von Helmut Roewer

In diesem Beitrag versuche ich, die Entwicklung des Ukraine-Konflikts der letzten neun Monate so zu schildern, dass die Verlautbarungen beider Seiten gegeneinander abgewogen werden können. Dies ist das dritte Mal, dass ich mich zum Thema zu Wort melde. Gegenwärtiger Anlass ist die Ankündigung des russischen Präsidenten Putin, die Gas-Zufuhr über Northstream I ab dem 8. September 2022 so lange zu sperren, bis die Sanktionen gegen sein Land aufgehoben werden. Diese Maßnahme trifft in erster Linie Deutschland. Das ist Anlass genug, um Bilanz zu ziehen.

Ein zusätzlicher Grund, diesen Artikel zu schreiben, ist dem Bedürfnis geschuldet, dem Neu-Guru aller Alternativen, Thilo Sarrazin, zu widersprechen, der sich soeben ganz im Sinne des Wertewestens über die von ihm befürwortete verschärfte Kriegführung gegen Russland geäußert hat (Tumult III/2022, S. 8-13).

Mentales vorweg: Die Auffassungen prallen aufeinander

Wer sich zum Ukraine-Konflikt eine Meinung bilden will, sollte sich darüber klar werden, dass unvereinbare Auffassungen zu diesem Thema zusammenprallen, und zwar weltweit. Hierbei gilt es zunächst, diese unterschiedlichen Auffassungen zur Kenntnis zu nehmen, ganz gleich ob man sie für falsch oder richtig hält.

a) Es gibt eine herrschende russische Auffassung, welche der Ukraine eine staatliche bzw. sogar volkliche Eigenständigkeit abspricht. Vielmehr sei das Land am Dnjepr seit Jahrhunderten integraler Bestandteil Russlands. Einige Aspekte dieser Auffassung werden als nicht diskutierbar bezeichnet, nämlich bezüglich aller derjenigen Gebiete, in denen Russen die alleinige oder mehrheitliche Bevölkerung bilden.

b) Es gibt eine heutzutage von der russischen Sicht abweichende ukrainische Auffassung. Diese wird von der augenblicklichen Staatsführung vertreten. Sie beruft sich darauf, dass es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein ukrainisches nationales Erwachen gegeben habe, welches zum Beispiel in der Wiederbelebung der ukrainischen Sprache eingemündet sei. Die Staatsgründung beruhe auf einem Sezessionsakt im Jahre 1991, die durch Volksabstimmung bestätigt worden sei. Die Grenzziehung dieses Staates beruhe auf dem letzten Stand der einschlägigen Vorgaben der Sowjetunion.

c) Die US-amerikanische Auffassung geht davon aus, dass Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nur noch eine Regionalmacht sei, deren Bestrebungen, erneut zur Weltmacht aufzusteigen, verhindert werden müssen. Zu diesem Zweck seien die Randstaaten der ehemaligen Sowjetunion, wie die baltischen Republiken, Georgien und vor allem die Ukraine in die westlichen Bündnissysteme, bevorzugt die Nato, einzubeziehen.

d) Nach dem offenen Ausbruch des Konflikts im Februar 2022 haben zahlreiche Staaten der Erde in der einen oder anderen Richtung Partei ergriffen. Die meisten Nato-Staaten (einschließlich Deutschlands) haben nach kurzem Zögern eindeutig zugunsten der USA votiert. Die Staaten Ostmitteleuropas – mit Ausnahme Polens und der baltischen Republiken – zeigten indessen eine bemerkenswert zögerliche Haltung, Ungarn hat sich dem anti-russischen Kurs expressis verbis nicht angeschlossen.

Indessen: Nach kürzester Frist zeigte sich, dass bedeutende Staaten außerhalb der Nato sich abwartend und alsbald US-feindselig positioniert haben. Zu den Überraschungs-Umschwenkern gehörten Erdölstaaten wie Saudi-Arabien und das zur Großmacht aufstrebende Indien. Die Töne aus China blieben ungeschminkt amerikafeindlich. Der Mindestkonsens dieser Staaten sieht so aus, den Ukraine-Konflikt als eine innerrussische Angelegenheit zu bezeichnen. Für die meisten Nato-Staaten einschließlich den USA war diese Positionierung die eigentliche Überraschung des Ukraine-Konflikts.

