von Herbert Ammon

I.

Ungeachtet des durch den Mauerfall eingeleiteten welthistorischen Umbruchs von 1989/1991, der die Existenz der Generationen des heutigen Deutschland in nahezu allen Facetten – EU-Integration, Globalisierung, Immigration, (post-)nationale, monokulturelle Zivilreligion im Zeichen evidenter Multikultur, europäische Mittellage, Hegemonialverdacht, Wiederkehr geopolitischer Krisen und Konflikte – bestimmt, beansprucht  die Chiffre »1968« als historische Zäsur im Bewusstsein vieler (west-)deutscher Linker noch immer mythischen Glanz.

Dabei bleibt trotz ausufernder Literatur über »1968« die komplexe Vorgeschichte der großen Protestbewegung, die nach dem 2. Juni 1967 – der Tag, an dem bei einer Demonstration gegen den persischen Schah Reza Pahlevi II. in West-Berlin der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde – losbrach, weithin unbekannt oder vergessen.

Zwar dürfte es nur schwer möglich sein, die nicht allein von Kurt Schumacher – er wandte sich vehement gegen die »große geschichtliche Lüge« von der Kollektivschuld – repräsentierte nationalpatriotische Traditionslinie in der SPD als ein nachwirkendes Moment der westdeutschen Jugendrevolte herauszuarbeiten. Zur Vorgeschichte von »1968« gehören indes die selbst noch nach dem Mauerbau proklamierten deutschen Einheitsparolen der SED, die Bedeutung der von der SED finanzierten, von Ulrike Meinhof und ihrem Ehemann Klaus-Rainer Röhl (als Mitglieder der illegalen KPD) herausgegebene Zeitschrift Konkret als linksintellektuelles Leitorgan in den 1950er/60er Jahren, der deutsche Linksprotestantismus, die »konservativ« linken, sozialistischen und gegen den von Herbert Wehner 1959 vollzogenen außenpolitischen SPD-Kurswechsel gerichteten nationalneutralistischen Positionen im SDS und dessen Beziehungen zur FDJ in der DDR, nicht zuletzt die pazifistische Ostermarschbewegung.

Kaum wahrgenommen werden somit die vielfältigen Strömungen und Tendenzen, die in einer kurzen Phase 1967/68 im Protest gegen den Vietnam-Krieg zusammenflossen. Die zu konstatierende Unkenntnis gilt insbesondere für die in der deutschen Psychologie verwurzelten »nationalen« Momente des Protests, obgleich sie in den Werken von Wolfgang Kraushaar, der sich – nicht zufällig wegen des nationalen Motivs – überaus kritisch mit der Führungsrolle Rudi Dutschkes auseinandergesetzt hat, sowie in den Büchern des Ex-Maoisten Gerd Koenen, einst Übersetzer der Schriften der mörderischen Khmer Rouge, beleuchtet worden sind. Erwähnt sei auch der von Peter Brandt und von mir bereits 1980 herausgegebene Dokumentenband über Die Linke und die nationale Frage.

II.

Mit der Druckversion der Dissertation von

Matthias Stangel: Die Neue Linke und die nationale Frage. Deutschlandpolitische Konzeptionen und Tendenzen in der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2013, 638 Seiten,

liegt ein Buch vor, das sich der nationalen Unterströmung der aufgrund ihres antifaschistischen Protestgestus meist als »antinational« gedeuteten »Neuen Linken« – ein Anfang der 1960er Jahre hauptsächlich aus England und den USA importierter Begriff – widmet. Es bietet zu dem einerseits bereits weit entrückten, andererseits von der zeitgenössischen Linken gemiedenen Thema eine durch umfangreiches Archivmaterial fundierte Darstellung.

In einem theoriegeschichtlich angelegten Kapitel über das Verhältnis der Linken zur »nationalen Frage« erhellt das Buch unter anderem die Rolle, die in der Latenzphase der Revolte Ernst Niekisch als Mentor der sich radikalisierenden Studenten spielte. Seine Autorität auf der Linken verdankte Niekisch seiner wechselvollen Biographie: vom linkssozialistischen Revolutionär in den Tagen der Münchner Räterepublik zum »nationalbolschewistischen« Gegenspieler Hitlers. 1937 mit den Anhängern seines »Widerstand«-Kreises verhaftet, wurde Niekisch 1939 vom »Volksgerichtshof« zu lebenslänglich Zuchthaus verhaftet und 1945, nahezu erblindet, von sowjetischen Soldaten aus dem Zuchthaus Brandenburg befreit.

