schuldigen erscheinen. Ich habe nicht vor, an dieser Überzeugung zu rütteln und eine vom Thema ablenkende, unfruchtbare Debatte anzuzetteln. Ich möchte vielmehr lediglich auf eine geradezu verblüffende Parallele zum Ausbruch des heutigen Krieg in der Ukraine hinweisen. Hierbei ist zu beachten, dass der Kriegsausbruch 1939 nicht aus unserer heutigen gefestigten Sicht, sondern, weil es um Massenpsychologie geht, aus der Sicht der Zeitgenossen zu beurteilen ist.

Das seit 1919 anderthalb Jahrzehnte am Rande eines Krieges entlangdümpelnde Verhältnis zwischen Deutschland und Polen war nach dem zwischen beiden Ländern 1934 geschlossenen Nichtangriffspakt wie ein Waffenstillstand zwischen zwei Halunken – beide Länder waren zu diesem Zeitpunkt aggressive antisemitische nationalistische Diktaturen. Man beäugte sich und machte dann gemeinsame Sache, als es 1938 gegen die Tschechoslowakei ging. Die Beute wurde geteilt.

Die Lage änderte sich, als US-Präsident Franklin Roosevelt die deutsch-polnische Sache in seine Hände nahm. Er ermunterte die Polen, sich mit dem Deutschen Reich provokativ anzulegen. Das war, wenn man nur wollte, keine Schwierigkeit. Die in Polen lebende deutsche Minderheit (ca. 1 Million Männer und Frauen) und der kuriose halbsouveräne Status des Freistaats Danzig boten Reibungsflächen satt und genug. Wenn man nur wollte. Die von einem Großpolen träumende chauvinistische Führungsschicht fühlte sich sicher, dank zu erwartender britischer, französischer und US-amerikanischer Unterstützung, auch den militärisch hochgerüsteten Nachbarn durch rabiates Vorgehen in Danzig und gegen Volksdeutsche in Polen provozieren zu können. Das hierauf reagierende Deutsche Reich würde dann als Aggressor weltweit geächtet und niedergeworfen. Es winkte, so dachte man, reiche Beute – polnische Ulanen, so sagte man expressis verbis, würden drei Tage nach Kriegsausbruch ihre Pferde in der Spree tränken.

Von der polnischen Rechnung ging nur der Auftakt auf – das Deutsche Reich machte sich als Aggressor weltweit unmöglich –, der Rest hingegen nicht. Das ist bekannt. Die Rechnung ging deswegen nicht auf, weil die Westmächte, vor allem die USA, buchstäblich nichts taten, um den Polen zu Hilfe zu eilen. So wurde Polen binnen dreier Wochen militärisch und politisch ausgelöscht. Die Polen hatten in ihrer damaligen Naivität nicht erkannt, dass sie nichts weiter waren als ein Köder – ausgeworfen, um die Kriegsbereitschaft des Westens anzukurbeln. Sie waren Opfer eines psychologischen Kriegseröffnungs-Schachzugs. Und, man muss es hinzufügen, der angeblich im Einklang mit der Vorsehung handelnde deutsche Führer A.H. fiel genauso darauf herein wie die polnische Obristen-Riege.

(4) Der bitterböse Wladimir – Die russische Kriegseröffnung gegen die Ukraine und das angebliche Erwachen des Weltgewissens

Blickt man allein auf das pure Ereignis, auf den Tag, von dem ab geschossen worden ist, so scheint das Ergebnis sonnenklar. Russland ist der Aggressor, und sein Präsident Putin, der den Angriff befohlen hat, gehört vor Gericht. Alle sind sich einig.

Doch halt, Moment mal. Zunächst einmal gilt der Grundsatz, dass Wir-sind-hier-alle-der-Meinung kein Argument, sondern das Gegenteil davon ist, nämlich eine Propaganda-Blase. Piekst man hinein und bringt sie zum Platzen, so wird mitunter der Blick auf die Realität frei. Und die sieht dann keineswegs mehr einheitlich aus, sondern buntscheckig und geprägt von schreienden Gegensätzen. Das gilt auch in der psychologischen Wirkung der russischen Kriegseröffnung in der Ukraine.

Selbst wenn sich das in Deutschland kaum einer vorzustellen wagt, sieht in Wirklichkeit die angeblich weltweite Ablehnungsfront so aus, dass wir von den Nato-Staaten reden und bestenfalls von diesen. Wer es genauer wissen will, der wende einen Trick an: Wer traf sich in den letzten 14 Tagen mit Russen, um auf der Spitzenebene Wirtschaftsvereinbarungen zu treffen? Ich nenne mal drei davon: China, Indien, Saudi-Arabien. Diese Länder wirken nicht besonders beeindruckt, und empört sind sie schon gar nicht. Standard-Floskel: Wir haben nicht vor, uns in diese russische Angelegenheit zu mischen. Na, wie klingt das? Das klingt nach: Liebe Nato-Boys, macht euern Dreck alleine.