Aufschaukeln bis zum Krieg: Die langen Schatten des Kalten Krieges und die Rolle der Ukraine als neues Pulverfass

In den 1990er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, waren die heutigen Hauptgegner – Russland und die USA – mit sich selbst bzw. mit anderen auswärtigen Konflikten beschäftigt. Die Geschäftswelt der USA sonnte sich in der Möglichkeit, die rentablen Reste der zerfallenen sowjetischen Staatswirtschaft zu übernehmen. In Russland herrschte weitgehende Anarchie, die 1998 zum Zusammenbruch der Rubel-Währung führte. Der beiderseitige Ton wurde eisig, als zum Jahreswechsel 1999 auf 2000 ein neuer Herrscher im Kreml die Macht übernahm und den Ausverkauf Russlands abrupt stoppte. Sogleich wurde von jenseits des Atlantiks die erste Staffel von Sanktionen verhängt, viele weitere sollten folgen.

Gleichzeitig erfolgte das Vorschieben der Nato-Frontlinie nach Osten. Nachdem dies kurz nach der Jahrhundertwende erreicht war, wurde die Ukraine der Schauplatz für die gegenseitigen, jedoch miteinander unvereinbaren Interessen der Russen und der Amerikaner. Flankiert durch geheimdienstliche Einfluss-Operationen wurde versucht, das Land in der einen oder anderen Richtung zu vereinnahmen. Hierbei spielten halbstaatliche Organisationen und private Großkapitalisten auf beiden Seiten eine kaum zu durchschauende Rolle. Nur ab und zu – und meistens nicht ganz freiwillig – kamen Details ans Licht wie die Verknüpfung von Staats- und Eigeninteresse durch die Familie Biden und das Vorgehen des Großspekulanten George Soros.

Die Lage in der Ukraine eskalierte während der Zeit der Obama-Regierung, als Anfang 2014 ein US-gestützter Staatsstreich die gewählte Regierung gewaltsam wegfegte und durch ein US-genehmes Regime ersetzte. Dieses ließ sogleich erkennen, dass es gewillt sei, die russische Pacht des auf der Krim gelegenen Kriegshafens von Sewastopol auf Sicht zu beenden und somit der russischen Schwarzmeerflotte ihre Basis zu entziehen. Die russische Reaktion kam überraschend und so schnell, dass Gegenmaßnahmen nicht wirksam anlaufen konnten. Russland besetzte nämlich im Februar 2014 die Halbinsel Krim und ließ dort stehenden Fußes eine Volksabstimmung durchführen. Bei dieser votierte der ganz überwiegende Teil der dortigen Bevölkerung im März 2014 für Russland.

Nur einen Monat später, im April 2014, erklärten sich in der östlichen Ukraine die von Russen bewohnten Verwaltungsbezirke Lugansk und Donezk zu selbständigen Republiken. Die Regierung in Kiew war nicht gewillt, diese Abspaltung hinzunehmen und ging militärisch gegen die Sezessionisten vor, die sich ihrerseits mit militärischen Mitteln zur Wehr setzten. Seither ist die Ostukraine Kriegsgebiet. Mehrere Initiativen europäischer Staaten, darunter Deutschland und Frankreich, den Konflikt durch eine für beide Seiten akzeptable politische Lösung zu beenden, führten zu Abkommen (Minsk I und Minsk II), die nicht eingehalten wurden. Die Streitparteien beschuldigten sich gegenseitig, hierfür die Verantwortung zu tragen.

2019 hatte es den Anschein, als seien alle Beteiligten so kriegsmüde, dass ein Außenseiter, der den Frieden versprach, mit beachtlicher Mehrheit in Kiew zum Präsidenten gewählt wurde. Es handelt sich um den dortzulande bekannten Schauspieler Selenskyj. Sein Vorbringen wurde auch deswegen als glaubwürdig eingeschätzt, weil er mit dem Hinweis punktete, er sei weder Russe noch Ukrainer – er ist der Herkunft nach ein Jude. Die Enttäuschung über seine dann folgende Amtsführung konnte kaum größer sein, zumindest beim russischen Bevölkerungsteil. Das Verbot von Russisch als Amtssprache war ein Anfang, der deutlich machte, wohin die Reise gehen sollte.