Auf der Linken von Leuten wie Georg Lukácz  und Wolfgang Abendroth  als »furchtloser Streiter gegen die Barbarei« (Abendroth, zit. in Stangel, S. 117) geschätzt, trat Niekisch 1962 als ordentliches Mitglied der »Förderer-Gesellschaft« des ein Jahr zuvor von der SPD verstoßenen SDS bei, kandidierte sogar für deren Kuratorium. Hatte er 1950 in einem Brief an Ernst Jünger noch  einmal seine Ablehnung »der Überfremdung durch den westlichen, vor allem auch amerikanischen Imperialismus […], den ich damals schon im Bunde mit der römisch-katholischen Kirche sah« (zit. ibid., 116, Fn. 370), bekundet, so teilte er in den 1960er Jahren mit den »neulinken« Studenten das Interesse an den Werken von Ernst Bloch, Georg Lukácz, Frantz Fanon sowie an der 1966 bei Rowohlt erschienenen Theorie des Guerillakriegs Mao Tse-Tungs.

Auf Herbert Marcuse, der in den 1960er Jahren zum geistigen Heros des neulinken Protests avancierte, mochte sich Niekisch nicht näher einlassen. An seinen Mitstreiter Joseph E. Drexel, den 1945 aus dem KZ Mauthausen befreiten Verleger der Nürnberger Nachrichten, der ihm von einem Vortrag Marcuses berichtete, schrieb Niekisch schon 1962: »Auch für mein Gefühl treibt Marcuse seinen Feldzug gegen die Tabus zu weit. Gewisse soziale und politische Tabus sind nötig, um Ordnungsformen aufrechterhalten zu können. Die Zerstörung von Tabus ist immer ein Beginn des Zersetzungsprozesses jener Formen.« (Zit. ibid., S. 120 f., Fn. 386)

Zu Niekisch kamen nicht nur Westberliner FU-Studenten wie Urs Müller-Plantenberg, der zeitweilige SDS-Landesvorsitzende Tilman Fichter, Bernd Rabehl, Klaus Meschkat (laut Rabehl) und andere. Die Frau des späteren FU-Professors und neulinken Parlamentarismus-Kritikers Johannes Agnoli half im Niekisch-Haushalt. Zu den Lesern zählte auch Rudi Dutschke, der allerdings Vorbehalte gegenüber Niekischs Sympathien für die »halb-asiatische Zaren-Maschine« Russland anmeldete (ibid., S. 122). 1979, als in der Zeitschrift links eine Debatte darüber einsetzte, wo Niekisch angesichts seines einstigen radikalen Nationalismus ideologisch zu verorten sei, verteidigte der Hannoveraner Politikwissenschaftler und frühere SDSler Jürgen Seifert (1928-2005) dessen Denken als den »Geist, der die ›Rote Kapelle‹ möglich machte« (zit. ibid.).

Im Rückblick auf seine – von mancherlei Fehlwahrnehmungen geprägten – nationalrevolutionären Kampfschriften gegen »Versailles« und den Westen, gegen das Bürgertum und gegen Hitler schrieb Niekisch im Oktober 1966, sieben Monate vor seinem Tode, an Drexel: »Nach so langem Abstand ist man über sich und seine eigenen Gedanken erstaunt... Meine Interpreten knacken sich die Zähne an mir aus« (zit. ibid., Fn. 394).

III.

Der erste Teil des obigen Zitats könnte für manche Protagonisten mit »1968« assoziierten Studentenrevolte sowie der als Kampfbegriff kaum noch geläufigen APO – Kürzel für die »Außerparlamentarische Opposition« – gelten. Gedächtnislücken kennzeichnen nicht wenige jener Generation, welche, im Bewusstsein moralischer und intellektueller Überlegenheit, sich als »kleine radikale Minderheit« anschickte, die im Spätkapitalismus und – als dessen faule Frucht – im Konsumismus verwurzelte Entfremdung aufzuheben, die sexuelle Befreiung als Absage an die »Massenpsychologie des Faschismus« (Wilhelm Reich) zu proklamieren, den nationalen Befreiungskämpfen in der Dritten Welt von den »Metropolen« aus zum Sieg zu verhelfen und zugleich der diskreditierten Vätergeneration den Prozess zu machen.

