von Peter Brandt
Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur gehört heute, wenig bestritten, zum Kernbestand der nationalen Identität Deutschlands. Zweifellos stellte der Nationalsozialismus für beide deutsche Staaten bis zur Wende von 1989/90 den wichtigsten negativen historischen Bezugspunkt dar. Mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Interpretationen war die Zeit zwischen 1933 und 1945 stets präsent, Politik und Gesellschaft definierten sich geradezu mit Bezug auf die Negativfolie des Dritten Reiches. Auch im wiedervereinigten Deutschland ist von einem Ende dieser permanenten Konfrontation nichts zu spüren, im Gegenteil, der vor zwei Jahren begangene 60. Jahrestag des Kriegsendes hat in der politischen und medialen Öffentlichkeit eine Fülle von Gedenkveranstaltungen, Buchveröffentlichungen und Filmdokumentationen mit sich gebracht, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen.
Inzwischen ist die Auseinandersetzung Nachkriegsdeutschlands mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit selbst zum Gegenstand historischer Forschung geworden. Allerdings ist der gesicherte Kenntnisstand für die Bundesrepublik diesbezüglich deutlich besser als für die DDR. Die gegenseitige Herausforderung der beiden Teilstaaten im Hinblick auf den Antinazismus ist ein unverzichtbares Element der Analyse der doppeldeutschen Nachkriegsgeschichte.
Zunächst einige thesenartige Bemerkungen zum Verhältnis des Nationalsozialismus zum deutschen Volk: Der Nationalsozialismus, unterstützt von faschistischen Strömungen und Regierungen in anderen Ländern, war eine mit modernsten Mitteln betriebene Rebellion gegen die abendländische Zivilisation. Er war ein Rückfall in die Barbarei auf dem sozialökonomischen Fundament einer hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaft. Die Spannbreite des europäischen wie des deutschen Widerstands zwischen Konservativen und Kommunisten wie auch der Koalition der Kriegsgegner Deutschlands ist letzten Endes darauf zurückzuführen.
Die militärische Niederringung der Hitler-Diktatur und ihrer Verbündeten bedeutete nicht nur die Befreiung der Völker Europas von dem zügellosen Terror der neuen Herrenmenschen, von nationaler, sozialer, politischer und kultureller Unterdrückung. Der alliierte Sieg im Mai 1945 befreite auch die Deutschen selbst von einem Schreckensregime, das erhebliche Teile der eigenen Bevölkerung zu Komplizen machte, aber zugleich das Volk vollständig entmündigte und damit als nationale Willensgemeinschaft auflöste. Im demokratischen Sinn des Wortes zerstörte der Nationalsozialismus die deutsche Nation, statt sie zu retten – und zwar lange, bevor der Name Deutschlands weltweit Hass auf sich zog und das Großdeutsche Reich auf den Schlachtfeldern zugrunde ging. Nachdem einheimische Kräfte nicht imstande gewesen waren, Hitler zu stürzen, wurde die Eroberung und Besetzung Deutschlands zur Voraussetzung für die Korrektur einer monströsen Fehlentwicklung auch in geistig-moralischer Hinsicht.
Das stimmt natürlich nur auf einem hohen Abstraktionsniveau, und es blendet die Erfahrungen der meisten deutschen Menschen weitgehend aus. Gewiss, für die KZ-Insassen, für die ausgegrenzten und verfolgten Minderheiten, für die Inhaftierten und Illegalen, für Oppositionelle wie klassenbewusste Arbeiter und gläubige Christen beider Konfessionen brachte das Frühjahr 1945 buchstäblich die Befreiung, teilweise die Rettung vor dem sicheren Tod. Aber die anderen? Ich meine nicht diejenigen (ebenfalls eine Minorität), die durch ihre Stellung oder Überzeugung auf Gedeih und Verderb mit dem Nationalsozialismus verbunden waren, sondern die Masse der Bevölkerung die – großenteils je nach der konkreten Situation schwankend – sich zwischen Mitläufertum und partieller Kritik bewegte.