Und ganz nebenbei: Was machen eigentlich so unterschiedliche Regime wie die von Süd-Afrika, Südostasien, Süd- und Mittelamerika, dem Jemen, Israel, Syrien, und nicht zu vergessen: der Diktator der Türkei (übrigens ein Nato-Mitglied)? Rücken wir ruhig noch ein bisschen näher ran: Hörte man was aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, von der Krim? Aus dem Donbas? Ja, allerdings, da wird geschossen.

Nur mal so in die Runde gefragt: Auf wen schießt die russische Armee da eigentlich? Wohl kaum auf die dort lebenden Russen, die sich bereits vor gut einem Jahrzehnt für autonom erklärt haben. Die Russen schießen auf die ukrainische Armee, bestehend aus den regulären, aber nicht sonderlich zuverlässigen Streitkräften und Söldnertruppen. Diese Meldungen sollten hellhörig machen. Vor allem: Was veranlasste die ukrainische Führung den Schwerpunkt ihrer Streitkräfte in den Donbas zu verlegen, wo fast ausschließlich ethnische Russen leben? Was veranlasste diese Truppen, in den letzten Wochen vor dem russischen Einmarsch dort eine große Zahl russisch-stämmiger Bürger zu töten?

Hört man was aus Russland selbst? Vertraut man den Qualitäts- und Wahrheitsmedien, steht Putin nach dem Willen der russischen Bevölkerung fünf Zentimeter vor seinem Sturz. Es werden drei bis fünf Russen herumgereicht, die nicht müde werden, die grimmig-frohe Botschaft in westliche Mikrophone zu sprechen. Damit kontrastiert, man muss es leider sagen, der Rauswurf von russischen Spitzenkünstlern aus Deutschland, die in den Verdammungschor nicht einstimmen mögen. Russische Einheitsfront gegen Putin? Es sieht nicht so aus. Der Westen schwelgt in Illusionen.

(5): Lasst die bunten Fahnen wehen – Die psychologische Wirkung der Kriegseröffnung auf die Ukraine

Damit sind wir beim Kern der Beurteilung der Lage angelangt. Der russische Einmarsch hat auf die Ukraine wie ein Schock gewirkt. Das ist leicht zu verstehen, denn seit dem Machtwechsel in Washington DC im Januar 2021 wurde das Land wieder zum öffentlich erklärten Hätschelkind der USA. Die EU schloss sich dem neuen Kurs pflichtschuldigst an. Mitgliedschaft in Nato und EU wurden mit wohlwollender Gestik diskutiert. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, wurde wie ein Wunderkind herumgereicht. In Davos, beim schrägen Herrn Schwab, selbstverständlich.

Selenskyjs letzter einschlägiger öffentlicher Auftritt war die Münchner Sicherheitskonferenz im Januar. Da sprach er von der bevorstehenden Atombewaffnung seines Landes. Niemand von den Anwesenden widersprach ihm. Russland und China waren nicht anwesend.

Parallel lief die Propagandaschlacht gegen den Aggressor Putin. Wohlgemerkt vor dem Russischen Einmarsch. Nüchterne Leute fragten: Was soll da verdeckt werden? Wenige Tage nach dem russischen Einmarsch wurde es klar. Es ging um die Aufstellung von Raketenrampen und um den Betrieb von Biowaffen-Laboren. Damit das nicht missverstanden wird: Diese Kriegsarsenale waren keine russischen, die an der mexikanischen Grenze oder auf Kuba aufgestellt wurden, sondern US-amerikanische in der Ukraine an der Grenze zu Russland.

Historischer Auftritt im US-Senat: Die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland erklärt, warum die seit 2004 von den USA in der Ukraine betriebenen Biowaffen-Labore keine Biowaffen-Labore sind, sondern humanitäre Einrichtungen zum Schutz der Menschheit, die es vor dem Zugriff der Russen zu schützen gelte. Gleichzeitig erklärt sie, dass das vorrangige US-amerikanische Ziel des Russland-Boykotts erreicht sei, nämlich das deutsch-russische Northstream II-Projekt zu beenden, was jetzt nur noch ein nutzloses Stück Blech am Grund des Meeres sei.

Ich sagte es bereits weiter oben, die Situation am Jahresbeginn 2022 ähnelte in fataler Weise dem Jahresbeginn 1939. Damals war es Polen, das von den USA gegen das Deutsche Reich in Stellung gebracht wurde, jetzt war es die Ukraine gegen Russland. In beiden Fällen sehen wir eine von vornherein unterlegene Partei gegen einen bis an die Zähne bewaffneten Gegner. Polen ging mit Gewalt gegen die deutsche Minderheit vor, die Ukraine gegen die russische Minderheit, die im Donbas die deutliche Mehrheit bildet. Jetzt schien die Stunde der ukrainischen Armee gekommen, mit diesem Teil des Landes abzurechnen.

