von Eckhard Stratmann-Mertens

Nach jahrelangen Auseinandersetzungen in der Großen Koalition wird nun das sogenannte Fachkräfteeinwanderungsgesetz Anfang 2020 in Kraft treten; es wurde im Rahmen eines umfassenden Gesetzespakets zur Migration (›Migrationspaket‹) am 7. Juni 2019 vom Bundestag und am 28. Juni vom Bundesrat beschlossen. Das Gesetz soll die gezielte Anwerbung und Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten, d.h. Nicht-EU-Staaten, fördern und steuern und das bestehende Aufenthaltsrecht liberalisieren und systematisieren. Im Vorspann des Gesetzes werden als zu lösende Probleme der Fachkräftemangel in vielen Branchen und Regionen herausgehoben, der aufgrund der absehbaren demografischen Entwicklung unseren Wohlstand und die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme gefährde.

Bundesinnenminister Horst Seehofer lobte das Gesetz in seiner Einbringungsrede zur Ersten Lesung im Deutschen Bundestag am 9.5.2019 als Element einer »modernen und klugen Einwanderungspolitik«; es sei abgestimmt auf »die Menschen, die wir brauchen und die unserer Volkswirtschaft nutzen«. Gegen Ende seiner Rede vor der Schlussabstimmung im Bundestag betonte er: »Der Bundeswirtschaftsminister weist mich immer darauf hin, dass das Fehlen von Fachkräften mittlerweile ein echtes Wachstumshemmnis in der Bundesrepublik Deutschland ist.« In denselben Chor stimmt eine Informationsschrift des Bundesinnenministeriums mit dem Titel Ausländische Fachkräfte als Bereicherung für unser Land ein:

Wenn wir das Wirtschaftswachstum, unsere ökonomische Stabilität und unsere sozialen Sicherungssysteme in dieser Form halten wollen, brauchen wir gut ausgebildete Fachkräfte auch aus Drittstaaten. (www.bmi.bund.de/)

Im Einzelnen ist mit dem Gesetz vorgesehen, dass alle Fachkräfte, die über einen Arbeitsvertrag und eine anerkannte Qualifikation (Ausbildungs- oder Hochschulabschluss) verfügen, in den entsprechenden Berufen in Deutschland arbeiten dürfen, unabhängig davon, ob – wie bisher – in diesen Berufen ein Fachkräftemangel besteht. Die bisher vorgeschriebene Vorrangprüfung, ob für diese Stellen nicht auch Deutsche oder EU-Bürger infrage kommen, soll im Grundsatz entfallen. Für Fachkräfte mit Berufsausbildung soll – analog für Fachkräfte mit akademischem Abschluss – die Möglichkeit zur befristeten Einreise (sechs Monate) zwecks Arbeitsplatzsuche eröffnet werden; dies gilt für eine Probezeit von fünf Jahren. Schließlich wird die Möglichkeit der Nachqualifikation in Deutschland eröffnet, falls die heimische Qualifikation noch nicht voll anerkannt wird.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz legt großen Wert auf die strikte Trennung zwischen der Förderung der Erwerbsmigration und der Asylpolitik, hier dem Umgang mit abgelehnten, aber geduldeten Asylbewerbern. Daher wurde parallel ein Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigungbeschlossen. Hiermit soll für abgelehnte Asylbewerber, die aus persönlichen Gründen langfristig geduldet werden, ein rechtssicherer Aufenthalt ermöglicht und eine Bleibeperspektive aufgezeigt werden. Dabei geht es um geduldete Ausländer in Berufsausbildung (Ausbildungsduldung) oder in Beschäftigung (Beschäftigungsduldung: bei Eigensicherung des Lebensunterhalts und guter Integration).

Im Folgenden sollen die dem Gesetz zugrunde liegenden Werthaltungen und politischen Leitlinien herausgearbeitet und einer kritischen Würdigung unterzogen werden.

