von Gunter Weißgerber

1989 gewannen die Ostdeutschen unter historisch einmaligen außenpolitischen Rahmenbedingungen ihre Freiheit. Gorbatschow ließ, anders als im Baltikum, in der DDR die Panzer in den Hangars, und die ostdeutschen Kommunisten fühlten sich plötzlich ganz allein zu Haus. Der Weg vom Ruf ›Wir sind das Volk‹, welcher die Mauer zum Einsturz brachte, zu ›Wir sind ein Volk‹ war geradlinig, ja zwangsläufig. Und er war richtig! An dieser Stelle verweise ich auf meinen Aufsatz Dritter Weg vs. Deutsche Einheit.

Der Preis der Freiheit hieß Einheit

Eine reformierte DDR wäre ein wirtschaftlich desolater Staat mit sowjetischer/russischer Truppenpräsenz geblieben. Kein Grundgesetz der Welt hätte der alten Bundesrepublik gestattet, tausende Milliarden in den Aufbau-Ost eines anderen deutschen Staates zu transferieren. Auch hätte die Bundesrepublik nicht den Abzug der sowjetischen/russischen Besatzungstruppen gelöhnt. Die DDR jedenfalls hätte dies alles nicht aus eigener Kraft stemmen können (siehe hierzu: Deutsche Einheit, warum?). Spätestens die nächsten Volkskammerwahlen 1994 hätten der alten Garde, wieder im Verbund mit der anhaltenden russischen Truppenpräsenz, sehr viel Macht gegeben. Die DDR wäre schon längst kein Hort der Freiheit mehr. Hirngespinste? Vorsicht!

Solche Überlegungen hatten 1989/90 längst nicht alle Akteure in und außerhalb der Kirchen, auf den Straßen und Plätzen, an den Runden Tischen so angestellt. Die Gefahr eines weiteren zum Scheitern verurteilten Experiments in Ostdeutschland war eine Zeit lang virulent. Auch, weil diese Möglichkeit vielen in Westdeutschland, die uns Ostdeutschen von Herzen sozialistische Experimente gönnten, sich diese aber nicht selbst nicht zumuten wollten, entgegen kam.

Zu spüren war das alles sehr deutlich. Als ein regelmäßiger Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen ging es mir damals um einen sehr schnellen Weg zur Deutschen Einheit. Niemand konnte voraussagen, wie lange Gorbatschow sich an der Macht halten würde (der erwartbare und glücklicherweise fehlgeschlagene Putsch kam im August 1991), wie lange wir die Chance haben würden, uns der DDR, der Diktatur des Proletariats, der SED und ihres ausführenden Organs MfS sowie der sowjetischen Truppen dauerhaft entledigen zu können.

Das alles war nur über die Deutsche Einheit zu realisieren. Sie bot uns Schutz in der EU und im westlichen Militärbündnis, Rückabwicklungsbemühungen à la Krim 2014 waren für immer ausgeschlossen. Der russische Bär musste fortan 1000 km weiter östlich brummen. Das war und ist gut so! Hier sollten endlich auch die westdeutschen ihren ostdeutschen Mitbürgern dankbar sein.

Die Deutsche Einheit brauchten wir auch aus einem zweiten Grund. 2,3 Millionen SED-Mitglieder, vierhunderttausend Blockparteiangehörige, hunderttausende haupt- und ›ehrenamtliche‹ Stasileute waren in der Gemeinschaft von 82 Millionen Mitbürgern einfach besser aufgehoben und auf ihren Minderheitsplatz gesetzt als unter nur 16 Millionen Deutschen, die nicht einmal die Kapazitäten zu wirtschaftlichem Aufstieg auf ihrer Seite vorweisen konnten.

Rote Linie plus Dialog

Last but not least. Das vereinigte Deutschland ist der freieste Staat, der jemals innerhalb der deutschen Grenzen existierte und gehört mit seiner Wirtschaftskraft zu den friedlichen großen Lokomotiven weltweit. Ich bin stolz, ein Bürger dieses demokratischen Gemeinwesens zu sein.