Manche Bereiche der Gesellschaft waren bis in den Krieg hinein vom Zugriff des »totalen Staates« weitgehend frei geblieben, und es konnte für viele der Eindruck relativer Normalität entstehen, wenn sie dem Regime durch äußerliche Anpassung Tribut zollten, sich ansonsten aber in die Nischen ihres Privatlebens zurückzogen. Zweifellos blieben Unterdrückung und Verfolgung, die sich ja zuerst nach innen gerichtet hatten, nicht verborgen. Die heute gelegentlich anzutreffende Vorstellung, die Mehrheit der Deutschen hätte das Ausmaß und die systematische Natur des Terrors in der Kriegszeit, namentlich die Judenvernichtung, gekannt oder gar bewusst gebilligt, ist unzutreffend und geht an der Realität des nationalsozialistischen Herrschaftssystems vorbei. Damit soll keineswegs die frühere, entlastende Vorstellung wieder aufgewärmt werden, eine kleine Gruppe von Fanatikern und Sadisten habe lediglich wie eine Gangsterbande zeitweise die im wesentlichen moralisch intakt gebliebene bürgerliche Gesellschaft okkupiert; denn erheblich mehr Menschen wussten erheblich mehr, als sie sich und anderen nach Kriegsende eingestanden, und ordentliche, unpolitische Angehörige des Heeres und der Besatzungsverwaltung leisteten in großer Zahl Hilfsdienste für die Mordaktionen.
Wer die diffuse und vielfach widersprüchliche Haltung der deutschen Bevölkerung nach 1945 verstehen will, muss sich nicht nur den Einfluss von Terror und Manipulation vergegenwärtigen, sondern auch die Leidenserfahrungen der nichtjüdischen Deutschen. Sie bildeten jetzt eine Haftungsgemeinschaft – unabhängig davon, ob und in welchem Maß sie als Individuen, Altersgruppen oder soziale Klassen den Nationalsozialismus gestützt hatten.
Wie auch immer im einzelnen begründet: Die Schrecken der Bombennächte von Hamburg über Berlin und Dresden bis Stuttgart, die Flucht und die alles andere als »in ordnungsgemäßer und humaner Weise« (Potsdamer Abkommen) vor sich gehende Aussiedlung der östlich von Oder und Neiße lebenden Deutschen, die Übergriffe von Angehörigen der vorrückenden alliierten Truppen, namentlich der Roten Armee, gegen die Zivilbevölkerung, der Leidensweg vieler Kriegsgefangener, nicht nur im Osten, Hunger, Besatzungsherrschaft und Teilung – alles das waren reale Erfahrungen von Menschen, die ganz überwiegend keine persönliche Schuld traf. In einem vermittelten und zugegebenermaßen nicht unproblematischen Sinn waren auch sie Opfer des Nationalsozialismus und nicht lediglich Kriegsopfer.
Diese damit angedeuteten Erlebnisse konnten zu einer kritischen Besinnung führen: Gab es ein vernichtenderes Urteil über einen Führer, eine Partei und ein Regime als die europäische und eben auch nationale Katastrophe, die 1945 offenbar wurde? In der Regel bewirkten die erwähnten Kriegs- und Nachkriegsereignisse jedoch eher eine Fixierung auf die eigenen Leiden, eine reflexartige Aufrechnung des Unrechts, eine trotzige Abwehr bohrender Fragen. Für die Masse des Volkes wurde es erst mit der Zeit möglich, das volle Ausmaß des Geschehenen zu erfassen.
Der mentale Zustand der Mehrheit des deutschen Volkes, wie schon angedeutet: eher als Verwirrung denn als komplette Nazifizierung zu bezeichnen, war also eine der Bedingungen, die die Alliierten und die deutschen Hitlergegner 1945 vorfanden; eine zweite war der sich schon bald zuspitzende Ost-West-Konflikt. In den Bemühungen der USA um die kapitalistische Rekonstruktion Westeuropas im Rahmen der Erneuerung eines liberalisierten Weltmarkts kam den Westzonen Deutschlands ein zentraler Stellenwert zu. Ohne eine westdeutsche Staatsgründung unter weitgehender Verwendung der traditionellen Eliten schien das nicht möglich, ebenso wenig der spätere Aufbau der Bundeswehr in der Konfrontation mit der Sowjetunion. Es ist nicht zu übersehen, dass der irrationale Antibolschewismus der deutschen Rechten aus der Zeit bis 1945 – zwar inhaltlich verändert, aber in seiner Intensität kaum gebrochen – im Kalten Krieg seine Fortsetzung fand. Die scharfe Gegnerschaft zum Sowjetkommunismus seitens eines breiten politischen Spektrums galt unter der Fahne des Antitotalitarismus geradezu als Beherzigung der Lehren aus der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass die Bereitschaft der westdeutschen Gesellschaft, sich konsequenter ihrem nationalsozialistischen Erbe zu stellen, mit der zögernd beginnenden Entspannung zwischen den Blöcken während der 1960er Jahre zunahm.