1. Das Mantra vom Fachkräftemangel

Die Bundesregierung will dem seit Jahrzehnten gebetsmühlenartig beschworenen Fachkräftemangel unserer Volkswirtschaft mit einer Drei Säulen-Fachkräftestrategie begegnen. Eine entsprechende Unterrichtung durch die Bundesregierung (Deutscher Bundestag, Drucksache 19/6889) wurde parallel zum Entwurf des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes dem Bundestag vorgelegt. Zunächst sollen erstens die inländischen und zweitens die europäischen Fachkräftepotentiale gefördert werden. Bei letzterem profitiert Deutschland von der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU. Schließlich sollen drittens die internationalen Fachkräftepotentiale aus Nicht-EU-Staaten gezielt und langfristig angeworben werden:

Angesichts der anhaltend hohen Fachkräftebedarfe müssen wir im Wettbewerb um die besten Köpfe und gut ausgebildeten Fachkräfte aus Drittstaaten jedoch noch besser werden. /…/ In Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen soll dazu eine bedarfsorientierte und gezielte Werbestrategie mit Blick auf ausgewählte Zielländer erarbeitet werden.

Obwohl die Bundesregierung den Fachkräftemangel besonders in der Gesundheits- und Pflegebranche, in den sog. MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sowie im mittelständischen Handwerk verortet, wird laut Gesetz die Beschränkung auf ›Engpassberufe‹ für die Anwerbung von Fachkräften entfallen.

Ob der Fachkräftemangel in der behaupteten Dimension überhaupt besteht, ist umstritten. Fest steht in jedem Fall: Er ist von der Gesellschaft und der Wirtschaft in Deutschland selbst verursacht. Und nach dem Verursacherprinzip müssen die Probleme, die in einem Staat verursacht werden, auch in und von diesem Staat gelöst werden statt externalisiert zu werden. So liegt der offenkundige Mangel an Fachkräften in den Gesundheits- und Pflegeberufen an mangelnder Ausbildung für diese und den miserablen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im Pflegebereich. Es ist widersinnig, Ärzte aus dem Ausland anzuwerben, wenn gleichzeitig tausende studierwillige Abiturient*innen per Numerus clausus an der Studienaufnahme im Fach Medizin gehindert werden. Und statt im Pflegebereich ausländische Fachkräfte anzuwerben, die häufig wegen Sprachproblemen und ihrem fremdkulturellen Hintergrund Unmutgefühle bei den Pflegebedürftigen auslösen, sollte der Vorschlag eines sozialen Pflichtjahres für junge Männer und Frauen konkretisiert und realisiert werden. Nach einer kurzen Anlernzeit könnten so viele Tausende junger Menschen als Hilfspfleger*innen die Pflegefachkräfte von zeitaufwändigen Hilfsdiensten entlasten und gleichzeitig wertvolle Lebenserfahrungen sammeln.

Der Fachkräftemangel, so heißt es im Gesetz, werde auch durch die absehbare demografische Entwicklung, die zunehmende Alterung der Gesellschaft in Deutschland verstärkt. Auch diese Entwicklung ist kein Naturereignis, sondern eine durchaus von der Politik zu beeinflussende Größe. So gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen der Geburtenhäufigkeit bei Frauen in Europa, die auf gesellschaftliche Einstellungen, aber auch auf ein ganzes Bündel von familienfreundlichen bzw. -unfreundlichen politischen Maßnahmen zurückzuführen ist. Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau in Deutschland betrug im Jahr 2017 1,57 Kinder, in den kulturell und wirtschaftlich vergleichbaren Staaten Frankreich 1,90, in Großbritannien 1,74 und in Schweden 1,78 Kinder (Quelle: Statistisches Bundesamt). Durch eine Neuausrichtung der Familienpolitik in Deutschland könnte ohne staatliche Bevormundung der Frauen auf eine höhere Kinderzahl pro Familie hingewirkt werden. Langfristig könnte so auch der zunehmenden Alterung der Gesellschaft entgegengewirkt werden.

