von Peter Brandt
Die Geschichtswissenschaft ist sich heute einig, dass die Übertragung der Regierungsgewalt an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 und die folgende sogenannte ›Machtergreifung‹ der NSDAP weder unausweichlich war noch ein unglücklicher Zufall. Weder sind schon im wilhelminischen Reich oder gar früher die Weichen in Richtung des Hitlerschen »Radikalfaschismus« (E. Nolte) gestellt worden, noch war die Weimarer Republik ein totgeborenes Kind.
Die Verfassung der Republik vom 11. August 1919 galt zu Recht als fortschrittlich, auch wenn große Teile der Arbeiterschaft weitergehende Ziele verfolgten. Das betrifft die Erweiterung des jetzt proportionalen Wahlrechts auf Frauen und Männer ab 20 Jahren auf Reichs-, Länder- und Gemeindeebene, die Möglichkeit der direkten Volksgesetzgebung (in der Praxis konnte sich keines der wenigen durchgeführten Volksbegehren in der Abstimmung durchsetzen), die Stärkung des Reiches gegenüber den Ländern und den umfangreichen Grundrechtekatalog, der auch eine Reihe gemeinwohlorientierter und sozial akzentuierter Ziele republikanischer Gesellschaftspolitik enthielt.
Die Hauptstütze der Weimarer Republik war die Mehrheitssozialdemokratie und dann die wiedervereinigte SPD. Die bis 1922 in zwei Parteien gespaltene Sozialdemokratie erlebte ab Herbst 1918, wie auch die Gewerkschaften, einen Zustrom an Mitgliedern wie niemals zuvor und danach, von denen ein Teil dann wieder verloren ging. Die unverrückbare Verbundenheit der SPD, insbesondere ihrer Führung, mit der Republik von Weimar wurde bis zu dessen Tod 1925 symbolisiert durch die Reichspräsidentschaft Friedrich Eberts, der als – faktisch dominierender – Mitvorsitzender des Rats der Volksbeauftragten 1918/19 für eine Politik der Revolutionsbegrenzung (gegen die radikale Linke auch gewaltsam) und des schnellstmöglichen Übergangs in ein parlamentarisch legitimiertes Stadium eingetreten war.
Mit der relativen Stabilisierung der staatlichen Ordnung in den Jahren 1924-1928, als die SPD auf Reichsebene in der Opposition war, entstanden in ihren Reihen Konzepte eines graduellen Übergangs vom ›Organisierten Kapitalismus‹, der von der Arbeiterbewegung bereits demokratisch mitgestaltet würde, zum Sozialismus. Im Unterschied dazu strebte die KPD, die von der krisenhaften Verschärfung der Widersprüche im Kapitalismus ausging, die proletarische Revolution nach dem Modell der Bolschewiki an und nahm im Hinblick auf die Verteidigung der ›bürgerlichen Demokratie‹, sei es nur unter dem Gesichtspunkt legaler Kampfbedingungen, keine eindeutige und in den Jahren ab 1929 regelrecht destruktive Haltung ein.
Doch während das Stimmenverhältnis der beiden Arbeiterparteien 1928 ungefähr drei zu eins betrug, erlangte die SPD im November 1932 nur noch wenig mehr Wählerprozente als die KPD, die aber inzwischen fast zu einer Arbeitslosenpartei geworden war, während der SPD eher die beschäftigten Facharbeiter angehörten. Es gab also eine Tendenz zur sozialen Befestigung der politischen Spaltung. Wie auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums die NSDAP, zog die KPD besonders junge Menschen an.
Es existierte vor allem in den ersten Jahren der Weimarer Republik ein relevantes, entschieden demokratisches Potential mit sozialer Orientierung auch in denjenigen bürgerlichen Parteien, die mit der Mehrheitssozialdemokratie 1919/20 die Weimarer Koalition bildeten. Profilierte Vertreter waren etwa der badische Zentrumspolitiker Josef Wirth und der Staatsrechtler und Vater der Weimarer Verfassung Hugo Preuß, Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Im katholischen Zentrum, vor allem dort, wie in der liberalen DDP gab es aber auch andere, eher den Anschluss nach rechts suchende Strömungen. Die DDP schrumpfte zudem fast von Wahl zu Wahl, bis sie in den Jahren der Weltwirtschaftskrise als Deutsche Staatspartei zu einer Splittergruppe wurde; nach einer anfänglichen Expansion bei den Wahlen erging es der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei nicht anders. Es gab schon bald keine größere, verlässliche bürgerlich-demokratische Kraft mehr. Und das Republikschutzgesetz von 1921 konnte nicht viel bewirken, wenn die Justiz ›auf dem rechten Auge blind‹ war. In Bayern formierte sich 1920 eine antirepublikanische ›Ordnungszelle‹, und es war kein Zufall, dass Adolf Hitler seinen Putschversuch im November 1923 in München unternahm. –– Indessen wurden neben Deutschland auch andere repräsentative Demokratien, einschließlich mancher älterer, was man nicht übersehen sollte, in der Zwischenkriegszeit stärker angefochten als es in langer Perspektive scheint.