Spätestens ab 2021 konnte es für die Russen in der Ukraine keinen Zweifel mehr geben, dass Selenskyjs Agenda von Unterwerfung und nicht von Befriedung handelte. Er wurde in diesem Tun von der im Januar 2021 ins Amt gelangten US-Administration wortreich unterstützt. Gleichzeitig wurde von Washington die Notwendigkeit der Aufnahme der Ukraine in die Nato öffentlich erörtert. Die Reaktion aus Moskau ließ nicht auf sich warten. Die russische Diplomatie sprach wiederholt von einer Roten Linie, besonders nachdem die US-Amerikaner die Aufstellung von Raketensystemen an der ukrainisch-russischen Grenze als unmittelbar bevorstehend ankündigten.

Zum Jahreswechsel von 2021 auf 2022 kam es zu bedeutenden Truppenbewegungen: Die ukrainische Führung verlegte die Masse ihres stehenden Heeres in die Ostukraine zur Erledigung von – wie es hieß – Polizeiaufgaben, und die russische Armee vollzog im Nordosten des Landes einen Truppenaufmarsch, der als Manöver bezeichnet wurde.

Spätestens ab Mitte Januar 2022 gingen ukrainische Truppen mit Brachialgewalt gegen die Bevölkerung in der Ostukraine (dem Donbass) vor. Russische Appelle, das Beschießen der dortigen Bevölkerung zu beenden, und die Drohung mit militärischem Eingreifen, blieben unbeachtet. Am 24. Februar 2022 erfolgte der Einmarsch der russischen Streitkräfte.

Jetzt sprechen die Waffen: Verlauf der militärischen Operationen bis heute

Die Überraschung der Welt über den Einmarsch der russischen Armee und deren schnelles Vordringen war nicht zum Wenigsten einem Glaubwürdigkeitsproblem geschuldet. Zwar hatten zwei der US-Dienste ab Ende Januar 2022 wiederholt auf den unmittelbar bevorstehenden Angriff hingewiesen. Diese Meldungen wurden jedoch ganz allgemein für das übliche amerikanische Propagandageschrei gehalten, das seit Jahrzehnten den eigenen kriegerischen Aktionen voranzugehen pflegt.

Die Bewegungen der russischen Truppen ließen von Anfang an auf drei Operations-Ziele schließen. Von Nord nach Süd waren dies: (1) Ein Vorstoß von Norden her bis vor die Tore von Kiew, um das dortige Regime zum Einsturz zu bringen. (2) Ungezählte Einzeloperationen von Osten her in die Gebiete von Lugansk und Donezk hinein, um das dort befindliche Gros der ukrainischen Streitkräfte zu stellen, diese zu vernichten und die dortigen russisch bewohnten Gebiete aus dem ukrainischen Staatsverband endgültig herauszulösen. (3) Im Süden der Vorstoß entlang des Asowschen Meeres nach Westen in Richtung Odessa, um die Krim unangreifbar zu machen und die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden.

Zu (1): Der Vorstoß von Norden nach Kiew wurde, nachdem russische Verbände weit vorgeprescht waren, nach kurzer Frist wieder aufgegeben. Es entstand dadurch der Eindruck, dass die ukrainischen Truppen dort einen kriegsentscheidenden Sieg errungen hätten. Die einschlägigen Meldungen waren mit Nachrichten über russische Kriegsgreuel garniert, die vor allem in den anfangs noch zögerlich agierenden europäischen Nato-Staaten eine starke Wirkung erzeugten.

Der Vorstoß auf Kiew hinterließ eher den Eindruck eines misslungenen Kommando-Unternehmens denn einer geordnet vorgetragenen militärischen Offensive. Der Abbruch der Aktion lässt den Schluss zu, dass eine falsche Lageeinschätzung oder ein unzureichender Kräfteansatz oder gar beides zugrunde lag. Spärliche Nachrichten aus dem russischen Inlandsdienst FSB und die dort offenbar vorgenommenen drastischen personellen Konsequenzen verstärkten den Eindruck einer von dort ausgehenden falschen Lageeinschätzung.