An ihre ideologische Verbohrtheit, an ihre Revolutionsphantasien und elitäre Militanz erinnern sich Leute wie Peter Schneider oder Götz Aly oft nur noch im Gestus der Selbstironie oder der Scham. Während im Umfeld der taz und der Grünen die nationalen, auf die deutsche Wiedervereinigung gerichteten Emotionen eines Rudi Dutschke als peinlich empfunden oder verdrängt werden, wollen einstige Aktivisten wie der »Renegat« Bernd Rabehl in »1968« nur noch den nationalrevolutionären Grundzug mit Rudi Dutschke als Exponenten erkennen. Erinnert sei an die am 24.12.1998 veröffentlichte Kanonische Erklärung zur Bewegung von 1968 von Horst Mahler, Günter Maschke und Reinhold Oberlercher, wonach auf dem West-Berliner Vietnam-Kongress im Februar 1968 von der »Idee einer Internationale der Nationalrevolutionäre« beflügelt gewesen sei (in: »Kanonische Erklärung zur Bewegung von 1968«, v. 24.12.1998).

Laut Rabehl sei es darum gegangen, »Keimformen einer europäischen Befreiungsfront zu legen, um die Großmächte und ihre Kollaborateure aus Zentraleuropa zu drängen« (Bernd Rabehl, 06.12.98, zit. ibid.). Ganz anders ließ sich 1979 der in späteren Jahren zum Rechtsextremismus konvertierte und wegen Holocaust-Leugnung verurteilte Horst Mahler vernehmen, als in dem neuen Röhl-Magazin das da eine Debatte über die »nationale Frage« – u.a. mit Dutschke und Henning Eichberg, seinerzeit noch bekannt als Stichwortgeber einer als »Neue Rechte« identifizierten Gruppe von »Nationalrevolutionären«, als Diskutanten – geführt wurde: Er sprach von »zwei Nationen als unvermeidlicher Konsequenz des von Hitler ausgelösten Zweiten Weltkrieges« und sah kein »sonderliches Bedürfnis der in diesen Staaten lebenden Menschen« nach nationaler Einheit (zit. in: Stangel, 389). Selbst in Rabehls Trauerrede auf den an Weihnachten 1979 in Dänemark gestorbenen Freund fehlte jeglicher Bezug auf das patriotische Vermächtnis des als Märtyrer der Revolte verehrten Dutschke (ibid.).

Dass die Amerikanerin Gretchen Dutschke-Klotz mit den patriotischen Empfindungen ihres Mannes nichts anfangen konnte, ist seit ihrer mit Hilfe des SDS-Genossen Jürgen Miermeister verfassten Dutschke-Biographie (Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, 1996) bekannt. (Dieses Buch fehlt in Stangels Bibliographie.) Noch 2001 wollte auch der posthum geborene Dutschke-Sohn Marek kategorisch ausschließen, dass sein Vater je hätte Worte des Stolzes über Deutschland äußern können (Stangel, S. 367, Fn. 1254). Ähnlich spitzte Kraushaar in seinem Buch über Achtundsechzig. Eine Bilanz (2008) die Problematik zu: »Das Unwort der Achtundsechzigerbewegung lautete ganz zweifellos Nation« (zit. ibid., S. 15).

Es trifft zu, dass sich Dutschke in den bewegten Jahren zwischen 1964 und 1968 gegenüber seinen SDS-Genossen mit Proklamationen zur deutschen Teilung zurückhielt, selbst wenn er sich in utopischen Vorstellungen einer rätedemokratischen »Freien Stadt West-Berlin« und deren revolutionärer, gesamtdeutscher Strahlkraft erging. Immerhin machte der aus der DDR »abgehauene« Dutschke in Interviews mit Wolfgang Venohr (»Ich war nicht bereit, in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte, auf eine andere deutsche Armee zu schießen«, in: Interview mit Venohr im WDR v. 19.04.1968, zit. ibid., S. 242, Fn. 865) und Günter Gaus aus seinen gesamtdeutschen Motiven keinen Hehl. Im Dezember 1967 verknüpfte er seinen revolutionär-emanzipatorischen, internationalistischen Idealismus mit seinem Unmut über das Versagen der Politik – als Wortführer der »APO« bezog er sich auf das »Parlament« –, die Erwartungen des Volkes ernstzunehmen und zu erfüllen: »Nach dem Zweiten Weltkrieg begann ununterbrochen das Gerede von der Wiedervereinigung. Nun haben wir schon 20 Jahre und mehr keine Wiedervereinigung, wir haben aber immer wieder Regierungen bekommen, die man gewissermaßen bezeichnen könnte als institutionalisierte Lügeninstrumente, Instrumente der Halbwahrheit, der Verzerrung, dem Volk wird nicht die Wahrheit gesagt. Es wird kein Dialog mit den Massen hergestellt, kein kritischer Dialog, der erklären könnte, was in dieser Gesellschaft los ist.Wie es plötzlich mit dem Ende des Wirtschaftswunders zu Ende kam, warum die Wiedervereinigungsfragen nicht vorankommen? Man spricht von menschlichen Erleichterungen und meint Aufrechterhaltung der politischen Herrschaft.« (Gaus-Interview in der Sendereihe »Zu Protokoll« im SWF v. 03.12.1967)

