von Dmitrij Belkin

»Jungfrau Maria, jage Putin fort!«

 

Maria Aliochina, Jekaterina Samutsevich und Nadezhda Tolokonnikova, drei junge Frauen aus der Punk-Band Pussy Riot betreten am 21. Februar 2012 die Christ-Erlöser Kathedrale im Zentrum von Moskau und performen dort ihren Song »Mutter Gottes, jage Putin fort!« Die Frauen, zwei von ihnen Mütter von Kleinkindern, bekreuzigten sich 23 Sekunden lang. Sie haben insgesamt 41 Sekunden auf dem Ambo der Kathedrale verbracht und wurden dabei gefilmt, bis sie von Miliz und Sicherheitskräften überwältigt wurden.

Das Ganze wurde rasch auf Youtube gestellt und mehrmals bei Facebook und Twitter gepostet. Die drei Darstellerinnen, welche bunte Masken getragen haben, die selbst inzwischen im Netz zu Kultobjekten und Gegenstand diverser Kollagen avancierten, haben sich freiwillig der Polizei gestellt. Aktuell wird ihnen in Moskau der Prozess gemacht - in einem inzwischen berüchtigt gewordenen Chamowniki-Gericht, in dem auch Michail Chodorkowsky und Platon Lebedew 2010 zum zweiten Mal schuldig gesprochen wurden. Die Weltöffentlichkeit protestiert seit Monaten gegen die Verhaftung, die Haftbedingungen und den Prozess gegen die Punk-Band. Die Staatsanwaltschaft hat sie des »Hooliganismus (Rowdytums) aus religiösem Hass« angeklagt und drei Jahre Haft für die Künstlerinnen gefordert. Bis zu sieben wären nach russischem Strafrecht für ein derartiges Vergehen möglich. Das Urteil soll am kommenden Freitag, 17.08, verkündet werden. In der Kathedrale wurde der Gottesdienst inzwischen wiederaufgenommen. Nach Meinung von Experten sei die Kirche durch die Aktion von Pussy Riot »nicht entwürdigt« worden und folglich eine rituelle Weihung nicht von Nöten.

Inzwischen ist die Sache zum Weltereignis geworden und religiöse, politische, juristische wie moralische Aspekte werden auch hierzulande lebhaft diskutiert. So entflammte in Deutschland eine unerwartet heftige Diskussion über die Blasphemie und ihre mögliche Bestrafung. Schwerpunktmäßig möchte ich an dieser Stelle über die normativen historischen Aspekte des Themas im Spannungsfeld Sakralität – Politik – Popkultur reden. Ein solcher Blickwinkel erfordert zunächst einen Blick auf den Song in Gänze, wurde dieser am 21. Februar schließlich nur in Bruchstücken performt.

Maria, die ›Mutter Gottes‹, solle Feministin werden und als solche Wladimir Putin, damals noch scheidender Ministerpräsident und alt-neu Präsident Russlands, vertreiben. Einen, der im heutigen Russland der »oberste Heilige« sei, auch für den Patriarchen, der an Putin glaube: »besser sollte er, der Hund, an Gott glauben«. Alle Pfarrkinder »kriechen in Verbeugung«, die Homosexuellen werden in Russland »in Ketten nach Sibirien geschickt«. Eine radikale Befreiung müsse her.

Remake: eine neue alte Religion

Das Lied von Pussy Riot ist kein systematisch ausgearbeitetes Manifest. Vielmehr ist es eine massenmediale Momentaufnahme. Doch was impliziert es? Es lebt von der Einheit von Ort und Inhalt. Diese ist kontrapunktisch: Die aus dem Anlass des Sieges über Napoleon 1812 im Jahre 1883 fertig gestellte und dann im Zuge der Politik der militanten Gottlosigkeit in der UdSSR 1931 zerstörte Erlöser-Kathedrale war nie besonders beliebt unter den russischen Gläubigen. Dafür bekam sie den Charakter eines Symbols der Symbiose zwischen Staat und Kirche im Russischen Reich: symbolisch begraben als Loch am Ort der riesigen Ruine der gesprengten Kirche und aufgefüllt mit Wasser zu einem der größten Schwimmbäder der Sowjetunion gemacht, schließlich anscheinend endgültig weggewischt. Präsident Boris Jelcin – wohlgemerkt, nicht Wladimir Putin – ließ unter der Regierungszeit des mehrmals mit Korruption in Verbindung gebrachten Moskauer Oberbürgermeisters Jurij Luschkow das Heiligtum des späten Russischen Reiches wiederaufbauen – aus billigsten Baustoffen von türkischen Gastarbeitern. Der Rocksänger Boris Grebenschikow sang darauf in einem populären Song: »Die Türken errichten in 30 Minuten die Mackette des heiligen Russlands«. Eröffnet für die Gläubigen wurde die alt-neue Hauptkirche Russlands am 31.12.1999, dem Tag der Amtseinführung des Präsidenten Wladimir Putin.