Als die Russen den Krieg eröffneten, war die Masse der ukrainischen Armee genau dort. Es hatte, sagen die Russen, vor ihrem Eingreifen dort über 10.000 Tote gegeben, tote Russen wohlgemerkt. Für die Zahl verbürge ich mich nicht, aber auch dies ist eine Frage der Kriegspsychologie: 400 tote Russen hätten denselben Effekt gehabt. Ich sage es mal so: Putin hatte gemahnt und schließlich hatte er gedroht. Im Angesicht der Toten ging es um seine Glaubwürdigkeit – im eigenen Lande. Nein, ich sage es geradeheraus: Ich bin kein sogenannter Putin-Versteher. Ich mache mir lediglich Gedanken darüber, was vor meinen Augen seit Anfang des Jahres ablief und füge hinzu: Falls es einen US-amerikanischen Plan gab, Putin in eine Zwickmühle zu treiben, so ist der aufgegangen. Wie die Partie ausgehen wird, weiß kein Mensch, ich auch nicht.

Wie die Polen es 1939 bei den Westmächten taten, so bat Selenskyj bei seinen scheinbaren Verbündeten nach dem russischen Einmarsch flehentlich um Hilfe. Er tat es ganz vergeblich. Nato? Nein. EU auch nicht. Nur die Polen rasselten wie stets, wenn es um Russland geht, mit ihrem Säbel. Dabei blieb es bis jetzt. Ein paar ausrangierte Waffen wurden über die Grenzen in Richtung Lemberg verschoben, auch deutsche Waffen aus den eingemotteten Beständen der vor 32 Jahren aufgelösten Nationalen Volksarmee der DDR.

Und Selenskyj, der geprellte? Vor zwei, drei Tagen sagte er öffentlich, das mit der Nato und deren Eingreifen sei nicht so gemeint gewesen. Für einen winzigen Moment machte ich mir Gedanken: Was hat man dem Mann für diesen Satz geboten?

(6) Lasst die bunten Fahnen wehen II – Die psychologische Wirkung der Kriegseröffnung auf Deutschland

Noch zu Jahresbeginn hatte man in Deutschland von der Zuspitzung der Lage in Osteuropa keine Notiz genommen. Man war anderweitig beschäftigt. Der wirre Herr Karl und die Corona-Volksspritze standen ganz oben auf dem Propagandatreppchen. Nur die Grünen waren ihrer Zeit voraus. Gehorsam setzten sie die Vorgaben ihrer atlantischen Vorturner um: »Northstream II ist nicht genehmigungsfähig.« Warum? Wie kann man nur so blöd fragen. Hier ist die Antwort: Weil wir uns nicht von Russland abhängig machen dürfen. Darauf hätte ich auch kommen können, zumal wir auf eigenen riesigen Gasvorkommen sitzen, wenn sie erst mal per Schiff über den Atlantik gebracht wurden. Und dann sind da noch Sonne und Wind, die bekanntlich keine Rechnung stellen.

Für den Rest der mit dem Kampf gegen die Ungeimpften befassten Deutschen kam dann die kalte Dusche der russischen Kriegseröffnung. Es war wie üblich eine Propaganda-Dusche. Sie besagte: »Wir« befinden uns im Krieg. »Wir« müssen jetzt etwas tun, um die bösen Russen zu stoppen und zu bestrafen. Solidarisch sein. Nun hat Gutmensch wieder was zu tun nach den hässlichen Wochen der Montags-Demos mit all den Leugnern und sonstigen Nazis. Gesagt getan, blaugelbe Fahnen werden rausgehängt, aus allen Rohren schießen die Experten. Was gestern noch als unumstößlich galt: keine Nation, keine Bundeswehr, keine Grenzen gilt heute nicht mehr. Das Gegenteil ist angesagt, wenigstens in schönen Worten: Zusammenrücken, die Lasten gemeinsam schultern, Frieren für den Frieden, 100 Milliarden aus dem Nichts für die Armee. Mal sehen, wie lange.

Wieder einmal sind die Deutschen im Irgendwo unterwegs. Kein Mensch gibt sich auch nur den Hauch einer Mühe, um das zu tun, was nottäte, nämlich das deutsche Interesse zu formulieren. Ich jedenfalls habe nichts dergleichen gehört. Fragte man mich – was mit gutem Grund keiner tut –, was jetzt dringlich ansteht, so würde mir einfallen: Schonungslose Analyse der eigenen Lage und Feststellung, dass uns für große Sprüche der notwendige Bizeps fehlt; Klärung, woran es liegt, dass wir uns hilflos fühlen; freundlicher Umgang mit allen Anrainern in Europa; Grenzsicherung; ernstzunehmende Vorsorge für die eigene Bevölkerung; diplomatische Zurückhaltung; Sicherung, Sicherung und nochmals Sicherung der eigenen Energieversorgung; Versenkung der Luxusthemen im Müll der Geschichte. Und vor allem: Formulierung eines unaufdringlichen deutschen Standorts, damit jedermann weiß, woran er mit uns ist.

Wird das so kommen? Das können nur Illusionisten annehmen. In der Zwischenzeit wird der Krieg weiter die Schlagzeilen beherrschen: Wir gegen Putin. Nicht, weil er uns ernsthaft interessiert, sondern weil der Krieg ein großer Teppich ist, unter den sich erst einmal 20 Jahre unterbliebener deutscher Politik kehren lassen.

 

Bildarchiv: H. Roewer