von Heinz Theisen

Klaus-Rüdiger Mai analysiert jene Frau, die einer Partei ihren Namen gab.

Wenn eine Partei erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik nach dem Namen ihrer Gründerin benannt wird und diese Partei auch noch zu reüssieren scheint, ist die Zeit für eine Biografie über Sahra Wagenknecht gekommen. Klaus-Rüdiger Mai deutet das Phänomen Wagenknecht als linke Antwort auf einen postmodernen Zeitgeist, dem jede Realitätstüchtigkeit verloren gegangen ist. Der Autor bezweifelt allerdings, dass Wagenknechts Rekonstruktion einer klassischen sozialistischen Politik als Antwort auf die geistige Selbstauflösung der Linken erfolgreich sein wird.

Postmoderne Dekonstruktion der Wirklichkeit

Das Buch beginnt und kehrt immer wieder zurück zu einer Analyse des Postmodernismus, den Mai als tiefere Ursache des geistigen und politischen Verfalls unseres Landes heraushebt. Dem Autor gelingen immer wieder brillante Kennzeichnungen dieser Kulturrevolution. Der Postmodernismus sei ein ideologischer Aktivismus, in dem der Gedanke durch die Gesinnung und die Meinungsfreiheit durch den Moraltotalitarismus ersetzt worden sei. Das Ergebnis der Postmoderne erkennt er im Sturz der aufgeklärten Gesellschaft in den Irrationalismus.

Insbesondere das Werk von Michel Foucault beschreibt Mai in dessen einzigartiger Zerstörungswirkung. Für Foucault waren die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft nur Ausdruck von Machtverhältnissen, die aus den vorherrschenden Diskursen hervorgegangen seien. Indem er – etwa statt der Gefängnisse – die Gesellschaft selbst als den eigentlichen Schauplatz des Verbrechens kennzeichne, habe Foucault alle gültigen Werte in ihr Gegenteil dekonstruiert und den Weg für eine intellektuelle ›Autoimmunerkrankung des Westens‹ frei gegeben.

Die Postmoderne deutet Mai als kulturrevolutionäre Bewegung, die die alte Kultur zerstört habe, mit Hilfe einer neuen Moral, die die alte Moral zerstört habe. Die Bereitschaft zur Selbstaufgabe des zuvor dekonstruierten Eigenen sei schließlich bis weit in das bürgerliche Lager vorgedrungen, bis hin zu den Vorständen von Unternehmen, die selbst die Legitimität ihrer Produkte von der ›Regenbogen-Kultur‹ (Andreas Rödder) in Frage stellen ließen.

Nach jahrzehntelanger Wanderung durch alle wortmächtigen Institutionen habe der postmoderne Diskurs sein Ziel erreicht. Die neue Dreieinigkeit von Toleranz, Vielfalt und Weltoffenheit sei mit Hilfe der ehemaligen Linken und ihrer Wohlstandsvariante der ›Grünen‹, bis in die Regierung vorgedrungen. Von dort aus vermöchten die Dekonstruktivisten nach der Zerstörung der alten Kultur auch die zivilisatorischen Kräfte von Industrie, Infrastruktur und der staatlichen Strukturen voranzutreiben.

Wie war es möglich?

Mit dem Untergang des Sozialismus sei in der linken Bewegung ein Vakuum entstanden, welches die Postmodernen leicht füllen konnten. Die einzige Partei in der Bundesrepublik, die ein Konzept habe, seien – so Klaus Rüdiger Mai – die Grünen, nur sei es leider das falsche, ein zutiefst nihilistisches und suizidales Konzept.

Nebenbei würden damit auch die Interessen der Arbeiterklasse und zunehmend auch des Mittelstandes delegitimiert und stattdessen auch noch so absonderliche Identitäten und die mit ihnen verbundenen Minderheiten in den Mittelpunkt der emanzipativen Auflösungsbemühungen gestellt. Die identitätspolitische Linke suche die Arbeiterklasse durch immer neue Opfergruppen zu ersetzen, mit deren Hilfe sie ihre Macht festigen wolle und ihren Kampf zu legitimieren suche. Darüber erkläre sich auch ihr ansonsten grotesk gutes Verhältnis zum Islam. Beide seien vereint in der Ablehnung des Westens. Welches Ende diese Allianz für Progressive nehmen könnte, ließe sich aus der iranischen Revolution von 1979 lernen.