Zu (2): Das Gebiet der beiden Provinzen bzw. Republiken von Lugansk und Donezk, wo sich die Masse der regulären ukrainischen Armee seit etwa Dezember 2021 aufhielt, wurde in ungezählten Einzelaktionen angegriffen. Die hierbei von der russischen Armee angewendete Taktik war stets dieselbe: das örtliche Umfassen einzelner Einheiten und kleinerer Verbände, deren Dezimierung durch massives Artilleriefeuer und die Gefangennahme der Überlebenden, soweit es diesen nicht gelang, der Umfassung zu entkommen und nach Westen zu fliehen.

Diese Schritt-für-Schritt-Taktik war für westliche Beobachter von geradezu provozierender Langsamkeit und verleitete immer wieder zu der mutmaßlichen Fehlvorstellung, dass den Russen die Luft ausgegangen sei. Westliche Militärexperten betonten in diesem Zusammenhang die mangelhafte Kampfesfreude der russischen Soldaten und den unzureichenden Standard der russischen Führungskräfte. – Ich halte es für riskant, ein solches Unwert-Urteil abzugeben, weil es möglicherweise die russische Mentalität, Dinge langsam und in unseren Augen u.U. chaotisch zu erledigen, unzureichend einschätzt. Ich gebe dies angesichts des zähen russischen Vorrückens lediglich zu bedenken, denn der augenblickliche Zustand der Front in der Mitte (also östlich des Dnjepr) ist so, dass die beiden abgespaltenen Provinzen im Donbass fest in russischer Hand sind.

Am nördlichen Eckpfosten dieser Front liegt die Industrie-Stadt Charkow – nach wie vor in ukrainischer Hand. Ob das so bleibt, erscheint fraglich.

Zu (3): Der russische Vorstoß entlang des Asowschen Meers Richtung Westen in einem etwa 50-100 km breiten Streifen unterscheidet sich in der Zielsetzung offensichtlich von den beiden anderen Kriegsschauplätzen. Er dient der Abriegelung der Ukraine vom Schwarzen Meer und zugleich dazu, das Hinterland der Krim in die Hand zu bekommen. Dieser Vorstoß hat vor einiger Zeit mit der kampflosen Besetzung der Stadt Cherson ein vorläufiges Ende gefunden. Von hier aus nach Westen bis zur moldawischen Grenze sind es noch ca. 200 km. Auf diesem Wege liegen zwei bedeutende Städte: Nikolajew und Odessa, die Werftenstadt und die Handelsmetropole des Schwarzen Meeres.

Im Verlauf dieser Operation fand im April und Mai die Einkesselung und Eroberung der Stahl-Stadt Mariupol statt. Deren Verteidigung war von Ukrainischer Seite zur nationalen Sache aufgeblasen worden. Die Russen setzten auch in diesem Fall nicht auf Geschwindigkeit und verlustreichen Häuserkampf, sondern auf das Aushungern der in den unterirdischen Anlagen der Asow-Stahlwerks fechtenden Verteidiger, die schließlich aufgeben mussten.

Die Verbissenheit, mit der die Ukrainer sich dieser Operation in den Weg zu stellen versuchen, ist leicht nachzuvollziehen. Der russische Vorstoß entzieht der Ukraine den industialisierten Osten des Landes und verkehrt die amerikanisch-ukrainische Absicht, die Russen vom Schwarzen Meer fernzuhalten, in ihr Gegenteil. Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge ist kaum auszuschließen, dass es die Nato sein wird, die von der Nordküste des Schwarzen Meeres dauerhaft ferngehalten werden wird. Die vor ca. drei Wochen groß angekündigte Offensive der Ukrainer zur Rückgewinnung von Cherson am Unterlauf des Dnjepr scheint nach vorsichtiger Einschätzung nicht von Erfolg gekrönt worden zu sein.

Der Krieg ist stets vielerlei: Strategische Grundannahmen

Bei der Beurteilung der militärischen Lage in diesem Konflikt fällt auf, dass es seit Kriegsausbruch nahezu ausschließlich die Russen sind, bei denen die sogenannte militärische Initiative liegt, d.h., der ukrainischen Seite bleibt im wesentlichen nichts anderes übrig, als auf russische Kriegs-Handlungen zu reagieren.