Umso fragwürdiger ist ein Teil der allgemeinen Stimmungslage hinsichtlich der Putinschen Aggressionspolitik in Osteuropa. Die Ostdeutschen entschieden sich 1990 für die Sicherheit in der Einheit. Denselben Wunsch der Polen, Balten, Ukrainer, Rumänen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Bulgaren nach gesicherter Freiheit, nach selbstbestimmten Bündnissen nehmen viele Ostdeutsche dagegen scheinbar nicht ernst.

Zuerst sollen die östlichen Nachbarn still halten und den Bären nicht reizen. Das ist von chauvinistischer Tendenz und strotzt vor Gleichgültigkeit. Unsere Freiheit ist uns wichtig, Putins Damoklesschwert über unseren Nachbarn, denen wir auch unsere Freiheit zu danken haben, nehmen wir um unserer Ruhe willen im gleichen Atemzug hin? Das darf nicht sein! So wie Helmut Schmidt mit seiner Standhaftigkeit in der Nachrüstung durch den Verlauf der Geschichte bestätigt wurde, genau so müssen wir heute zu Putin sagen: ›Bis hierher und nicht weiter!‹ Rabauken und Imperatoren ist anders nicht beizukommen.

Gleichzeitig ist natürlich der Dialog mit dem Kreml zu führen. Das hatte der andere große Sozialdemokrat Willy Brandt mit seiner Ostpolitik erfolgreich vorgemacht. Vertrauen plus rote Linie waren zu Zeiten Brandts, Schmidts und Kohls (der die Ost- und Sicherheitspolitik seiner Vorgänger fortführte) wesentliche Eckpfeiler deutscher Politik, sie müssen es beide gleichermaßen auch zukünftig sein – allerdings nicht wie es bei vielen sogenannten ›Putinverstehern‹ zu beobachten ist, über unsere Nachbarn hinweg.

Wer zu DDR-Zeiten in eine Blockpartei eintreten wollte, musste erleben, dass die Blockpartei bei der SED nachfragte, ob der betreffende Eintritt möglich und erlaubt sei. Untertänig, aber wahr. Auf die heutige Situation bezogen heißt das, keine Regierung darf den Kotau machen und in Moskau nachfragen, ob und wie mit Regierungen Ost- und Mitteleuropas zu reden und zu arbeiten sei. Putin muss realisieren, dass sich unsere Nachbarvölker nicht zu Moskaus Kronjuwelen rechnen und wir dies ebenfalls nicht zu tun gedenken. Das kann nicht zu viel verlangt sein. Diese Völker leben in völkerrechtlich unabhängigen Staaten. Moskaus Brille ist Moskaus Brille, nicht die Brille der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion!

Als Ostdeutscher bin ich ganz froh, mit Merkel und Gauck zwei Ostdeutsche an der Spitze der Bundesrepublik im Konfliktfeld mit Putin zu wissen. Weil beide sehr gut einschätzen können, mit wem wir es in Moskau zu tun haben. An dieser Einschätzung in diesem konkreten Punkt ändert auch die traurige Tatsache nichts, dass es vor allem Frau Merkel war, die in einer anderen Situation Deutschland mitsamt der EU in ihre schwierigste Situation bislang schlingern ließ. Die Dublin-Vereinbarungen im Politbürostil ohne die vorherige Zustimmung des höchsten deutschen Parlaments außer Kraft zu setzen und gleichzeitig zu postulieren, unsere Grenzen seien nicht kontrollierbar, zeigte ein außerordentlich selbstherrliches Staats- und Politikverständnis. Hochmut kommt vor dem Fall.

Lebensweg eines Autokraten

Zurück zu Putin und dessen Agieren. Der Wandel vom ›lupenreinen Demokraten‹ zum plötzlichen Aggressor konnte nicht überraschen. Das einzig Überraschende daran war, dass das Nichtverständnis dieses Bilderwechsels vornehmlich im alten Westen eher hilflose Erklärungsmuster zutage förderte. So mancher Zeitgenosse diagnostizierte Irrationalität beim KGB-Mann in Moskau. Dabei ist Putin das ganze Gegenteil von irrational oder nicht berechenbar. Genau deshalb wollten Leute wie ich 1989/90 ganz schnell in den schützenden Schoß von EU und NATO: Weil wir wussten, wozu die Kreml-Herrscher immer in der Lage sein werden. Die Blutvergießen von 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der CSSR, 1991 im Baltikum bleiben immer präsent. Ab und an lohnt der Versuch, sich in die Personen, mit denen man in Konflikt liegt, hineinzuversetzen. Bei Putin gelingt das Ostdeutschen mit ihrer speziellen Lagererfahrung sicherlich etwas leichter als dies Westdeutschen zu gelingen vermag.