Jedenfalls sollte die aktive und passive Unterstützung für die deutsche Demokratie nach 1918 nicht unterschätzt werden. Es war keine ›Republik ohne Republikaner‹, wie die Abwehr des Kapp-Putschs 1920 durch einen Generalstreik, die gewaltigen Massendemonstrationen gegen die Ermordung des Finanzpolitikers Matthias Erzberger (Zentrum) und des Außenministers Walther Rathenau (DDP) 1921 bzw. 1922 sowie der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926 zeigten. Dieser blieb zwar erfolglos, bedeutete aber auch einen großen Mobilisierungserfolg von SPD und KPD. Vor allem in den Anfangsjahren gab es auch in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten eine beträchtliche Zustimmung zur demokratischen Republik.
Doch wollten viele Republikaner, insbesondere auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie und im linksintellektuellen Großstadtmilieu, die Republik anders als sie sich darstellte. Nicht nur war Deutschland weiterhin eine kapitalistische Klassengesellschaft, darüber hinaus war es 1918/19 auch nicht gelungen, die traditionellen Eliten des Kaiserreichs in der Schwerindustrie und im Großgrundbesitz, im Offizierskorps und in der hohen Verwaltungsbürokratie zu entmachten. Die Großbourgeoisie stand der parlamentarischen Demokratie überwiegend skeptisch bis ablehnend gegenüber, und eine tendenziell wachsende Zahl von Angehörigen der städtischen und ländlichen Zwischenschichten setzte ihre Hoffnungen in rechtskonservative oder rechtsextreme Parteien. Nicht zuletzt ist die antidemokratische und nationalistische Grundeinstellung eines großen Teils der akademischen Intelligenz in Rechnung zu stellen.
Die Wirtschaft der Weimarer Republik war belastet durch die materiellen Kriegsfolgen und den Friedensvertrag von Versailles (Gebietsabtretungen, Reparationen usw.), der über das ganze politische Spektrum inhaltlich abgelehnt wurde. Durch die Aufnahme von Schulden zur Kriegsfinanzierung bei den USA seitens Großbritanniens und Frankreichs war eine isolierte Lösung des Reparationsproblems nicht vorstellbar; aber erst die 1923 in einer Hyperinflation eskalierende Geldentwertung und die erneute Kraftprobe mit den früheren Kriegsgegnern Frankreich und Belgien, die das Ruhrgebiet besetzten, verhalfen einem konstruktiven Neuansatz zum Durchbruch. Dieser half das Deutsche Reich einige Jahre wirtschaftlich und politisch als liberal-konservativ regierte, dezidiert bürgerliche Republik zu konsolidieren – sein außenpolitischer Repräsentant war der frühere Nationalliberale und jetzige ›Vernunftrepublikaner‹ Gustav Stresemann –, doch mit einer hohen Sockelarbeitslosigkeit und beträchtlichen konjunkturellen Schwankungen, während die großen Unternehmen eine Rationalisierungsoffensive nach fordistischem Muster einleiteten, außerdem mit einer starken Rechtspartei im Reichstag, zeitweise auch in der Regierung, die die bestehende Ordnung nur duldete, die ›Deutschnationalen‹.