IV.

Anno 1967/1968 bis zur Selbstauflösung (21.03.1970) fungierte der SDS – bereits im Oktober 1961 hatte sich die SDS-Delegiertenkonferenz als Teils der »Neuen Linken« erklärt (Stangel, S. 232) – als Kern der in die 1950er Jahre zurückreichenden APO. Wenngleich nach außen unter dem berühmten roten Protestplakat mit der Trias Marx-Engels-Lenin (»Alle reden vom Wetter. Wir nicht«) als geschlossene Avantgarde auftretend, war der »bündisch«, dezentral organisierte SDS gespalten in »Traditionalisten«, d.h. Parteigänger und Mitglieder der illegalen KPD, denen nichts weniger am Herzen lag als die Überwindung der Mauer und die Revolutionierung der DDR, und in »Antiautoritäre« – eine Konfliktlinie, die ältere Dissonanzen zwischen Prokommunisten und demokratisch gesinnten Linkssozialisten überlagerte. Als Aktivist der Bonner Gruppe, einer »Traditionalisten«-Hochburg, tat sich Hannes Heer, Jahrzehnte später Initiator der spektakulären »ersten« Wehrmachtsausstellung 1995, hervor. Im März 1968 forderte er den Ausschluss des zu den »Antiautoritären« zählenden Rudi Dutschke (Stangel, S. 354), der zusammen mit Rabehl über den Kontakt zur dadaistisch-anarchistisch gestimmten Gruppe der Münchner »Situationisten« um Dieter Kunzelmann und Frank Böckelmann 1964 in den SDS gelangt war.

Kaum zu bestreiten ist, dass auch die mit der »Neuen Linken« weithin identifizierten »Antiautoritären« die »deutsche Frage« durch die Mauer mehrheitlich für erledigt hielten. Dessen ungeachtet frönten nicht wenige im Vietnam-Protest – oft in Widerspruch zu den Impulsen aus dem neulinken US-Protest – vielfach einem antiamerikanisch eingefärbten Ersatznationalismus, während sie das Heil der Revolution in der Dritten Welt suchten. Zum Missfallen der im Dezember 1966 nach Frankfurt angereisten FDJ-Funktionäre, die das von DDR-Staats- und SED-Parteichef Walter Ulbricht propagierte Konzept einer Konföderation vertraten, erklärte der maoistisch orientierte Zweite Bundesvorsitzende des SDS Peter Gäng durch die angestrebte Anerkennung der DDR die nationale Problematik für außerhalb einer »sozialistischen Perspektive« liegend. Immerhin propagierte der SDS Münster auf Einladung zu der vom 16.-23 Juni 1967 von Stadt und Landkreis Münster veranstalteten »Gesamtdeutschen Woche« in einem Antwortschreiben noch einmal die Idee einer »schrittweisen Annäherung der deutschen Staaten« als Konzept zur Lösung der »Deutschen Frage« (Stangel, S. 302 f.).