Weniger bekannt dürfte sein, dass es für den gerade erwähnten Mechanismus eine ostdeutsche Entsprechung gab. Zwar wurde die soziale Herrschaft der alten Eliten einschließlich der Großgrundbesitzer und des Großkapitals in der Sowjetzone schon im ersten Nachkriegsjahr gebrochen, und eine radikale Personalsäuberung erfasste sämtliche Ebenen der Öffentlichen Dienste – die Maßnahmen wurden antifaschistisch begründet –; doch begannen auch im Osten schon 1946 gezielt Bemühungen um die vielen Mitläufer des »Dritten Reiches« einschließlich einfacher Mitglieder der NSDAP und sogar um frühere Funktionsträger, wenn sie bereit waren, sich auf die Seite des »Weltfriedenslagers« zu stellen. 1948 wurde für ehemalige Wehrmachtsoffiziere und Nationalsozialisten in Ostdeutschland sogar eine eigene Partei gegründet: die Nationaldemokratische Partei Deutschland (natürlich unter Anerkennung der führenden Rolle der kommunistischen SED). Gleichzeitig entfaltete der ostdeutsche Propaganda-Apparat in den Jahren um 1950 eine ungezügelte nationalistische Kampagne gegen die Westalliierten, ihre Auftragsverwaltungen und dann gegen die westdeutschen Staatsorgane sowie die großen politischen Parteien des Westens.
Man kann die Auseinandersetzung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus grob in verschiedene Etappen einteilen, die mit einer allgemeineren politisch-gesellschaftlichen Periodisierung gut in Einklang zu bringen sind: 1) die Viermächte-Kontrolle in den Jahren 1945 bis 1949, 2) die Gründung und Formierung der beiden deutschen Separatstaaten bis in die frühen 60er Jahre, als die Teilung Deutschlands mit dem Bau der Berliner Mauer (als »antifaschistischer Schutzwall« deklariert) definitiv befestigt wurde, 3) die Konsolidierung der Zweistaatlichkeit und der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bei beginnender Jugendradikalisierung in der Bundesrepublik in den 60er Jahren über die Regierungswechsel um 1970 (sozialliberale Regierung Brandt im Westen, von Ulbricht zu Honecker im Osten) zur weltpolitischen und zwischendeutschen Entspannungsdekade während der 70er Jahre bei gleichzeitig verstärkten jeweiligen innerstaatlichen Konflikten. 4) Daran schließt sich an eine bis heute andauernde Phase, in der Deutschland seine staatliche Einheit wieder fand und sich manche Fragen neu stellten. In der ersten Phase, unmittelbar nach Kriegsende, lag das Heft des Handelns entscheidend in den Händen der Alliierten. Die Durchführung der Nürnberger Prozesse gegen die NS-Führungselite wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im November 1945 begannen, zählen ebenso dazu wie die groß angelegten Entnazifizierungsmaßnahmen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft sowie die Internierung von NS-Parteifunktionären und SS-Mitgliedern.
Fanden zum Beispiel die Nürnberger Prozesse ganz zu Anfang noch einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung, gingen unmittelbar nach Kriegsende noch zahlreiche Anzeigen aus der Bevölkerung ein gegen Personen, die man NS-Verbrechen für schuldig hielt, setzte doch bald eine gewisse Entnazifizierungsmüdigkeit ein. Die Kritik an den Siegermächten basierte zum Teil auf der Praxis der massenhaften Überprüfungen, bei denen es zwangsläufig auch zu Ungerechtigkeiten kam; sie setzte zudem an der Tatsache an, dass angesichts der schieren Masse die Säuberungstätigkeit (nämlich eine ganze Bevölkerung individuell im Hinblick auf ihre politischen Aktivitäten während der NS-Herrschaft zu untersuchen und gegebenenfalls zu bestrafen) auf halbem Weg stecken blieb. Während die vorgezogenen »leichteren« Fälle noch in den mit Beteiligung deutschen Personals speziell eingerichteten Spruchkammerverfahren abgeurteilt wurden, kamen die zunächst zurückgestellten Fälle der Schwer- und Schwerstbelasteten gar nicht mehr zur Verhandlung. Die »Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen«, war bald der Kommentar zu den Säuberungsanstrengungen der Alliierten, wobei die Auffassungen, was ein »großer« und ein »kleiner Nazi« gewesen sei, nicht einheitlich waren. Für Kommunisten und auch Sozialdemokraten ging es, neben den Leuten des NS-Partei- und des Verfolgungsapparats, auch um Angehörige staatlicher und gesellschaftlicher Führungspositionen, selbst wenn sie persönlich nicht für Verbrechen verantwortlich gemacht werden konnten. Doch die Kritik an der westalliierten Entnazifizierung umfasste alle politischen Lager.