Die Hauptleidtragenden der Inflation waren neben den Armen diejenigen gewesen, die ausschließlich oder überwiegend über Geldvermögen oder entsprechende mobile Vermögenswerte verfügten. Das bedeutete die Verarmung eines Großteils des Kleinbürgertums und sogar des gehobenen Bürgertums, eine soziale Katastrophe und eine schwere Hypothek für die Republik, der sie vielfach angelastet wurde. Die Großindustrie profitierte in hohem Umfang durch Entschuldung, der Staat durch die Entwertung der bis 1918 von Privatleuten gezeichneten Kriegsanleihen. Kaum weniger einschneidend, wenn auch eher für die abhängig Beschäftigten, wirkte sich nach der Währungsreform vom November 1923 die Stabilisierungskrise aus, die sich bis weit in das Jahr 1924 hinzog. –– Wenn die mittleren Jahre der Weimarer Republik (›Goldene Zwanziger‹) häufig als Beginn der Konsumgesellschaft in Deutschland beschrieben werden, wobei die USA für viele schon damals das große, verklärte Vorbild abgaben, dann betraf das für die große Mehrheit eher eine Verheißung als die Lebenswirklichkeit.
Der Einbruch der verheerenden Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 und dann in deren Verlauf die tiefe Erschütterung des Kreditsystems durch die Finanzkrise von 1931 trafen Deutschland besonders schwer. Dazu kam eine strukturelle Agrarkrise. Auf dem Höhepunkt der Depression 1932 lag die Industrieproduktion nur gut halb so hoch wie 1929. Fast ein Drittel sämtlicher Erwerbspersonen, bis zu 8 Millionen unter Einschluss der nicht registrierten, und ein deutlich höherer Anteil von Arbeitern, vor allem Ungelernte, waren arbeitslos. Diese konnten von der 1927 eingeführten Versicherung überwiegend nicht mehr finanziert werden und mussten stattdessen von den städtischen Wohlfahrtseinrichtungen notdürftig versorgt werden. Bei dem verschärften Übergreifen der Krise nach Deutschland wirkte sich die hohe Verschuldung in den USA mit kurzfristigen Anleihen negativ aus, als die Gelder zurückgerufen wurden.
Reichskanzler Heinrich Brüning (März 1930 bis Mai 1932) vom rechten Flügel des Zentrum trug mit seiner Spar- und Deflationspolitik faktisch zu einer Zuspitzung der Krise bei, wobei es ihm einmal darum ging, im traditionellen Sinn die Investitionsbedingungen durch Kostensenkung zu verbessern; zum zweiten hoffte er, auf diesem Weg die westlichen Regierungen zu der Einsicht zu bewegen, dass die Reparationen gestrichen werden müssten.
SPD und in geringerem Maß KPD hatten im Mai 1928 Stimmen hinzugewonnen, die Deutschnationalen Stimmen eingebüßt – die NSDAP war auf ganze 2,6 Prozent gekommen. Obwohl schon seit dem Spätjahr 1928 ein erneuter Trend zur sozialen und politischen Polarisierung Platz griff, wobei in erster Linie an den Ruhreisenstreit, eine Massenaussperrung, zu denken ist, überwogen bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise Tendenzen zur allseitigen Anpassung an den Status quo, und man darf vermuten, dass ohne die Wirtschaftskrise Deutschland ein Reichskanzler Hitler erspart worden wäre.
Aus der revolutionären Entstehung der Weimarer Republik resultierte ein relativ starkes Gewicht der Arbeiterbewegung: sowohl der SPD als auch der sozialdemokratisch ausgerichteten Gewerkschaften. Das Bedürfnis der Eigentümer und Funktionäre des großen wie auch kleineren Kapitals, diesen Einfluss auszuschalten (und nicht nur die zu Recht immer wieder hervorgehobene ›Bolschewismus‹-Furcht angesichts einer lärmenden, hemmungslosen Agitation und der Wahlzuwächse der KPD), wurde zu einem wesentlichen Motiv der sukzessiven politischen Rechtsentwicklung in Deutschland ab 1929. Denn anders schien eine erhebliche Senkung der Löhne bzw. Lohnnebenkosten und eine Liquidierung des Tarifsystems nicht durchsetzbar. Dabei ist nicht nur an den organisatorischen und schon im Sommer 1929 langsam beginnenden, im September 1930 durchschlagenden Aufstieg der NSDAP zu denken, sondern auch an den Führungswechsel in der bislang die Republik stützenden katholischen Zentrumspartei hin zu Prälat Ludwig Kaas und in der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) hin zu dem früheren Krupp-Direktor und jetzigen Medienmogul Alfred Hugenberg, einem nationalistischen Ultra, der viel dazu beitrug, Hitler populär zu machen.