Was den 2. Juni 1967 als Schlüsseldatum von »1968« betrifft, so lag der Ursprung der Anti-Schah-Demonstration in dem bei Rowohlt 1967 erschienenen Buch des mit Ulrike Meinhof und Rudi Dutschke befreundeten Waldorf-Schülers Bahman Nirumand, Sohn des ersten Adjutanten am Pfauenthron, über Persien. Modell eines Entwicklungslandes, in dem die Anklage gegen das von dem brutalen Geheimdienst SAVAK gestützten Schah-Regime im Iran auf dessen Rettung durch den CIA-Putsch gegen den nationalistischen Politiker Mohammed Mossadegh (1953) zurückgeführt wurde. Die Studenten riefen »Ho, Ho, Ho Chi Minh, Mo, Mo, Mossadegh«, wenn Nirumand, 1965 vom Goethe-Institut in Teheran nach Berlin zurückgekehrt, Gründer der »Konföderation iranischer Studenten« (CISNU) ans Rednerpult trat (Rudolph Chimelli: »Ulrike Meinhofs Freund«, in: SZ v. 29.08.2011). 1968 wollte Nirumand zusammen mit Dutschke im Hunsrück, dem linksrheinischen Schwerpunkt der US-Streitkräfte, einen Sendemast des Soldatensenders AFN sprengen.

Der Antiimperialismus des 68er-Protests hatte somit nicht allein aufgrund der Entzauberung der – noch unter Präsident Kennedy weithin bewunderten – USA vermittels der Schreckensbilder aus Vietnam einen spezifisch antiamerikanischen Unterton. Schon 1965 sprach Hans Magnus Enzensberger in seinem einflussreichen »Kursbuch« von einem »deutschen Protektorat« (Stangel, S. 337). Selbst in dem der nationalen Thematik eher fernstehenden Frankfurter SDS wurden – womöglich als unbeabsichtigter Seitentrieb der deutscher Tradition entstammenden Kulturkritik Adornos – antiamerikanische Töne laut. Ein SDSler wandte sich zwei Jahre später nicht nur gegen die »Durchdringung unserer Wirtschaft durch US-Kapital«, sondern auch gegen die »›Importierung‹ [sic] des american way of life mit all seinen letztlich asozialen Folgeerscheinungen« (zit. ibid., S. 327). In einem Demonstrationsaufruf des SDS West-Berlin ging es gegen die »Strategie des US-Imperialismus, die Zerstörung nationaler Kulturen voranzutreiben«. Explizit wurden als Instrumente der »Taktik kulturimperialistischer Penetration« die »verschiedenen Kultur- und Austauschprogramme, Stiftungen etc.« genannt. Ähnliche Töne  gegen »diese sog. kulturellen Institute, die Amerika-Häuser« waren aus Tübingen zu vernehmen (ibid.). – Gerd Koenen spricht von »allerhand diskret nationalen Motiven« (zit. ibid., S. 338). Auf dem Höhepunkt der Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg entluden sich die aus berechtigter Empörung und nationalem Ressentiment gemischten Emotionen in den Rufen »USA-SA-SS!«. Für den britisch-amerikanischen Historiker Tony Judt diente die »linke« Empörung über die Verbrechen in Vietnam als »Ersatz für die Diskussion über Deutschlands eigene Kriegsverbrechen.« (Zit. ibid.)

Vom eigentlichen nationalen Thema, der Berliner Mauer und der deutschen Teilung, wollte die Mehrheit der westdeutschen neulinken Aktivisten kaum noch etwas wissen. »Gerade wegen der offiziellen Wiedervereinigungsrhetorik neigten viele der Neuen Linken der Zwei-Staaten-Theorie zu«, meinte rückblickend der 2013 verstorbene Christian Semler (zit. ibid., 246, Fn. 879). Am 17. Juni 1974 notierte Dutschke in seinem Tagebuch: »Viele Genossinnen und Genossen sehen die nationale Frage als Glied des Internationalismus überhaupt nicht!!« (zit. ibid., 375). Allerdings waren Anfang der 1970er Jahre über Maos Doktrinen einige der K-Gruppen wie – unter Führung  Semlers – die KPD/AO, alsbald umbenannt in KPD, wieder zur Bejahung der »nationalen Frage« gelangt – eine der vielen Paradoxien von 1968. Umgekehrt wurde vor allem der als maoistisch firmierende, realiter SED-orientierte KB Nord zum Nährboden der im Gefolge der Wiedervereinigung  pathologisch hervortretenden »Antideutschen«. Zu den Spätfolgen von »1968« zählte nach dem Mauerfall die Aversion manch westdeutscher Grüner und anderer Linker gegen die wiedergewonnene deutsche Einheit sowie, bis heute nachwirkend, die von naivem »Internationalismus« – wofern nicht nationalem Selbsthass – genährte »linke Wut«  der sogenannten Antifa.