Beide Seiten verbrauchen bedeutende Mengen von Artilleriemunition, die russische Seite indessen ein Mehrfaches gegenüber den Ukrainern. Die schieren Mengen russischer Munition hat westliche Beobachter überrascht.

Der Nachschub an Kriegsgütern erfolgt für die Ukrainer nahezu ausschließlich aus Beständen der Nato bzw. aus Neuproduktion in den Nato-Ländern. Für den Antransport werden bevorzugt die Eisenbahnlinien von Polen kommend über die Westukraine genutzt. Diese sind immer wieder Angriffsziele für russische Präzisionswaffen. Ob diese Angriffe erfolgreich sind, ist umstritten.

Kritiker der Lieferungen in Richtung Ukraine heben hervor, dass bedeutende Mengen des angelieferten Militärguts in dunklen Kanälen verschwinden. Auch hier sind die einschlägigen Behauptungen wenig verlässlich. Zusammenfassend lässt sich indessen sagen, dass ohne diese westlichen Unterstützungslieferungen der Kampf zuungunsten der Ukraine wahrscheinlich bereits beendet worden wäre.

Zur mangelhaften Kampfmoral und zum Begehen von Kriegsverbrechen gibt es wechselweise, einander widersprechende Meldungen, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden kann. Eine gewisse Ausnahme macht die Auseinandersetzung um das Kernkraftwerk Saporoschje. Es wurde von russischen Kräften gleich nach Kriegsbeginn besetzt. Die Versuche der Rückeroberung datieren aus jüngster Zeit. Sie waren meines Wissens nicht von Erfolg gekrönt. Gleichzeitig erfolgte ein Beschuss des Kraftwerks mit Hilfe von Drohnen. Beide Seiten werfen einander vor, hierfür die Verantwortung zu tragen. Angesichts des unbestrittenen Umstands, dass russische Truppen das Kraftwerk besetzt halten, scheint die Behauptung, sie hätten es gleichzeitig beschossen, nicht plausibel.

Politische Dimension des Konflikts: der Wirtschaftskrieg und seine Folgen

Wie bereits am Beginn meines Aufsatzes ausgeführt, hat der Konflikt zu einer scharfen Kontroverse in der Staatenwelt geführt. Zur Überraschung der Nato-Länder haben sich neue Allianzen gebildet. Spitzenreiter der Gegenseite sind die sog. BRICS-Staaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Andere Staaten schlossen sich dem auf dem letzten G 20-Treffen an. Bemerkenswert ist die Parteinahme der arabischen Welt, expressis verbis Saudi-Arabien. Der Grundton hierbei ist eindeutig: Es geht um gute Geschäfte mit Russland, der Gesprächston ist bewusst anti-amerikanisch.

Diese politische Lageentwicklung ist kaum zu überschätzen, da sie die US-Strategie der wirtschaftlichen Kriegführung konterkariert. Wirtschaftskriegführung ist kein Neuland, sondern wird von den anglo-amerikanischen Seemächten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig praktiziert, beispielsweise gegen das Deutsche Reich 1915/16 und 1937-39 sowie gegen Japan 1940/41. Die Zielrichtung war klar: Die mit wirtschaftlichem Druck überzogenen Länder sollten auf eine amerika-genehme Linie gezwungen werden oder zur Waffe greifen. So geschah es 1939 und 1941.

Gegen Russland läuft diese Form der nicht-militärischen Kriegführung seit 1947 und nach einer Unterbrechung in den 1990er Jahren erneut seit 2001 (erstes anti-russisches Sanktionspaket). Danach wurde die Sanktionsschraube mehrfach enger gedreht. Die Zielsetzung nach 2001 war zunächst die Erzwingung von US-amerikanischen Investitionsmöglichkeiten im Lande selbst, später die wirtschaftliche Erdrosselung, um den russischen Einfluss in Eurasien zu minimieren, und schließlich, um den Griff zur Waffe zu provozieren, denn es galt, einen Angreifer bei der Hand zu haben. Ich wäre zurückhaltend mit der Beschreibung dieses Automatismus, wenn er nicht immer wieder ganz offen in den Meinungsbildungsgremien wie dem Council on Foreign Relations diskutiert worden wäre. Für Deutschland in diesem Zusammenhang besonders ärgerlich: Zumindest als Nebeneffekt ging es auch stets um die Verhinderung eines deutsch-russischen Brückenbaus.