Wahn und Wirklichkeit

Aber dies hieße ja die Wirklichkeit ernst nehmen und dazu eben sehe auch Sahra Wagenknecht die »Selbstgerechten« nicht mehr in der Lage. Wer sich wie Robert Habeck »von der Wirklichkeit umzingelt« fühle, befinde sich erklärtermaßen nicht in der Wirklichkeit. Diese zeige sich nur als Zumutung und Aufdringlichkeit. Für ein Verständnis von Wirklichkeit als das für uns nicht Verfügbare fehle ihnen jede Demut.

Diesem Wahn des bloßen Wünschens und Wollens halte Sahra Wagenknecht ihre Hegel-Kenntnisse entgegen: »Die wahrhafte Wirklichkeit ist Notwendigkeit. Was wirklich ist, ist in sich notwendig.« Damit ist der Kern des heutigen kulturrevolutionären Konflikts zwischen Wunsch und Gesinnung auf der einen Seite und Wirklichkeit und Notwendigkeit auf der anderen Seite auf den Begriff gebracht.

In der Partei ›Die Linken‹ dominiere der Konflikt zwischen den verbliebenen Sozialpolitikern und den neuen Identitätspolitikern. Es kam zur wohl tödlichen Umarmung mit Letzteren. Dabei wäre selbst mit bloß taktischem Verstand zu erkennen gewesen, dass hier bereits alle Positionen an die Grünen, aber auch an SPD und sogar CDU weitgehend schon vergeben waren.

Für eine vierte oder fünfte identitätspolitische Partei gäbe es keinen Raum mehr. Umso mehr wäre ein aufgeklärter linker Patriotismus geboten gewesen, der den verfemten Nationalstaat auch als ein fortschrittliches Projekt anerkenne. Dieser könnte mittels seiner Grenzen auch die Interessen derjenigen schützen, die dem weltweiten Wettbewerb nicht gewachsen sind und er könnte die erarbeiteten Besitzstände des Mittelstands vor dem globalen Großkapital schützen.

Ist Sahra Wagenknecht etwa ›rechts‹?

Sahra Wagenknechts Wirkung beruht vor allem darauf, dass sie die Schutznotwendigkeit des Staates in Rechnung stellt, für das sie bis weit ins bürgerliche Lager Zustimmung und Aufmerksamkeit erfährt. Für Realisten ist es auch nicht mehr zu übersehen, dass die islamische Landnahme durch eine unkontrollierte Einwanderung zur Selbstzerstörung des Systems führt.

Sahra Wagenknecht hat verstanden, dass es vor allem die unteren und untersten Gesellschaftsschichten sind, die unter der zügellosen Zuwanderung am stärksten leiden, auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt, bei Arztterminen, in den Kindergärten und Schulen, auf den Spielplätzen: Überall sind es vor allem diese Schichten (und ihre Kinder), die mit Migranten um soziale Ressourcen konkurrieren. Doch die angeblich linken Parteien haben diese Schichten längst abgeschrieben. Das war bisher eine Marktlücke für die AfD.

Indem Sahra Wagenknecht linke Ziele wie soziale Gerechtigkeit mit den Notwendigkeiten ihres Schutzes verknüpft, handelt sie eigentlich im Rahmen des Notwendigen und Selbstverständlichen. Problematischer ist hingegen die damit verbundene Idee einer gleichzeitigen Rückkehr zu recht alt anmutenden Ideen.

Diesmal wirklich - kreativer Kommunismus

Sahra Wagenknecht antwortet auf den Zusammenbruch des Sozialismus und der Globalisierung des Kapitalismus nicht nur mit einer sinnvollen Rekonstruktion des Nationalstaates, sondern auch des untergegangen Sozialismus. An dieser Stelle kommt ihre Biografie ins Spiel. Klaus-Rüdiger Mai schildert ihre persönliche Entwicklung, die mit der Tragik des im Iran verloren gegangenen Vaters ihren Ausgang nimmt.

Eindrucksvoll ist ihr in der DDR zunächst verweigerter Wille zum Studium. Ihre Geisteswelt dreht sich schon bald um die Fixsterne Goethe, Hegel und Marx. Nennenswerte Erfahrungen von praktischer Arbeit sind auf ihrem Weg nicht zu erkennen. Ihre Treue zum Kommunismus verbindet sie mit der Treue zur DDR, deren Untergang ihr immerhin als Ausdruck einer ›Konterrevolution‹ galt. Noch Jahre später bedauerte sie den Untergang der DDR und legte mit diesem Bekenntnis zugleich die Grundlage für ihre Karriere. In der ›Kommunistischen Plattform‹ der PDS fanden alle Systemnostalgiker eine Heimat, die die frisch gewendete Nachfolge-SED widerwillig in der Partei abbilden musste. Durch ihren Vorsitz in der Plattform wurde Wagenknecht gegen den Willen der Parteiführung im Vorstand aufgenommen.