Dutschke, Fichter, Manfred Scharrer und ein paar andere gehörten in den revolutionär erregten Jahren vor und nach »1968« zu jenen Exponenten der Neuen Linken, die eine ältere »nationale« Grundströmung innerhalb und außerhalb des SDS weitertrugen. Erkennbar wurde sie wieder in den 1970er Jahren, als Dutschke, anfangs noch unter Pseudonym, sein Leiden an Deutschland kundtat, die »Russifizierung« und »Amerikanisierung« beklagte und die Überwindung der deutschen Teilung als Aufgabe der »Sozialisten und Kommunisten« proklamierte. In dem von Gretchen Dutschke-Klotz herausgegebenen Tagebuch Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979 (2005) stellte  sich  Dutschke die Frage, warum der »Stolz über das Volk der Dichter und Denker« als spezifisch »subversives Element unserer Geschichte […] bisher nie Ausgangspunkt einer politischen Selbstbestimmung unseres  Volkes [wurde]« (zit. ibid. S. 413). 1972 notierte er in einem Buch: »Die Schwierigkeit ein Deutscher zu sein: (Warum ich aber dennoch stolz bin) Wie jedes Volk das Recht, die Pflicht und das Bedürfnis, auf sein Land stolz zu sein, und mögen noch so viele Rückschläge gewesen sein.« (Zit. ibid., S. 364)

In Dutschkes marxistisch eklektischer Rhetorik verschmolzen bibelfrommes Christentum, Antikapitalismus, Internationalismus und nationalpatriotischer Impetus, so in einem Beitrag in der Zeitschrift links 1977: »Was geschah mit unserem Land? Über Teheran, Jalta und Potsdam legten die neuen Supermächte ihre Interessen fest. Dem US-Imperialismus ging es um eine ›angemessene‹ Rekapitalisierung und Amerikanisierung. Natürlich im Bündnis mit den anderen europäischen Großmächten. Ein Separatist wie Adenauer und die mit ihm verbundenen Kapitalgruppen passten den Amerikanern natürlich ... Daß die systematische Spaltung Deutschlands für das Weltmachtverständnis der herrschenden Klasse Amerikas und Russlands von elementarer Bedeutung war, bedarf keiner weiteren Erklärung ... wir wurden befreit und gleichzeitig neu besetzt ...« (zit. ibid., S. 395). Dutschke scheute sich nicht, von »nationaler Identität« (ibid., S. 382, 406 f., 415) zu sprechen und in nationalrevolutionär anmutender Diktion den »Vertrag von Versailles« zu erwähnen, »jene tiefe Unterdrückung der deutschen Arbeiterklasse, des deutschen Volkes, im allgemeinen, [der] Deutschland zur tributpflichtigen Nation [machte]«. Er konstatierte »eine  Kontinuität von Dresden bis Vietnam« und forderte im Blick auf die Vertreibung, »wenn da ›Kriegsverbrechen gegen das deutsche Volk‹ während des 2. Weltkrieges vorliegen, so müssen sie angepackt werden, ohne auch nur einen Augenblick die des deutschen Faschismus aus dem Auge zu verlieren.« (Ibid., S. 416)

In der Gründungsphase der Grünen, als Dutschke in den Monaten vor seinem Tod den Zusammenschluss mit der nationalneutralistischen Gruppierung »Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher« (AUD) betrieb, kam das linksnationale Moment in der einstigen 68er-Bewegung noch einmal erkennbar zur Geltung. Bereits nach wenigen Jahren befanden sich inmitten der Flügel- und Positionskämpfe bei den westdeutschen Grünen die gesamtdeutsch orientierten, ehedem »neulinken« Mitglieder wieder in der Minderheit. Heute, in der  postnationalen Bundesrepublik des Jahres 2014, geriete der 1968er Protagonist Rudi Dutschke mit seinen vehement patriotischen Bekenntnissen ins Visier der ideologischen Scharfschützen im »Kampf gegen Rechts«.

V.

Es ist das Verdienst der Arbeit von Matthias Stangel, die verzweigten und verdeckten, den jüngeren im Gefolge von »1968« sozialisierten Generationen nahezu unbekannten »nationalen« Traditionslinien in der »Neuen Linken« offengelegt zu haben. Dank seiner Detailfülle könnte das materialreiche Buch zu einem Standardwerk, genauer: Nachschlagewerk werden. Diese Qualifikation gilt mit leichten Einschränkungen: Zu bemängeln sind ein sehr lückenhaftes Namensregister, ein zweimaliger Namensfehler (beim West-Berliner »Russell-Tribunal« 1977/78) sowie – im Hinblick auf den Umfang des Buches – einige Auslassungen.