2. Freizügigkeit in der EU und Zuwanderung aus Drittstaaten

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in der EU, als eine der vier großen Freiheiten des EU-Binnenmarktes gerühmt, als auch die Anwerbestrategie für Fachkräfte aus Drittstaaten sind in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Freizügigkeit in der EU:

Bei der EU-Binnenmigration von Unionsbürgern nach Deutschland waren in 2016 und 2017 fünf Staaten führend als einzige mit einem fünfstelligen Wanderungssaldo (Zuzüge minus Fortzüge): Mit Rumänien an erster Stelle (+ 73.188), Polen, Bulgarien und Kroatien waren es vier Staaten aus Mittel- und Osteuropa. An fünfter Stelle kam Italien mit + 16.107 Migranten. (BAMF, Migrationsbericht der Bundesregierung 2016/2017, hrsg. 2019, Tab. 2-1, S. 297; alle Zahlen für 2017). Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev weist in seinem Buch Europadämmerung (Berlin 2017) darauf hin, dass in etlichen mittel- und osteuropäischen Staaten die abweisende Haltung der Gesellschaften gegenüber Migranten/Flüchtlingen u.a. in der großen Auswanderungswelle nach 1989 begründet liege; er belegt dies mit eindrücklichen Zahlen für Polen, Rumänien, Litauen und Bulgarien (S. 57,61,63). Diese Auswanderung habe zu großen Problemen bei der Sicherung ihrer Sozialsysteme geführt, zu einem Mangel an qualifizierten Pflegekräften und an qualifizierten Arbeitskräften in Unternehmen. Besonders viele Gesundheitsfachkräfte kamen zuletzt aus der Ukraine, Bulgarien und Rumänien nach Nordrhein-Westfalen; allein in den vergangenen fünf Jahren haben rund 26.000 Mediziner Rumänien Richtung Westeuropa verlassen (WAZ, 26.6.2019). Von Polen ist bekannt, dass der Fachkräftemangel durch Zuzug von Fachkräften aus der Ukraine gemildert wird. Es ist also deutlich, dass die Binnenmigration in der EU hin zu den Ländern mit den besten Arbeits- und Einkommensbedingungen und Sozialstandards zu einem Teufelskreis von Folgeproblemen und Folgewanderungen führt.

Das Beispiel Großbritannien ist hier sehr aufschlussreich. Während das Land nach dem Beitritt Polens in die EU (2004) polnische Einwander*innen sehr willkommen hieß, kippte die Stimmung im Volk, nachdem eine kritische Masse des wachsenden polnischen Anteils an der Bevölkerung erreicht bzw. überschritten war. Es scheint unstrittig, dass dieser Stimmungswandel das entscheidende Moment für die knappe Mehrheitsentscheidung für den Brexit war.

Krastev merkt in der Einleitung seines Buches an, dass die EU keine Theorie der europäischen Desintegration habe. So könne man Desintegration nicht von einer Reform oder einem Umbau der Union unterscheiden. Er fragt:

Wäre der Austritt einiger Länder aus der Eurozone oder aus der Union als Desintegration zu verstehen? Oder wäre … die Rücknahme einiger großer Errungenschaften der europäischen Integration (etwa die Abschaffung der Personenfreizügigkeit …) ein Beweis für Desintegration? (S. 9)

Vieles spricht dafür, solcherart Prozesse eher als einen notwendigen Umbau der EU zu begreifen.

Brain drain - Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten:

Unter den zehn Drittstaaten mit dem höchsten Auswanderungsanteil lagen 2016 sechs Westbalkanstaaten, die allesamt auf der Beitrittsliste der EU stehen: Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo, Mazedonien, Albanien. Die Zuwanderungsliste führt Bosnien-Herzegowina (3.478) an noch vor dem Zweitplatzierten Indien (3.407), Serbien (einschl. Montenegro: 2.190) kurz nach den USA (2.238), aber vor China (1.754) und Japan (1.471). (Quelle: BAMF, Migrationsbericht 2016/2017, Tab. 3-40, S. 299)