Eine politische Besonderheit an Sahra Wagenknecht ist, dass sie ihre Gedanken in eine philosophische Theorie einbettet, um diese dann in die praktische Politik überführen zu wollen. Mit falschen theoretischen Grundsätzen könne man keine richtige Politik machen. Schon darüber wurde sie zum Fremdkörper unter all jenen ungelernten und ungebildeten Parteisoldaten.

Auch ihre persönliche Biografie erweist sich als ein Ineinander von Theorie und Lebenswelt. Ihre Partnerschafften ähneln Mentorschaften. Bis heute und hin zu Oskar Lafontaine sucht sie die Nähe zu Männern, die ihr zugleich als intellektuelle und organisatorische Ergänzung dienen. Ihre Renitenz gegen Anpassung an den neuen Zeitgeist war schon wieder originell und verschaffte ihr die Neugier der Medien, die für ihr Fortkommen wichtiger wurden als die Partei selbst.

Im marxistischen Geist propagiert sie Veränderungen der Produktionsweise, insbesondere der Produktivkräfte und der Eigentumsverhältnisse. Komplementär zum Staatseigentum propagiert sie ein Genossenschaftssystem. Konzerne sollen fortan nicht mehr den Aktionären gehören, sondern der Mitarbeitergesellschaft, den Arbeitnehmern des Unternehmens. Konzerne sollen Belegschaftseigentum werden.

Dies deutet Klaus-Rüdiger Mai zu Recht als eine Rolle rückwärts in den Sozialismus, der immer wieder kreativ darin war, an seiner Wirtschaft zu basteln, die am Ende dann doch nicht funktionierte. Es bestehe kein Zweifel, dass Sahra Wagenknecht nichts anderes wolle als eine sozialistische Gesellschaft, die allerdings diesmal wirklich, kreativ zu sein habe.

Über ihre neue Partei wissen wir noch wenig. Es handelt sich zunächst nur um einen Zusammenschluss ihr genehmer Personen, böswillig könnte man von einer Kaderpartei sprechen. Eine dauerhafte Mitgliedschaft wird nur wie einst in der SED nach einer Probezeit gewährt.

Völlig ungewiss ist, ob es auf eine weitere Brandmauerpartei hinausläuft, die sich vor allem aus Abgrenzungen heraus definiert oder ob sie jenseits parteipolitischer Taktiken zu den harten Notwendigkeiten künftiger Selbstbehauptung durchdringen wird und aus deren Erkenntnisse dann die notwendigen Bündnispartner sucht. Über praktisch-operative Befragungen verfügt sie nicht. Wie ihr Lebenslauf auch verbleibt das Meiste im Reich einer gewiss anspruchsvollen Theorie.

Über diese aber erhebt der Biograf schwerwiegende Bedenken. In ihren theoretischen Ausführungen bleibe fast die ganze moderne Philosophie zum Thema Denken und wissenschaftlicher Methodik vor der Tür. Sie bleibe gefangen in der Hegelschen und Marxschen Logik, und darin sogar hermetisch abgeschnitten.

Durch diese Abgeschnittenheit blieben viele Leerstellen. Wo ist in dieser Logik Platz etwa für die Kulturkämpfe mit dem Islam, die Europa, falls es sich überhaupt noch einmal zum Kampf aufraffen sollte, ins Haus stehen? Was bedeutet die Restriktion von Einwanderung konkret? Wie hält sie es mit einem Europa, das nicht schützt? Soll der Protektionismus für Arbeitnehmer und Mittelstand zu einem Decoupling und schließlich zur Deglobalisierung überleiten? Mit der Beantwortung solcher Fragen wird eine Partei, die auf eine Person fixiert ist, zwangsläufig überfordert sein.

Klaus-Rüdiger Mai legt eine eindrucksvolle Biografie vor, die eine ansonsten rätselhafte Karriere als Ausfluss geistiger Zeitläufte deutet. Das Buch enthält nicht nur eine brillante Abrechnung mit dem Postmodernismus, dessen Verworfenheiten manchem selbst den alten Sozialismus wieder als attraktiv erscheinen lassen. Die Biografie von Mai warnt aber davor, einen Wirklichkeitsverlust durch einen anderen zu ersetzen.

Klaus-Rüdiger Mai, Die Kommunistin. Sarah Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen, München (Europa Verlag) 2024, 288 Seiten

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