Seit einem halben Jahrhundert ist empirisch gesichert, dass die Finanzierung durch die Industrie keine entscheidende, aber beträchtliche Rolle beim Aufstieg der Hitler-Partei gespielt hat. Zunächst hatten Angehörige der ›besseren Gesellschaft‹ bei deren erstem, regionalen Höhenflug in München Anfang der 20er Jahre mit zu den Geburtshelfern gehört, und seit 1927 flossen wieder Gelder aus dieser Richtung, einzelne Schwerindustrielle wie Emil Kirdorf und Frith Thyssen traten bei, aber selbst nach dem Durchbruch bei der Reichstagswahl vom September 1930 (18 Prozent der Stimmen) war in den zentralen Gremien der Großwirtschaft, so im Reichsverband der Deutschen Industrie, erst ein Teil für die Einbeziehung der NSDAP in die Regierung. Finanzielle Unterstützung ging an alle nicht-sozialistischen Parteien (einschließlich der sogenannten ›national-sozialistischen‹). Vorbehalte gegenüber der NSDAP richteten sich gegen die Gewaltbereitschaft insbesondere der Sturmabteilungen (SA) und die besonders dort verbreiteten antielitär-popularen Affekte, gegen den ideologischen Fanatismus sogenannter ›radikaler‹ NS-Führer (wozu Hitler in der Regel nicht gezählt wurde) und gegen vermeintlich antikapitalistische Bestrebungen, wie sie etwa bei Gregor Strasser und Gottfried Feder verortet wurden.
Auch wenn namentlich Hitler selbst bemüht war, ein gutes Verhältnis zur Großbourgeoisie und namentlich zur Industrie herzustellen, und obwohl im Frühjahr 1932 seitens der NSDAP vertrauliche Industriellenzirkel gebildet wurden, so der Keppler-Kreis bzw. die ›Arbeitsstelle Schacht‹, blieb die NS-Partei eine eigenständige Formation, die erst in einem widersprüchlichen und komplizierten Annäherungsprozess mit den tradierten Eliten und der sozialen Oberklasse verlötet werden musste. Die NSDAP hatte in ihrer Mitglied- und Wählerschaft Angehörige aller Klassen und Schichten der Bevölkerung, in beträchtlichem Umfang auch Arbeiter, allerdings prozentual unterrepräsentiert, schwergewichtig waren es hingegen Männer aus den mittleren sozialen Segmenten in Stadt und Land. Zu den frühzeitig sicheren Bänken gehörte die Studentenschaft.
Ebenso wie der politische Katholizismus, das Zentrum und die Bayrische Volkspartei mit zusammen circa 15 Prozent der Stimmen, blieben die – verfeindeten – sozialistischen Arbeiterparteien SPD und KPD in den Wahlen der Jahre 1930-1932 in Addition und bei sukzessiver Verschiebung nach links mit 35 – 38 Prozent stabil, während der politische Liberalismus pulverisiert und die nicht faschistische Rechte stark dezimiert wurde. Eine Stimmen- und parlamentarische Mehrheit hatte die NSDAP auch zusammen mit der DNVP Hugenbergs bis zum März 1933 nicht, verlor vielmehr im November 1932 zwei Millionen Stimmen, und auch infolge der letzten, bereits terrorisierten Reichstagswahl im März 1933 war diese Mehrheit nur knapp gegeben.
Noch eindeutiger als auf Seiten des Industrie-, Bank- und Handelskapitals war die Ablehnung der Weimarer Republik in den Kreisen des namentlich ostelbischen Großgrundbesitzes, insbesondere in den adeligen Spitzen, wo man die bis 1918 gesicherte privilegierte Stellung mit der Novemberrevolution eingebüßt hatte. Das Offizierskorps der Reichswehr wie große Teile der Reichs- und Landesbürokratien, der Richterschaft, der Hochschul- und Gymnasiallehrerschaft standen innerlich loyal nur zu einem Staatsabstraktum Deutsches Reich, nicht zur faktisch und legal bestehenden parlamentarisch-demokratischen Ordnung. Diese galt tendenziell als Hindernis für den ›Wiederaufstieg Deutschlands‹, des Deutschlands der Herrschaftseliten, wobei ein Revanchekrieg bei nicht wenigen Protagonisten zumindest als Möglichkeit einkalkuliert war.