Die allgemeine Kritik führte bald zu einer Massensolidarisierung der so genannten Leichtbelasteten und sogar völlig Unbelasteter; es dauerte nur einige Jahre, bis die Säuberungsmaßnahmen der Alliierten unter Generalverdacht standen und als aufgezwungene Siegerjustiz bzw. Siegerunrecht interpretiert wurden. Im April 1948 beklagte ein Bericht des amerikanischen Geheimdienstes eine insbesondere auch von den beiden christlichen Kirchen getragene Kampagne, wonach die Entnazifizierung »eine grausame Verfolgung« sei, die selbst naziähnliche Methoden anwende, indem sie Menschen den Prozess mache und sie in »Konzentrationslagern« gefangen halte.
Neben den Prozessen der Alliierten gegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von denen die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Führung und die sich anschließenden Folgeprozesse sicherlich am stärksten wahrgenommen wurden, gab es schon seit 1945 unmittelbar nach ihrer Wiedereinrichtung auch deutsche Gerichte, die NS-Strafsachen ahndeten. Die Zuständigkeit deutscher Strafgerichte beschränkte sich nach alliierter Kontrollratsdirektive zunächst auf sowohl in personeller als auch in räumlicher Hinsicht innerdeutsche Straftaten. Es wurde eine Reihe von Verfahren durchgeführt, die sich mit Vorgängen um den sog. Röhmputsch, d. h. das Massaker gegen die SA-Führung und andere im Sommer 1934, mit der großen Pogromnacht gegen die Juden am 9. November 1938, mit der organisierten Tötung von Geisteskranken, mit Vorgängen in Konzentrationslagern und mit Denunziationen befassten. Später konnten mit Genehmigung der Besatzungsmächte auch solche Fälle vor deutschen Gerichten behandelt werden, in denen sich die Taten gegen Staatsangehörige der Alliierten gerichtet hatten. Erst 1955 mit dem Erlangen der (Teil-)Souveränität entfielen die letzten Beschränkungen der juridischen Zuständigkeit.
Für die Westzonen belegen Studien für die Jahre bis Ende 1949 zunächst beachtliche Erfolge in der justiziellen Selbstreinigung, jedenfalls quantitativ. Insgesamt wurden in der amerikanischen, britischen und französischen Zone von deutschen Gerichten bis zu diesem Zeitpunkt rund 4.400 NS-Täter rechtskräftig verurteilt; die Zahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren lag bei 13.600. Doch auch in dieser Periode wurde trotz des erkennbaren Ahndungswillens bei der deutschen Justiz ein inneres Widerstreben deutlich, das meist mit der Problematik rückwirkender Gesetzesanwendung begründet wurde und sich in freisprechenden Urteilen oder auch zögerlicher Verfahrensführung ausdrücken konnte.
In der Sowjetischen Besatzungszone gab es diese Bedenken nicht. Das Problem bestand dort darin, dass – wie die antifaschistischen Maßnahmen insgesamt – auch die Strafverfahren gegen tatsächliche oder vermeintliche NS-Verbrecher hauptsächlich der Festigung der neuen Ordnung dienten und von Anfang an mit der Bekämpfung politischer Gegner – bis hin zu oppositionellen Kommunisten – verquickt wurden. In der Sowjetzone bzw. der DDR wurden in NS-Strafsachen bis 1950 etwa 8.300 Urteile gesprochen, darunter etwa 50 Todesurteile. Die danach in den berüchtigten Waldheimer Prozessen ergangenen Urteile wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« nochmals 3.400, darunter 33 Todesurteile, sind insofern höchst anfechtbar, als in diesen als Schauprozessen inszenierten Verfahren der erfolgreiche Abschluss der Abrechnung mit den Untaten des Faschismus signalisiert werden sollte und unter Nichtachtung jeglicher rechtsstaatlicher Grundsätze zahlreiche Fehlurteile verkündet und vollstreckt wurden.