Nach dem russischen militärischen Angriff in der Ukraine war für die Propagandisten aus Washington und New York der Weg freigemacht, um die Nato-Verbündeten zum offenen Wirtschaftskrieg gegen Russland zu veranlassen. Hierbei – das wurde von führenden Politikern offen ausgesprochen – ging es darum, die russische Wirtschaft durch die Nichtabnahme von Rohstoffen (Öl, Gas, Kohle und anderen Bodenschätzen) und Produkten wie Stahl und Dünger so zu schädigen, dass es zu einem staatlichen Zusammenbruch käme. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen, weil sich bedeutende Wirtschaftsmächte der Erde den US-amerikanischen Vorgaben bewusst nicht angeschlossen haben.

Im jüngsten Heft der Foreign Affairs (IV/2022), dem Hausblatt des Council on Foreign Relations, wird auf rund 100 Druckseiten erörtert, dass man sich hinsichtlich der Stabilität des Rubels verschätzt habe, dessen Stärke, wie ich hinzufügen möchte, in erster Linie der Fehleinschätzung zu danken ist, die sog. Weltgemeinschaft würde beim Russlandboykott mitmachen, während in Wirklichkeit die überwiegende Zahl der Staaten dieser Erde sich an den US-amerikanischen Maßnahmen nicht beteiligt.

Dennoch sind sich die Strategen der Wall Street einig, dass Russland bald in die Knie gezwungen werden könne, nämlich durch Verschärfung der Sanktionen und deren Erweiterung im technisch-wissenschaftlichen Bereich, sodass Russland alsbald den Anschluss an den Westen verlieren werde. Die russische Bevölkerung – insbesondere deren westlich orientierte Intelligenz in den Großstädten – werde dem Putin-Regime die Gefolgschaft versagen. Soweit die Auffassung der US-Führung.

Die derzeitigen (Anfang September 2022) aus Russland herausdringenden Nachrichten lassen keine klare Einschätzung zu, ob es im Innern des Landes zu Anti-Regierungs-Kundgebungen von gravierender Bedeutung kommt. Immerhin erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Unzufriedenheit mit der Länge des Krieges wächst. Ich kann nicht beurteilen, ob es der Regierung gelingt, mit den enormen Gewinnen, die Russland seit Kriegsbeginn beim Export von Bodenschätzen erzielt hat, einer Erosion der Lage im Innern entgegenzuwirken. Möglich wäre dies.

In diesem Zusammenhang erscheint es nützlich, einen Blick in die Gegenrichtung zu werfen, nämlich: Wie wirkt sich die Wirtschaftskriegsführung auf ihre Verursacher aus? Die unverzügliche Aufnahme bilateraler Handelsabkommen zwischen Russland und allen möglichen Staaten dieser Erde, hat deren Ausstieg aus dem Dollar beschleunigt. Das war in New York mit Sicherheit so nicht geplant, denn es dürfte in naher Zukunft schwierig werden, für US-Anleihen, die zur Stützung des defizitären Staatshaushalts notwendig erscheinen, asureichend viele ausländische Abnehmer zu finden. Die Beschlagnahme von russischen Auslandsvermögen in den USA und der EU dürfte das Misstrauen (vor allem aus dem arabischen Raum) in die Berechenbarkeit der US-Außenpolitik verstärkt haben.

Eine unmittelbare Folge des Russland-Boykotts war das Fehlen von Dünger in den USA und in Europa. Daraus wiederum folgte ein Rückgang der Früh-Sommerernte, so dass die pragmatischen Amerikaner, den Dünger-Import-Stopp kurzerhand und, ohne viele Worte zu verlieren, wieder aufhoben. Die EU ist dem nicht gefolgt. Wie sich das auf die Nahrungssituation in Europa auswirkt, kann man bestenfalls erahnen. Jedenfalls ist es in den USA und in Europa zu einem kräftigen Anstieg der Nahrungsmittelpreise gekommen.