Obwohl monarchistische Bestrebungen in der Auflösungsphase der Republik nicht besonders relevant waren, beteiligten sich Angehörige ehemaliger Fürstenhäuser mehr oder weniger aktiv, mehr oder weniger prominent, am antidemokratischen Zerstörungswerk. So setzten die Hohenzollern – der frühere Kaiser jedenfalls und der Ex-Kronprinz – bis 1933 auf eine Restauration der Monarchie mithilfe der NSDAP, womöglich nach dem Vorbild Mussolinis in Italien. Noch mehr aber engagierten sie sich als ›Zerstörer‹ der Weimarer Republik; woraus sie auch nie einen Hehl gemacht haben.
Seit 1931 zielte der erwähnte Reichskanzler Brüning insgeheim auf die Wiederherstellung der Monarchie – in der irrigen Annahme, sich dabei in Übereinstimmung mit dem Reichspräsidenten Hindenburg zu befinden. Tatsächlich wollte der mithilfe des Notverordnungsartikels 48 der Verfassung in der Krise wie ein Ersatzkaiser bewusst jenseits des Reichstags agierende Reichspräsident mit dem soldatischen und preußisch-traditionalistischen Nimbus – obwohl grundsätzlich Monarchist – dezidiert keine Rückkehr der Hohenzollern auf den Thron.
Hindenburg war, abgesehen von Hitler, die verhängnisvollste Gestalt der deutschen Politik seit den späten 20er Jahren. Die nach den Reichstagswahlen vom Mai 1928 gebildete, von Anbeginn brüchige Große Koalition von der SPD bis zur rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) war ihm von Anfang an ein Dorn im Auge, und er arbeitete hinter den Kulissen schon seit Anfang 1929 auf einen Regierungswechsel hin. Er ist der Hauptverantwortliche dafür, dass seit dem Platzen der Koalition (wegen Differenzen über die Fortführung der Arbeitslosenversicherung) im Frühjahr 1930 eine parlamentarische Lösung nicht mehr in Betracht kam; ab Sommer 1932 war sie wegen der negativen Mehrheit offen antiparlamentarischer Parteien dann auch insofern nicht mehr vorstellbar. Hindenburg akzeptierte nun grundsätzlich nach und nach eine Kanzlerschaft Hitlers, auch wenn er dessen weitgehende Machtansprüche noch zurückwies.
Obwohl Brüning sein Kabinett im Spätjahr 1931 nach rechts umgebildet hatte, konnte sein Regiment den Reichspräsidenten und dessen Umfeld immer weniger zufrieden stellen; denn es basierte auf der parlamentarischen Duldung durch die SPD, die auf diese Weise die NSDAP von der Macht fernhalten und zudem die von ihr geführte Regierungskoalition in Preußen, dem mit Abstand größten und bevölkerungsreichsten deutschen Land, decken wollte. Es war hauptsächlich Brünings Einsatz zu verdanken, dass neben der gemäßigten Rechten von der bürgerlichen Mitte auch die Sozialdemokratie die erneute Kandidatur Hindenburgs in der verfassungsmäßig vorgesehenen Volkswahl im März/April 1932 unterstützte, um einen Reichspräsidenten Hitler zu verhindern. Der alte Herr war über diese Konstellation jedoch keineswegs glücklich, grollte seinem Kanzler vielmehr, weil der ihn in diese Lage gebracht hatte.
Nach Brünings Rücktritt war die Bahn frei für den seit Jahren wichtigsten Strippenzieher in der Reichswehrführung, General Kurt von Schleicher und dessen Kreatur und Hindenburgs Liebling, den Herrenreiter und früheren Berufsoffizier Franz von Papen, der seit 1930 für das Zentrum im Reichstag saß. Papen wirkte wie die Inkarnation der politischen Reaktion und strebte statt einer konservativen Reform in der Art Brünings eine grundlegende Revision der staatlichen Ordnung, einen sogenannten ›Neuen Staat‹, an. Papen und sein ›Kabinett der Barone‹, wie man, kaum übertrieben, spöttisch sagte, verstanden sich nicht zuletzt als Interessenvertreter der Großwirtschaft, und diese dankte es ihnen mit beinahe vorbehaltloser Unterstützung. Im Reichstag stützten allein die Deutschnationalen und die zur Splittergruppe reduzierte Deutsche Volkspartei, hinter denen seit den Wahlen vom 31. Juli 1932 zusammen gerade noch 7 Prozent der Wähler standen, die Regierung Papen, die die letzte bedeutende sozialdemokratisch-republikanische Bastion, die (aufgrund der Wahlergebnisse nur noch geschäftsführende) Regierung Preußens, am 20. Juli 1932 hatte durch präsidiale Notverordnung staatsstreichartig absetzen lassen.