Als inhaltliches  Defizit erscheint der fehlende Bezug auf den »linken« Strang der deutschen Jugendbewegung in der Nachkriegszeit, wofür die Namen Urs Müller-Plantenberg, Tilman Fichter sowie Ekkehart Krippendorf stehen. Ebenso gehörte zum tieferen Verständnis von »1968«, allgemein der deutschen Nachkriegslinken, die Schuldthematik im linken Protestantismus, die das Changieren von einem betont »nationalen« Einheitspathos zur Bejahung der Teilung in den 1970er Jahren beförderte, Anfang der 1980er Jahre in der Mobilisierung gegen neue »Atomraketen auf deutschem Boden« erneut – wenngleich oft nur in verklausulierter Form – nationale Töne anschlugen.

Ein Schlaglicht auf die mit der nationalen »Schuld«-Thematik verwobene Psychologie von »1968«, welche über die Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus  in den Terror der RAF mündete, werfen die spezifisch »deutschen« Biographien von Protagonisten wie Ulrike Meinhof, Horst Mahler, Gudrun Ensslin und Bernward Vesper. Die zwei letzteren Namen tauchen in Stangels Buch überhaupt nicht auf. So fehlen die für eine ganze  westdeutsche bürgerliche Nachkriegsgeneration biographisch erhellenden Episoden aus den 1960er Jahren. Von ihrem High-School-Jahr in den USA – in einer Methodistenfamilie – war die schwäbische Pfarrerstochter Ensslin 1959 mit gespaltenen Eindrücken zurückgekehrt (»Ich war entsetzt über die politische Naivität der Amerikaner«). Während aus ihrer Feder in der »linken« jugendbewegten Zeitschrift Pläne friedens- und deutschlandpolitische Texte erschienen, bemühten sich die unter anderem bei Walter Jens in Tübingen studierende Ensslin und ihr Verlobter, der Dichtersohn Vesper, um eine Rehabilitierung des verpönten NS-Poeten Will Vesper. Sie korrespondierten dabei mit der rechtsradikalen – ob ihres antineutralistischen Kurses von der CIA geförderten – Deutschen National- und Soldatenzeitung. 1965 gingen Ensslin – ihre Schwester war in jenen Jahren mit Günter Maschke verheiratet – nach Berlin und engagierten sich in der Wahlinitiative für Willy Brandt. Unter dem Eindruck des Vietnamkrieges, sodann nach dem Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, setzte jene Radikalisierung ein, die in den Terror und in die Selbstmorde von Stammheim 1977 mündete (»Ein Seitenweg«, in: Der Spiegel 25/1972).

»1968« wird trotz aller mörderischen Irrungen und Wirrungen von nicht wenigen Vertretern und Nachfahren jener Generation gerühmt als »Neugründung der Bundesrepublik«. Dieses zur Ideologie geronnene Selbstverständnis hat Peter Furth, einst Doktorvater Rudi Dutschkes, ernüchternder Kritik unterzogen (P. F.: Troja hört nicht auf zu brennen, 2006/2008. S. dazu meine Besprechung »Eine Kritik der deutschen Zivilreligion aus dem Geist der Tragödie« in: Globkult 13.08.2008. S. auch das Interview von Furth »Die Revolte hat eine Wächtergeneration hinterlassen« in: FAZ nr. 182 v. 06.08.2008, S. 3). Sarkastisch kommentierte schon 2005 der Philosoph Peter Sloterdijk das große Aufbegehren im Zeichen der Neuen Linken: »Alle Wege von 68 führen letzten Endes in den Supermarkt« (zit. in: Stangel, S. 296, Fn. 799). Vor dem Hintergrund postnationaler Politik und einer unklaren national-deutschen Staatsideologie der Bundesrepublik bedarf die Psychologie von »1968« als zentraler Aspekt der »nationalen Frage« in den Jahrzehnten der deutschen Teilung  noch immer einer distanzierten Untersuchung.

 

Bild: Demonstration in Berlin (West), 31. Juli 1969 (wikimedia commons by Wolfram Beyer, CC-BY-SA 3.0, 2.5, 2.0, 1.0).