Die 1990er Jahre waren in Russland eine Epoche des betont gegenständlichen und nationalistisch gefärbten Historismus in der Architektur und Kunst. Das manifestierte sich u.a. in den riesigen Kitschfiguren des Bildhauers Zurab Zereteli in der russischen Hauptstadt – auch in der unmittelbaren Nähe zur Erlöser Kathedrale. Zunächst zelebrierte Boris Jelcin, danach Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew in der Kathedrale alle wesentlichen orthodoxen Feierlichkeiten, an der Seite des russischen Patriarchen, von 1990 bis 2008 Alexius II, seitdem Kyrill, der sich durch eine besondere Nähe zur Macht auszeichnet. Symbolisch stehen für seine bisherige Amtszeit in der russischen Kirche die 30.000 Euro teure Uhr an seinem Handgelenk und sein 1,5 Mio. Euro teures Apartment im Zentrum von Moskau. Eine Message der Performance von Pussy Riot ist: Die Feministin Maria soll auch diverse Tempel dieses Kultes zerstören. Konkret oder symbolisch. Von der staatlichen Pseudo-Kirche mit solchen Hierarchen, dürfe keine normierende Funktion für die russische Gesellschaft und die Religion mehr ausgehen.

Doch mit Unterstützung von Maria und den Aposteln soll in der Logik der Band auch eine neue Norm kreiert werden. Diese würde aus den nur lückenhaft ins Russische übersetzten feministischen Traktaten der 80er-90er Jahre (hauptsächlich den Texten von Judith Butler) und der Rhetorik vom »Männer-Chauvinismus«, anarchistischen und existenzialistischen Schriften und Parolen, MTV, Facebook, Twitter & Play Station bestehen. Man darf dabei eines nicht vergessen: anders als im Revolutionsjahr 1917 und danach, als man in Russland einen radikal NEUEN atheistischen Kosmos erschaffen wollte, in dem die Kirche als normgebende Instanz nichts mehr zu melden hatte, wollen Pussy Riot (ohne es zu reflektieren) etwas konservieren, was unter Umständen nicht minder totalitär sein könnte als Wladimir Putins Orthodoxie: eine Kirche des Massengeschmacks und eine massenmediale Kathedrale. Sie übersetzen in ihren Werken, aber auch in ihren Schlussworten im Gericht die europäischen Diskurse des 20. Jahrhunderts in eine russische Realität, die herzlich wenig mit diesen Diskursen zu tun hat.

Der im späten 19. Jahrhundert von Friedrich Nietzsche deklarierte ›Tod Gottes‹ führte im postrevolutionären Russland zu einem jahrzehntelangen blutigen Spektakel, bei dem die Dienerinnen und Diener Gottes millionenfach getötet und ihre Häuser tausendfach zerstört oder umfunktioniert wurden. Das Drama mit den deutlichen eschatologischen Zügen – »die Revolution hat kein Ende« – wurde in den 1990er Jahren, nach der Perestrojka umcodiert: Die heutige staatlich-kirchliche Symbiose übersteigt alle Realitäten von Russischem Reich und Byzanz, dem Russland die politisch-religiösen Formen der Orthodoxie verdankt. In diesem System ist der Präsident praktisch ein Zar und übernimmt, qua Amt aber auch durch seine persönlichen Fähigkeiten (sofern diese tatsächlich vorhanden oder zumindest medial konstruiert sind), die Rolle eines Erlösers. Man kann es auch einen Kult nennen. Dieser hat mit Sicherheit religiöse Züge. Die Künstlerinnen von Pussy Riot sind nicht FÜR Christus, sie sind GEGEN Putin aufgetreten. Die Punk-Gruppe lebt damit diese für Russland neue, massenmediale Religion mit ihrer Performance vor. Diese ist im Grunde genommen ein Remake – eine neue Auffassung des russischen Westlertums, das in diesem Fall bemüht ist, die emanzipatorischen Tendenzen der europäischen 1970er Jahre zu kopieren und zu reanimieren. Dem Slogan »Free Pussy Riot!«, der zur Zeit nahezu jede künstlerische und manche politische Äußerung hierzulande krönt, wohnt – bewusst oder unbewusst – die Sakralisierung der eigenen Jugend inne, die man zeitlich und geographisch verlegt, einmal mehr im heutigen Russland erleben darf.