Die Erwerbsmigration von Staatsangehörigen aus den Westbalkanstaaten hat seit 2016 besonders stark zugenommen. Ende 2018 stellten sie zusammen knapp 25 Prozent aller Ausländer*innen mit einem Aufenthaltstitel zum Zweck der Erwerbstätigkeit. (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 149 v. 15.4.2019) Nach der Einstufung von Albanien, Kosovo und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten Ende 2015 wurde die sogenannte Westbalkanregelung eingeführt, die für diese Länder legale Zuwanderungsmöglichkeiten schafft. Nach dieser Regelung besteht befristet von 2016 bis Ende 2020 ein erleichterter Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt (keine berufliche Qualifikation, keine deutschen Sprachkenntnisse). Die Zahl der nicht-qualifizierten Einwanderer aus diesen Staaten dürfte diejenigen der qualifizierten deutlich übersteigen (Quelle: BAMF, ebd.). Ob und in welcher Weise die Westbalkanregelung verlängert werden wird, wird erst im Lichte der Erfahrungen im Jahr 2020 entschieden. Dass der Aderlass von Fachkräften die Entwicklungschancen der Westbalkanstaaten sehr beeinträchtigt, liegt auf der Hand.

Im Dezember 2018 wurde in Marrakesch der UN-Migrationspakt verabschiedet, u.a. mit Zustimmung der Bundesregierung. Der Pakt war zuletzt auch in der deutschen Öffentlichkeit sowie im Deutschen Bundestag sehr umstritten, wurde von ihm dann aber Ende November 2018 mit großer Mehrheit verabschiedet. Der Migration befürwortende Pakt ist zwar rechtsunverbindlich, aber dennoch rechtsbildend (›soft law‹); er enthält unter den einleitenden ›Zielen und Verpflichtungen‹ auch das Ziel 2:

Minimierung nachteiliger Triebkräfte und struktureller Faktoren, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen“. Es heißt dann: „Um diese Verpflichtung zu verwirklichen, werden wir aus den folgenden Maßnahmen schöpfen. Wir werden /…/ in die Erschließung der Humanressourcen investieren, … mit dem Ziel, … die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte (»brain drain«) zu vermeiden und die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte (»brain gain«) in den Herkunftsländern zu optimieren … (Abschnitt 18 e)

Klar ist, dass das Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit seiner gezielten Fachkräfteabwerbung aus Drittstaaten dieser Zielsetzung und Selbstverpflichtung diametral widerspricht. Eine Spur schlechten Gewissens findet sich im Vorspann des Gesetzestextes (unter B. Lösung):

Dabei ist sich die Bundesregierung der internationalen Prinzipien für eine ethisch verantwortbare Gewinnung von Fachkräften bewusst, sie berücksichtigt diese und wird positive Effekte (z.B. Kapazitätsausbau, Stärkung lokaler wirtschaftlicher Entwicklung) fördern.

Im nachfolgenden Gesetzestext findet sich aber keinerlei Regelung für diese Förderung. Und dass es sich hierbei um eine schlecht verschleierte Ausbeutungspraxis weniger entwickelter Drittstaaten handelt, wird auch aus der ›Fachkräftestrategie der Bundesregierung‹ (s.o.) deutlich: Hier findet sich mit keinem Wort eine Bezugnahme auf die Problematik des ›brain drain‹.

3. Wohlstand – Wachstum - Einwanderung:
Schädigung der Umwelt und des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Die Notwendigkeit des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes wird mit der Sicherung des Wohlstandes, des Wirtschaftswachstums und in Abhängigkeit davon mit der Stabilität der sozialen Sicherungssysteme begründet. Diese fetischhafte Fixierung auf Wohlstand und Wachstum fordert aber einen sehr hohen doppelten Preis: für den globalen Zustand unserer Umwelt und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland.

