von Helmut Roewer

So, wie ich mir meine Leser vorstelle, werden sie einen Moment stutzen und zögern, ob sie die Löschtaste drücken sollen, um dann doch, von Neugierde übermannt bzw. überweibt, weiterzulesen. Ich räume gerne ein, dass ich mir in den letzten vier Jahren – die Zeiten waren danach – ab und an einschlägige Gedanken gemacht habe. Dabei wäre es wohl geblieben, wenn gestern Abend nicht die Büchersammlung mit den Amerika-Sachen ihren inneren Zusammenhang verloren und mit Donnergetöse ins Arbeitszimmer gestürzt wäre.

Es folgten die üblichen Rituale eines solchen Krachs, und, nachdem ich die wohlmeinenden Anfragen (Was machst du denn da?) wortkarg beantwortet hatte, ging ich ans Aufräumen. Einiges vom Vorgefundenen hatte vage mit der einen Hälfte des obigen Themas zu tun, nämlich dem Impfen. All diese Menschheitsretter (Gates und Konsorten) wurden von mir mit spitzen Fingern angefasst und beiseite gestellt. Sie hätten gewiss nicht befruchtend auf meine Schreibader eingewirkt. Doch dann entdeckte ich ein kleines, sorgsam gebundenes Buch, ein optisches Schmuckstück, eine Briefe-Edition von Voltaire.

Diese hatte in der Amerika-Sammlung meiner Bibliothek mit Sicherheit nichts verloren. Nur um sicherzugehen, las ich mich fest. Es waren Briefe, die Voltaire aus und vor allem über England geschrieben hatte. Das Buch gehört eigentlich ins benachbarte England-Regal, denn es geht, wie gesagt, um die Sitten und Gebräuche bei den von Voltaire aus gesehen jenseits des Kanals wohnenden Insulanern. Das Buch war demnach, wenn man so will, ein illegaler Zuwanderer ins große und gute Amerika.

In einem der Briefe kommt der Autor auf die Impfung gegen Pocken zu sprechen, die zu seiner Zeit im Gegensatz zu seinem Heimatland Frankreich auf den Britischen Inseln bereits wohlbekannt war. Mag sein, dass der Leser diesen Unterschied nicht verwunderlich findet, doch wo die Engländer in concreto ihre Errungenschaft her hatten, das weiß er vermutlich nicht. Mich jedenfalls hat die Sache schon verblüfft. Dank Voltaire erfahren wir, dass es eine Lady – nennen wir sie hier in dichterischer Freiheit mal Helen Dalrymple Saint Claire – war, welche die Impfgepflogenheit aus Konstantinopel, wo ihr Gatte als Botschafter der Krone residierte, nach London einschleppte.

Dieser Gatte hatte die von der Lady geduldete Gepflogenheit, zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs Tscherkessinnen auf dem Sklavenmarkt einzukaufen. Womit wir beim Thema wären, denn diese jungen Sklavinnen waren nicht nur ausgesucht schön und dementsprechend teuer, sondern sie waren, von ihren Eltern zu ihrem Berufe sorgsam erzogen und, damit die Investition nicht für die Katz war, im Säuglingsalter mit echten Pocken infiziert worden, jedoch mit nur so vielen, dass sie nicht daran starben, geschweige denn durch die Krankheit für ihr weiteres Leben grausam verunstaltet wurden.

So also hängen die Dinge zusammen. Mit Gates und Pfizer e tutti quanti hat das nichts zu tun. Da sei die WHO davor. Die einzige Frage, die, seien wir ehrlich, offenbleibt, ist doch, wie gewann die Lady bei der Beobachtung des Tuns ihres Gatten die Erkenntnis über den, wie man es heute formulieren würde, Impfstatus seiner Tscherkessinnen? Entdeckte sie bei der Begutachtung des Vorgangs die feine Narbe in der Achselhöhle? Sie muss eine bemerkenswert genaue Beobachterin gewesen sein.

Schlussbemerkung, damit der Leser nicht denkt, ich hätte mir das alles nur aus den Fingern gesogen, weswegen hier der Große Brockhaus der vorletzten Jahrhundertwende zitiert sei (Leipzig, 1908, Bd. 15, S. 1031): »Unter den Weibern findet man wirkliche Schönheiten, doch die Schönheit vergeht bald.« Soweit die deutsche Professorenschaft. Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn diese kein Schamhaar in der Suppe entdeckt hätte. Hat sich nix geändert. Bis heute.

 

Bildrechte: Helmut Roewer

 

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