Bringt das Schwimmbad zurück!

»Was ist Gott?« fragt der Kulturphilosoph Boris Groys in seinem Essay über den Kapitalismus. Gott, so Groys, sei derjenige, der uns fehle und damit die Welt durch seine Abwesenheit strukturiere. Auch in der massenmedialen Gesellschaft, von Pussy Riot repräsentiert, wird eine Erwartung hoch geschrieben, nämlich: die ›göttliche Gnade‹ öffentlich und medial präsent zu sein. Diese ist wesentlich bedeutender als z.B. die Gnade, einen Sposor zu finden.

Ein weiteres Mal macht die russische Macht drei jungen Frauen eine ›Biographie‹. Zuletzt war dies der Fall bei dem Dichter Joseph Brodsky, »unserem Rothaarigen«, dem man nach den Worten Anna Achmatowas durch den Prozess im Jahre 1964 eine Biographie gemacht hat. Doch stand der künftige Nobelpreisträger (1987) Brodsky während des Prozesses allein und autonom da, stellvertretend für die Dichtung (»ich dachte, sie kommt von Gott«, so Brodsky zu seinen Richtern). In dem kaum vorhandenen politischen Raum der UdSSR sind Pussy Riot dagegen Teil eines medienpolitischen Systems. Möglich ist dieses nur im Internetzeitalter und es betreibt mit ihnen gegenwärtig ein gefährliches, ambivalentes Spiel. Das System verurteilt sie, macht die Frauen aber gleichzeitig zu Heiligen eines Kultes, in dem auch Präsident Putin eine Rolle spielt, nämlich die eines Messias oder Pseudomessias, je nach Perspektive. Die emanzipierte Machtfrau Maria soll den Pseudo-Jesus Putin vertreiben. Der in Russland herrschende mediale Byzantinismus gibt der Symbiose von Kirche und Staat einen eindeutig irdischen Charakter und eine solche Rollenverteilung setzt keinerlei Transzendenz mehr voraus.

Die jungen Frauen müssen schnellstmöglich, am besten schon am 17. August, freigelassen werden, daran besteht kein Zweifel – auch um von diesem Spiel befreit zu werden. Dies wäre m.E. die wahre Emanzipation von Pussy Riot. Voraussetzung ist natürlich, dass die Künstlerinnen Aliochina, Samutsevich und Tolokonnikova eine solche Befreiung überhaupt wünschen.

»Mutter Gottes, du Jungfrau, vertreibe Putin!« – der Satz, millionenfach und in allen möglichen Sprachen durch diverse Netzwerke multipliziert, wird de facto zur Festigung dieses Systems beitragen, das durch den Song einmal mehr pseudo-religiös und ritualisiert untermauert wird. Wladimir Putin nannte den Zerfall der Sowjetunion eine der größten geopolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Seit ein paar Tagen kursiert im russischsprachigen Facebook eine weitere Performance: »Gebt das Schwimmbad zurück!«, steht auf dem Plakat, das ein in Badesachen gekleideter junger Mann in Front der Erlöser Kathedrale hält. Zu Ende gedacht, bedeutet das: Akzeptiert die Normen und Folgen der sowjetischen Geschichte, versucht nicht, die Geschichte umzukehren.

Die politischen und ästhetischen Extreme liegen im heutigen Russland nah beieinander – wesentlicher näher als es den Protagonisten in Russland und vielen Beobachtern hierzulande lieb wäre.

Dr. Dmitrij Belkin ist geboren und aufgewachsen in der ehemaligen UdSSR, absolvierte dort sein erstes Geschichtsstudium und kam als »jüdischer Kontingentflüchtling« in die BRD (Ende 1993). Hier studierte und promovierte er an der Universität Tübingen (Geschichte & Philosophie). Zur Zeit ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fritz Bauer Institut und Kurator im Jüdischen Museum. Er publizierte zur Ideen- und Rechtsgeschichte, entwickelte und kuratierte die Ausstellungen »Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik« und »Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden« im JM Frankfurt.

 

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