Das passive Verhalten nach dem ›Preußenschlag‹ zeigte die Sozialdemokratie als Gefangene ihrer bisherigen defensiven Politik. Es hätte eine grundlegende Kurskorrektur erfordert, nunmehr denselben Hindenburg als Zerstörer der demokratischen Verfassungsordnung zu bekämpfen, den man noch vor gut einem Vierteljahr als Garanten des Rechtsfriedens gegen die Gesetzlosigkeit der NSDAP in seinem Amt bestätigt hatte. Zwar deuteten etliche Berichte aus den Hochburgen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung darauf hin, dass in weiten Kreisen der Eisernen Front, des Zusammenschlusses der sozialdemokratisch und freigewerkschaftlichen Massenorganisationen, eine – auch bewaffnete – Gegenwehr erwartet wurde. Doch reichten die Waffen der republikanischen Schutzformationen des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold auch in Verbindung mit der preußischen Polizei (deren Loyalität zweifelhaft war) nicht aus, um gleichzeitig Hitlers SA, den Stahlhelm und die von Hindenburg befehligte Reichswehr zu bekämpfen. Schließlich drohte in einer ökonomischen Krise mit 6 bis 8 Millionen Arbeitslosen das im Kapp-Lüttwitz-Putsch bewährte Kampfmittel des Generalstreiks zu versagen.
An eine Tolerierung der Reichsregierung durch die NADAP, die mit der Preußen-Wahl am 24. April, dem zweiten Wahlgang der Wahl zum Reichspräsidenten am 19. April und der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 mit 36 bis 37 Prozent der Stimmen offenbar den Zenit ihrer Massenunterstützung erreicht hatte, war nun nicht mehr zu denken, und der sprunghaft agierende Papen musste das Handtuch werfen. Eine weitere Reichstagswahl am 6. November 1932 endete mit einem Rückgang der NSDAP um vier Prozent bei weiterem Zugewinn der KPD (jetzt 16,9 Prozent). Zumal der konjunkturelle Tiefpunkt der Wirtschaftskrise durchschritten war, sahen nicht wenige Republikaner angesichts weiterer Einbußen der NSDAP bei Kommunalwahlen und ernster Finanzierungsprobleme der Hitler-Partei zum Jahresende 1932 das Schlimmste überstanden. Das taktische Kalkül der SPD-Spitze, die NSDAP so lange von der Regierung fernzuhalten, bis das vermeintlich instabile Konglomerat nach ersten Misserfolgen auseinanderfallen würde, schien aufzugehen.
Wehrminister Schleicher, umtriebigster politischer Intrigant und Kanzlermacher seit 1930, nahm nach Papens Schiffbruch selbst das Ruder in die Hand. Als vermeintlich ›sozialer General‹ war er dem Großbesitz zunehmend verdächtig, denn er gedachte, Papens sozial-reaktionäre Politik nicht einfach fortzusetzen, auch deshalb, weil ihm eine parlamentarische Kombination vorschwebte, die die ideologischen Fronten auflösen würde: In einer ›Querfront‹ oder ›Gewerkschaftsachse‹ gedachte er, die Kräfte vom rechten Flügel der SPD mit der ADGB-Spitze über die Christlichen Gewerkschaften mit dem Zentrum und den Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband samt Teilen der etablierten Rechten bis zum kapitalismuskritischen (und zugleich – hier entscheidend – im Machtwillen gemäßigten) Flügel der NSDAP zusammenzufassen. Diese Vorstellung scheiterte indessen bereits im Ansatz an den wichtigsten Wunschpartnern. Auch die reduzierte Variante, die Hereinnahme Gregor Strassers in das Kabinett und die faktische Spaltung der NS-Bewegung, erwies sich als undurchführbar, und Strasser musste von seinem Posten als Reichsorganisationsleiter der NSDAP zurücktreten.
Blieb die verfassungswidrige Suspendierung des Reichstags und die Errichtung einer präsidial abgesegneten autoritären, auf die Reichswehr gestützten Regierung, im Jargon der Zeit eine ›Diktatur Schleicher‹. Diese hätte mit scharfer Ablehnung durch die Linke – Sozialdemokraten wie Kommunisten – und gleichermaßen durch die Nationalsozialisten rechnen müssen. Vor dem offenen Verfassungsbruch scheute Reichspräsident Hindenburg zurück, der sich mit der Reichswehrführung im Übrigen einig war, dass es gelte, einen Bürgerkrieg unbedingt zu verhindern, auch aus Gründen der Bewahrung bzw. Wiederherstellung deutscher Wehrkraft.