Klimawandel und Artensterben:

Der enge und ursächliche Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, dem etablierten Wohlstandsmodell und der Schädigung der Umwelt wurde jüngst durch zwei alarmierende Meldungen wieder einmal bestätigt. Zunächst musste die Bundesregierung in ihrem Klimaschutzbericht 2018 (vom Februar 2019) eingestehen, dass Deutschland seine CO2-Reduktionsziele für 2020 gegenüber 1990 von minus 40 Prozent deutlich verfehlt, u.z. um 8 Prozent. Schon einen Monat später erklärte Umweltministerin Schulze, »es könne sogar noch schlimmer kommen« (Süddeutsche Zeitung, 6.3.2019). Als Gründe für die Verschlechterung der CO2-Bilanz werden von Fachbeamten der Bundesregierung neben einem unerwartet deutlichen Bevölkerungswachstum auch die »unerwartet dynamische Konjunkturentwicklung« (Handelsblatt online v. 9.6.2018 in Zitierung eines Spiegel-Berichtes) ausgemacht. Also: Eine mehrjährige Wachstumsphase konterkariert alle Bemühungen um notwendige Klimaschutzmaßnahmen.

Ende April 2019 versetzte der Weltbiodiversitätsrat die ökologisch sensible Öffentlichkeit in Angst und Schrecken mit der Meldung, dass global bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht seien und das Artensterben so gefährlich für die Menschheit sei wie der durch den Menschen verursachte Klimawandel. Ein Teilaspekt des Artensterbens ist das weltweit zu beobachtende Insektensterben. Als größter Treiber für das Arten- und Insektensterben werden der Verlust von Lebensraum durch intensive Landwirtschaft, chemische Schadstoffe (besonders Pestizide), zunehmende Urbanisierung und der Klimawandel angesehen. Auch hier ist wieder der ursächliche Zusammenhang zwischen dem herrschenden wachstumsbasierten Wohlstandsmodell, seinen Raum- und Ressourcenansprüchen und dem Artensterben offensichtlich.

Einwanderungsland Deutschland und sozialer Frieden:

Bundesinnenminister Seehofer pries den Entwurf der Großen Koalition für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in der Ersten Lesung im Bundestag als »eine moderne und kluge Einwanderungspolitik«. Bundesarbeits- und Sozialminister Heil lobte den Entwurf als »ein modernes Einwanderungsgesetz. Das hilft unserer Gesellschaft, das hilft unserer Wirtschaft.« (Protokoll der Plenarsitzung vom 9.5.2019, S. 11714. 11716) Und der SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lars Castelluci jubilierte gar in der Schlussdebatte zum Gesetzentwurf am 7.6.2019: »Heute ist ein Tag für die Geschichtsbücher. Deutschland anerkennt nach außen offen: Wir sind ein Einwanderungsland.«

Die Bundesregierung erwartet aufgrund der Liberalisierung der Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten infolge des Gesetzes eine Zunahme der Zuwanderung gegenüber circa 28.000 eingereisten Fachkräften in 2017 um weitere circa 25.000 qualifizierte Fachkräfte, bei denen laut Gesetzentwurf die Vorrangprüfung gegenüber Arbeitsplatzbewerber*innen aus Deutschland und der EU entfallen soll. Hinzu kommen geschätzt 20.000 zusätzliche Aufenthaltstitel wegen Familiennachzugs (Gesetz, Vorspann E.3). D.h. dass allein die gezielte Fachkräfteeinwanderung inkl. Familiennachzug zu einer jährlichen Einwanderung aus Drittstaaten von circa 100.000 Personen führen wird. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und dem knappen Wohnungsmarkt zwischen Einheimischen und Zugewanderten wird damit zunehmen.

Laut Gesetz wird der »Grundsatz der Trennung zwischen Asyl und Erwerbsmigration … beibehalten« (Vorspann A.) Diese Verlautbarung kommt aber einer Irreführung der Öffentlichkeit gleich. Nicht nur, dass in §19d des Gesetzes wie bisher eine bedingte Aufenthaltserlaubnis für qualifizierte geduldete, d.h. eigentlich abgelehnte, Asylbewerber, zum Zweck der Beschäftigung vorgesehen ist. Vielmehr wurde gleichzeitig mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz ein Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung (BT-Drucksache 19/8286) beschlossen, also eine politische Paket- und Kompromisslösung zwischen den Koalitionsparteien. Mit diesem Gesetz soll langfristig Geduldeten mit einer Ausbildungs- bzw. Beschäftigungsduldung die Möglichkeit des Übergangs in eine Aufenthaltserlaubnis und eine Bleibeperspektive aufgezeigt werden. Zwar müssen Antragsteller auf Beschäftigungsduldung vor dem 1.8.2018 eingereist sein, können aber ihren Antrag bis zum 31.12.2023 stellen. Auch mit dieser Regelung wird einer hohen Anzahl von Geduldeten (sicherlich im fünfstelligen Bereich) ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland in Aussicht gestellt.