Putin ist nicht irrational. Er ist ausgesprochen gut zu verstehen. Man muss nur den Mumm haben, die inhumane Geschichte von Tscheka/KGB etc. so aufzunehmen, wie sie war/ist: menschen- und freiheitsfeindlich. Dann muss man sich einen kleinen Russen inmitten der Kriegshölle in Rußland vorstellen, der eines besonders lernen musste: Ich überlebe oder du überlebst. Nun noch ein bisschen stalinsche Verschwörungstheorie über den Westen und seine Demokratie plus das Benehmen eines Raufbolds in der Straßenbahn, dem niemand Einhalt gebietet - und schon können wir uns ausrechnen, was er fühlt, wenn 100.000 Leute gegen ihn in Moskau demonstrieren und sich westeuropäische Politiker unter den Demonstranten befinden: Der Raufbold bekommt Panik, sieht sein System unter Wasser und die Verschwörungstheorien bestätigt. Jetzt genügt ein Blick in die russische und sowjetische Repressionsgeschichte und alles Weitere ist vorausschau- also berechenbar.

Für Menschen wie Putin ist Demokratie ein einziges Durcheinander mit ständig wechselnden Unwägbarkeiten. Dass Wahlen nicht getürkt werden, entzieht sich seinem Grundverständnis. Würde Merkel abgewählt, hätte sie aus seiner Sicht wohl irgendwo irgendetwas nicht richtig geregelt. Er nimmt das demokratische Prinzip nicht ernst und hält es ganz klar für ein Potemkinsches Dorf. Das sollte man grundsätzlich wissen. Er reagiert wie alle Autokraten nur auf klare Zwänge und Handlungskorridore. Vielleicht gelingt der westlichen Welt mit dem neuen US-Präsidenten Trump das Aufzeigen eines neuen Korridors? Stichworte sind Respekt und Zutrauen in die tatsächliche Handlungsfähigkeit und -bereitschaft der westlichen Welt (die Handlungsfähigkeit Putins hat dieser in jüngster Zeit bereits auf der Krim, in der Ukraine und in Syrien unter Beweis gestellt) und das beidseitige Anerkennen roter Linien.

Arrangiert Euch!

Es liegt aktuell an Trump (nur den nimmt Putin derzeit innerhalb des westlichen Bündnisses noch wirklich ernst), die NATO-Außengrenzen unmissverständlich zu garantieren – seine rote Linie!

Im Gegenzug muss der künftige US-Präsident Putins rote Linie akzeptieren, die da wohl heißt: keine weiteren Staaten in die NATO (EU). Für die Ukraine könnte dies eine Art Österreich-Lösung bedeuten. Der Preis wäre hoch. Die Krim-Annexion müsste vom Westen geschluckt und der Ukraine aufgezwungen werden.

Noch können Trump und Putin gegenseitig rote Linien akzeptieren. Noch ist der gegenseitige Respekt dieser zwei Männer groß genug.

Hilfreich wäre es, die EU würde sich auf der Basis ihrer neuen Kräfteverhältnisse Brüssel – ›alte‹ westeuropäische Hauptstädte – Südosteuropa – Visegrad-Staaten – Großbritannien endlich konsolidieren und sich mit der neuen Administration in Washington tragfähig arrangieren!

Auch diese Sprache würde Putin gut verstehen. Ein erkennbar konsequent einig handelnder Westen würde Putins Fähigkeit Korridore anzuerkennen entgegenkommen. Das gilt alles erst recht für die die Situation im Nahen Osten. Auch hier muss sich die neue US-Administration mit dem Assad-Stützer Putin auf eine Lösung verständigen. Die Präsenz Rußlands in Syrien ist wohl nicht zurückzurollen.

Der Preis für diese Realitätsanerkennung müsste Putins Verzicht auf Assad sein. Es wäre ein erster Schritt.

(Die Verwendung der alten Schreibweise Rußland ist beabsichtigt)