Auf den relativen Misserfolg der NSDAP bei der Novemberwahl 1932 reagierten Teile der gesellschaftlichen Eliten eher mit Besorgnis, denn man befürchtete stets den Übergang der durch die extreme Rechte radikalisierten Massen zu den Kommunisten und ebenso die Rekonsolidierung der Sozialdemokratie. Ein Brief wichtiger Industrieller und Bankiers, unterzeichnet auch vom Vorsitzenden des Reichslandbundes, an Hindenburg vom 19. November 1932 forderte die Ernennung des Führers der immer noch bei weitem stimmenstärksten Partei zum Kanzler. Unter dem Schreiben fehlten jedoch diverse prominente Namen wie etwa Krupp und Springorum. Letzterer, Generaldirektor und Vorstandsvorsitzender des Hoesch-Konzerns, ebenso Albert Vögler, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke AG, und Paul Reusch, Generaldirektor und Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte, wollten politisch nicht hervortreten, unterstützten die Eingabe aber inhaltlich. Die Waage in der Oberklasse neigte sich nun immer mehr zugunsten einer führenden Beteiligung der NSDAP.
Dieses zustande zu bringen, war hauptsächlich das Werk eines Mannes, des früheren Reichskanzlers Franz von Papen, der sich von seinem Freund Schleicher verraten fühlte und auf Rache sann, zugleich von der Überzeugung durchdrungen war, zusammen mit Seinesgleichen als Vizekanzler in einem Kabinett Hitler die Fäden in der Hand behalten zu können. Um die Einigung der gesamten antidemokratischen Rechten, das Bündnis der NS-faschistischen Massenbewegung mit den alten Eliten samt Großbesitz zu realisieren, mussten auch der DNVP-Vorsitzende Hugenberg, der selbst gern „Führer“ gewesen wäre und dessen Partei mit der mitgliederstarken semifaschistischen Frontkämpferbewegung ›Stahlhelm‹ verbunden war, dazu gebracht werden, als Minister in eine solche Regierung einzutreten. Entscheidend war die Einigung Papens und Hitlers, die in einer Reihe informeller Geheimgespräche eingefädelt wurde, so am 4. Januar 1933 in der Kölner Wohnung des Bankiers Kurt Freiherr von Schröder, der sich vorher mit wichtigen Personen der Privatwirtschaft abgesprochen hatte, und einige Tage später unter Beteiligung von Oskar von Hindenburg, dem einflussreichen Sohn des Reichspräsidenten.
Die Arrangeure des 30. Januar aus den Spitzen der Gesellschaft blieben nicht lange am Ruder der Staatsgeschäfte. Sie wurden ausgeschaltet oder an den Rand gedrängt. Die Position als sozial Herrschende blieb den hinter ihnen stehenden Kräften erhalten. Diese gehörten an herausgehobener Stelle zu den Profiteuren des NS-Regimes, mit dessen Funktionären sie zwei zentrale Ziele teilten: die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und damit der Demokratie sowie die Aufrüstung.
Die zwei Dutzend führenden Großkapitalisten, die sich am 20. Februar 1933 mit Hitler trafen, ließen sich vom neuen Reichskanzler die Grundlinien seines Vorgehens und seiner Zielsetzung erläutern und stellten die für damalige Verhältnisse beachtliche Summe von 3 Millionen Reichsmark für den Wahlkampf der Rechtsparteien, davon 75 Prozent für die NSDAP, zur Verfügung. Sie wussten durchaus, was sie taten, als sie in der Folge den rechtskonservativen Super-Wirtschaftsminister (Wirtschafts- und Landwirtschaftsminister sowohl im Reich als auch in Preußen) Hugenberg, den Chef der kleineren Regierungspartei DNVP, fallen ließen.