Betrachtet man die geplante Fachkräftezuwanderung aus Drittstaaten im Zusammenhang mit der Arbeitskräftezuwanderung aus den EU-Staaten, besonders Mittelosteuropas, so sticht ins Auge, dass sich dadurch die Bevölkerungszusammensetzung Deutschlands zwischen einheimischen Deutschen und Zugewanderten weiter deutlich zuungunsten der Einheimischen verändern wird. Seit Mitte der 1950er Jahre sind zunächst in der alten BRD Arbeitskräfte aus Südeuropa, bald auch aus der Türkei angeworben worden, um den Wirtschaftsaufschwung zu sichern und den Wohlstand zu steigern. Aus Gastarbeitern wurden dann auf Dauer hier lebende Bürger, später auch zum Teil Staatsbürger. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland stieg von 1,2 Prozent in 1961 auf 4,5 Prozent in 1970, 7,4 Prozent 1980 und 8 Prozent in 1989. Mit der Wiedervereinigung 1990 ging der Ausländeranteil aufgrund seines geringen Anteils in den Neuen Bundesländern zunächst auf gesamt 7 Prozent zurück, stieg dann bis 2000 wieder auf 8,8 Prozent und stagnierte bis 2013 (8,7 Prozent). Natürlich spielen für den steigenden Ausländeranteil neben der Arbeitskräftezuwanderung plus Familiennachzug etliche andere treibende Faktoren eine Rolle. Infolge der Flüchtlingskrise seit 2015 schnellte dann der Ausländeranteil bis Ende 2018 auf 12,2 Prozent (ca. 10,1 Mio. von circa 83,0 Mio. Einwohnern). (Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit v. April 2019, Tab. 1, S. 18 f. Die Daten beziehen sich auf die Methode der Bevölkerungsfortschreibung. Nach der Methode des Ausländerzentralregisters lebten Ende 2018 ca. 10,9 Mio. Ausländer in Deutschland.)

Nach der ausgrenzenden und mörderischen Rassereinhaltungspolitik im Dritten Reich gibt es im Gegenzug seit nun fast 65 Jahren eine auf die Steigerung des Wohlstands fixierte Einwanderungspolitik. Deren Folgeprobleme haben inzwischen eine Dimension und Schärfe angenommen, dass sich in Deutschland – wie in ganz Europa – Gegenbewegungen in der Zivilgesellschaft und in den Parlamenten formieren. Die Beschwörung, Deutschland sei ein Einwanderungsland, meint ja nicht nur den empirischen Sachverhalt seit ein paar Jahrzehnten, sondern soll eine Norm für die Zukunft setzen. In diesem Zusammenhang ist unausgesprochen immer die Netto-Einwanderung gemeint, also der Überschuss der Ein- gegenüber der Auswanderung. Die Verschiebung der Zahlen- und Kräfteverhältnisse von einheimischen Deutschen und Ausländern wird dabei entweder bewusst angestrebt unter dem Motto der multikulturellen Vielfalt oder zumindest faktisch in Kauf genommen. Es ist unübersehbar, dass sich seit Jahren von den politischen Rändern der Gesellschaft her bis in ihre Mitte soziale und politische Spaltungstendenzen ausbreiten und Gräben vertiefen, die auf Dauer den inneren Frieden im Lande gefährden.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist in der Gesamtschau keineswegs ein Gesetz, das ›unserer Gesellschaft‹ hilft, wie Bundesminister Heil suggerieren will. Es ist ein Wegweiser und weiterer Baustein in Richtung Einwanderungsgesellschaft. Damit ist es geeignet, den inneren Frieden im Land zu untergraben.