Wenn man die Propaganda betrachtet, kann festgestellt werden, dass sich beide Kriegsparteien gegenseitig bezichtigen, für die eingetretene Schieflage der Ernährungssituation der gesamten Welt – in Sonderheit der ärmsten Länder der Erde – die Verantwortung zu tragen. Vor allem auf westlicher Seite wird das Ausbleiben der gewohnten Getreideexporte aus der Ukraine ins Feld geführt. Das ist in dieser Einseitigkeit mit Sicherheit falsch, denn die Minderernten in Nordamerika und Europa sind ein Problem des Düngers und nicht des ukrainischen Weizens.

Was hier zum Düngerproblem vorgetragen wird, gilt im verschärften Maße für den Energiesektor. Die durch den Importstopp verursachte Mangellage in Europa und Nordamerika hat die einschlägigen Preise explodieren lassen. Es besteht die aktuelle Gefahr, dass deren Volkswirtschaften in ihrer gewohnten Form in absehbarer Zeit scheitern. In den USA wird dieser Zusammenhang von der Partei der Republikaner klar benannt und in den jetzt laufenden Wahlkämpfen der Midterm-Wahlen (November 2022) den auf der Bundesebene regierenden Demokraten angelastet.

Ob und wie sich das auswirken wird, kann bestenfalls spekulativ beantwortet werden. In Deutschland ist die Situation grundlegend anders. Davon muss jetzt die Rede sein.

Michel zieht in den Krieg: Die Auswirkung des Ukraine-Konflikts auf Deutschland

Wenn man heutige Regierungsverlautbarungen zu welchem politischen Thema auch immer liest, so stellt man fest, dass sie mit den Worten ›wegen Putins Angriffskrieg‹ beginnen. Um es vorweg zu sagen: Es handelt sich hierbei um eine dreiste Propagandalüge, mit der die katastrophale Lage von Wirtshaft und Gesellschaft bemäntelt werden soll, denn mit der Masse der Fehlentwicklungen in unserm Land hat der Ukraine-Konflikt nichts zu tun, weil die zugrunde liegenden Probleme wesentlich älter sind. Ich werde im Folgenden zwei Fragestellungen kurz nachgehen: (1) Was hat die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Russland für Folgen und zwar für Deutschlands Wirtschaft und das Wohlergehen seiner Bürger? (2) Wie wirkt sich die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Russland auf das innere Gefüge der deutschen Gesellschaft aus?

(1) Deutschlands Beteiligung am Krieg gegen Russland besteht aus den Elementen Russland-Boykott und aktive Ukraine-Unterstützung. Letztere, die Ukraine-Variante, besteht aus Geldzahlungen, Waffenlieferungen und der Aufnahme von derzeit ca. einer Million Flüchtlingen – ein Fass ohne Boden. Der Russland-Boykott besteht aus der Nichtlieferung von Exportgütern nach Russland und der Nichtabnahme russischer Güter und Bodenschätze. Im Zentrum dieser Nicht-Annahmen stehen Erdgas, Kohle, Öl, andere Bodenschätze und Dünger.

Im Mittelpunkt des nun in Deutschland auftretenden akuten Mangels steht das Erdgas. Dessen Bedeutung beruht auf einer fatalen politischen Fehlentscheidung, nämlich dem Ausstieg aus der Kohle- und Uran-Verstromung, die im klaren Wissen geschah, dass Wind und Sonne bestenfalls einen Bruchteil des Strombedarfs decken können und diesen nicht einmal kontinuierlich. Der teure Königsweg für diese Art der Stromlotterie hieß: Betrieb von Gaskraftwerken, die sich in relativ kurzer Zeit bei Bedarf einschalten lassen. Die konsequente weitere Abschaltung der verbliebenen Kohle- und Kernkraftwerke seit einigen Jahren, welche bis dato für die kontinuierliche Bedienung der Grundlast sorgten, bewirkte – vor der Öffentlichkeit sorgsam vertuscht –, dass es zu massiven Stromausfällen kommen musste, die bislang durch sog. Lastabwurf, also das Abschalten industrieller Großverbraucher kompensiert wurden.