Die Diktatur begann eben nicht mit dem 30. Januar. Hitler selbst sprach noch in den Wochen danach davon, die Macht mit legalen Mitteln erringen zu wollen. Das geschah im Wesentlichen über zwei Stationen: Der Terror gegen die Linke startete in großem Umfang mit dem Reichstagsbrand und der unmittelbar folgenden Verordnung des Reichspräsidenten ›zum Schutz von Volk und Staat‹ vom 28. Februar 1933, mit der bereits die wesentlichen Grundrechte aufgehoben und der Rechtsstaat liquidiert wurden – und zwar im Vorfeld der Reichstagswahl vom 5. März 1933; diese brachte der NSDAP, hauptsächlich durch die Mobilisierung bisheriger Nichtwähler, einen beträchtlichen Stimmenzuwachs (jetzt 43,9 Prozent), aber nur zusammen mit den verbündeten Deutschnationalen (8 Prozent) eine parlamentarische Mehrheit. Die SPD blieb hinsichtlich der absoluten Stimmen stabil, die bereits faktisch illegalisierte KPD büßte etwa eine Million Stimmen ein.
Es bedurfte aber weiterhin mehrerer offener Verfassungsbrüche, so der nachträglichen Aberkennung der 81 Reichstagsmandate der KPD, um die erforderliche Zweidrittelmehrheit für das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24. März 1933, das sogenannte Ermächtigungsgesetz, zustande zu bringen. Die katholische Zentrumspartei samt ihrer bayerischen Dépendance und die kleinen Reste der liberalen Parteien beugten sich den Drohungen und Lockungen der Nationalsozialisten, so dass das Gesetz verabschiedet werden konnte. Dieses legalisierte eine fast unbeschränkte Regierungsdiktatur, indem es der Reichsregierung mit Adolf Hitler an der Spitze erlaubte, eigenmächtig neben Verordnungen auch Gesetze (sogar mit verfassungsänderndem Inhalt) zu beschließen.
Die Basis der Arbeiterparteien reagierte auf die Installation der Regierung Hitler an zahlreichen Orten mit Massendemonstrationen, die teilweise die größten seit dem November 1918 waren. Während die KPD und die Kommunistische Internationale noch monatelang vom ›revolutionären Aufschwung‹ in Deutschland fabulierten und an ihrer verhängnisvollen Theorie des ›Sozialfaschismus‹ bis ins Jahr 1934 festhielten, zeigten sich im Frühjahr 1933 auf den Führungsebenen der Gewerkschaften und – weniger eindeutig – der SPD Anpassungstendenzen: Man hoffte, wenigstens die Weiterexistenz der Organisationen in einem Zustand des halblegalen Überwinterns bewahren zu können – analog dem Sozialistengesetz von 1878-1890.
Doch im Unterschied zum völligen Versagen der in Auflösung befindlichen bürgerlichen Mittelparteien lehnte die SPD-Fraktion des Reichstags am 24. März 1933 das Ermächtigungsgesetz einmütig ab. Nachdem im ersten Teil der Sitzung unter frenetischem Jubel seiner Anhänger Hitler in einer rhetorisch geschickten Rede für das Gesetz geworben hatte – SA- und SS-Einheiten umstanden das Gebäude der Berliner Krolloper, wo die Sitzung stattfand –, gab Otto Wels, der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende, eine Erklärung ab, mit der er die Ablehnung des Gesetzes begründete. Das konnte es angesichts der Bedrohung nicht mehr als ein symbolischer Akt sein, der verdeutlichte, dass es in Deutschland noch ein demokratisches Potenzial gab, das bereit war, sich der NS-Diktatur entgegenzustellen und für das die deutsche Sozialdemokratie in diesem Moment für sich und stellvertretend für die bereits Verhafteten, Geflohenen und im Widerstand Aktiven stand.
In Welsens genauestens durchkomponierter Rede, die mit dem Hinweis auf den damaligen sozialdemokratischen Protest gegen die Siegerwillkür von 1918 begann, fielen die berühmten Worte: »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.« Dann kam Wels auf die bereits massiven Verfolgungen von SPD-Angehörigen zu sprechen und auf den diktatorischen Charakter des Gesetzes, um sich anschließend zu den positiven Leistungen der Sozialdemokratie in der vorangegangenen Periode zu bekennen. »Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht.« Und: »Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.« Die Rede endete mit einem Gruß an die »Verfolgten und Bedrängten« im Reich.
Es ist auch 90 Jahre danach kaum möglich, die Rede ohne innere Bewegung anzuhören (es gibt eine Tonaufnahme) oder auch zu lesen. Otto Wels rettete nicht nur die Ehre der Sozialdemokratischen Partei, sondern in gewisser Weise auch die Ehre des deutschen Nationalparlaments.
Vortrag in Hannover im Verdi-Haus am 29.01.2023