Dieses alles hat mit dem Ukrainekonflikt nichts zu tun. Er handelt sich vielmehr um die deutsche, völlig vernunftfreie Energiewende-Politik. Sie hatte eine bis zum Februar 2022 unbestrittene Voraussetzung: pünktliche und einigermaßen bezahlbare Gaslieferungen aus Russland. Doch bereits im Januar 2022 hatten grüne Demontagepolitiker beschlossen, dass die soeben fertiggestellte Ostseegasleitung Northstream II nicht in Betrieb genommen werden dürfe. Sie sei, wie es großmäulig hieß, nicht genehmigungsfähig.

Genau zu dieser Zeit gab es in Deutschland keine nationale Gasreserve mehr. Die Speicher in Rheden waren leer – aufgebraucht, weil im vergangenen Winter der Wind nicht wehte. Wer hätte das gedacht. Zur Verschlimmerung der Situation beschloss die Bundesregierung, dass Deutschland sich ab April an den Boykott-Maßnahmen gegen Russland beteiligen solle. Russland drohte in der Folge mal um mal, dass dieses deutsche Vorgehen nicht ohne Konsequenzen bleiben werde. Die sind im Laufe des Sommers eingetreten. Erst wurde die Durchleitung des Gases durch Northstream I reduziert, jetzt wurde es ganz abgestellt.

Seit dem Frühjahr regieren Gas- und Strom-Mangel und ein exorbitanter Preisanstieg das Energiegeschäft. Daraus folgen aktuell Betriebsstilllegungen (Stahlwerke, chemische Industrie, um die wichtigsten zu nennen, sowie das Transportgewerbe). Und, besonders grotesk, statt das Energieproblem anzugehen, hören wir die politische Führung von der Möglichkeit reden, dass es in Deutschland schließlich Kurzarbeitergeld gebe.

(2) Neben der radikalen wirtschaftlichen Ruinierung des Landes hat der deutsche Einstieg in die US-amerikanische Sanktionspolitik den bereits zuvor begonnenen inneren Zerfall der Gesellschaft beschleunigt. Nach dem Thema Corona, das zur rabiaten Spaltung bis in die Familien hinein gesorgt hat, ist nun das Thema Russland als Erklär-Bär in die Schlagzeilen gerückt worden. Waren bis dahin noch zahlreiche Vernunftbegabte dahingehend einig, dass Energiewende, Währungsausverkauf, Pandemiepolitik und Massen-Zuwanderung selbstgemachte Übel seien, so spaltete sich dieser verbliebene vernunftgesteuerte Bevölkerungsteil nunmehr erneut und zwar durch das Thema Russland.

Es war die Rückkehr zur Mentalität des Kalten Krieges: das östliche euro-asiatische Reich als das Böse schlechthin. Was nach 1990 als erledigt galt, wurde aus der Klamottenkiste des Schreckens wieder hervorgeholt. Von Rationalität in der deutschen Außenpolitik keine Spur mehr, vom Vertreten deutscher Interessen ganz zu schweigen. Stattdessen machen Latrinenparolen die Runde. Sie lauten: Nach Kiew wird Putin in Warschau und sodann in Berlin einmarschieren. Dies zu begründen, werden geschichtliche Parallelen bemüht. Die Politik des Weltbösewichts A.H. muss herhalten, um zu erklären, warum ›wir jetzt den Anfängen wehren müssen‹. Welche Anfänge?

Bevor man mit Pathos historische Parallelen bemüht, sollte man wenigstens die Frage gestellt haben: Wem nützt die augenblickliche Wirtschaftskriegs-Eröffnung eigentlich? Sicher nicht Deutschland, dessen Export-Wohlstand in den vergangenen drei, vier Jahren ganz ohne jeglichen Ukraine-Konflikt dramatisch zusammengeschmolzen und in diesem Sommer kollabiert ist, denn die Schließung und Auswanderung der Betriebe hat längst ruinöse Dimensionen angenommen. Jetzt kommen die Folgen des selbstverschuldeten Embargos lediglich hinzu. Die sind wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Diesen Übelstand durch Reparatur des Energie-Wahns zu bekämpfen, müsste Schwerpunkt einer rationalen Politik sein. Stattdessen will man Russland in seinem eigenen Machtbereich domestizieren. Das grenzt an Größenwahn. Den hatten wir schon mal im Überfluss – und zu unserm Nachteil.

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