Was die geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus betrifft, so lässt sich für die vier Besatzungszonen Deutschlands während der ersten Nachkriegsjahre nur eingeschränkt von einer systematischen wissenschaftlichen Forschung sprechen. Öffentlich einflussreich waren, neben rein politisch-ideologischen Deutungen, vor allem zwei Bücher: Eugen Kogons Der SS-Staat (zuerst schon 1945 erschienen), und Das Tagebuch der Anne Frank (1949), die bis heute prägend sind für die historisch-politische Bildung. Mit beiden Büchern gerieten aber die Vernichtungsmaßnahmen gegenüber jüdischen Menschen nicht direkt in den Blick: Das Tagebuch der Anne Frank endet vor der Deportation; das Werk Eugen Kogons, eines Linkskatholiken und ehemaligen Häftlings, beschäftigt sich eindringlich mit den Vorgängen in den eigentlichen Konzentrationslagern, die von den meisten Juden aber gar nicht erreicht wurden, weil sie durch Einsatzgruppen erschossen oder direkt in die Gaskammern der Vernichtungslager im Osten geschickt worden waren. Die für uns heute schwer verständliche Herunterstufung des Völkermords an den Juden war übrigens kein spezifisch deutsches Phänomen. Auch bei den Siegermächten und in den ehemals besetzten Ländern dominierte eine Sicht des Judenmords als eines besonders scheußlichen, aber eben doch eines Verbrechen unter anderen.
Phase 2: In den 50er Jahren – und hier ist zunächst von der Bundesrepublik die Rede -, als die Verfolgung und Verurteilung der NS-Vergehen fast vollständig in die Zuständigkeit der deutschen Behörden und Gerichte übergegangen waren, ging dann auch die Anzahl der Verfahren drastisch zurück. Eine geringe Zahl von Vorgängen, die vor den Gerichten überhaupt zur Verhandlung kamen, milde Urteile und Strafamnestien prägten diese Periode. Gründe dafür, warum dieser Einbruch bei der gerichtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen in den 50er Jahren erfolgte, sind im politisch-gesellschaftlichen Feld zu suchen. Zum einen ist festzustellen, dass die Verfahren in den Jahren zuvor zumeist aufgrund von Anzeigen in Gang und mithilfe von Belastungszeugen zur Verurteilung kamen. Nun ging die Zahl der Anzeigen aus der Bevölkerung drastisch zurück. Die Entnazifizierungsmüdigkeit, die in der Bevölkerung schon bald erkennbar wurde, schlug auf die Gerichtsverfahren durch. Sie prägte das Verhalten der Zeugen. Im Geflecht der nachbarlichen Beziehungen stehend, scheute man sich in zunehmendem Maße, ehemalige Nationalsozialisten, mit denen man ansonsten nachbarlich oder kollegial zu verkehren hatte, vor Gericht zu belasten. Die allgemeine Schlussstrichmentalität, die auf ein Ende der NS-Verfahren gerichtet und mit der Überzeugung verbunden war, dass das Gros der Täter nun bestraft sei, konnte die Besorgnis verstärken, sich mit einer belastenden Zeugenaussage oder gar einer Anzeige ins gesellschaftliche Abseits zu stellen.
Weiterhin spielte natürlich das Verhalten der Justiz selbst eine wichtige Rolle. Viele Richter waren nach 1945 nahtlos übernommen worden. In dieser personellen Kontinuität muss man einen wichtigen Grund für mangelnde Initiative und mangelndes Engagement des Justizapparates sehen. Berücksichtigt werden müssen aber noch weitere Faktoren. Mit dem oben erwähnten Ausbleiben der Anzeigen hätte sich der Schwerpunkt der Verfolgungsaktivitäten auf die Staatsanwaltschaften verlagern müssen. Hier gab es jedoch vielerlei Hemmungen: Unklarheiten über die Zuständigkeiten (Frage des Gerichtsortes), Arbeitsüberlastung sowie schlichtweg Unkenntnis über die komplexe Sachlage. Auch die Zugänglichkeit wichtiger Akten, die sich zum großen Teil in osteuropäischen Archiven befanden, war nicht gewährleistet, wurde lange Jahre von der Bundesregierung auch nicht eingefordert. Zudem reichte die historische Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten oft zunächst nicht aus, um die Dimensionen der NS-Verbrechen erfassen zu können. Man musste zum Beispiel das Kompetenzgeflecht innerhalb der SS und ihre Befehlsstränge, die Abgrenzung zwischen Wehrmacht und Partei genau kennen, um die Tatkomplexe strafrechtlich angemessen zu interpretieren.{mospagebreak}
Die Zurückhaltung der Justiz hätte nur überwunden werden können, wenn ein energischer Wille der Politik spürbar gewesen wäre. Doch diese setzte in den 50er Jahren andere Signale. Mit den Forderungen nach einem Schlussstrich unter die Ahndung von NS-Verbrechen waren mehrere Kampagnen und Initiativen zur Begnadigung schon verurteilter »Kriegsverbrecher« verbunden, die von den Koalitionspartnern in der christdemokratisch geführten Adenauerregierung, der national-konservativen Deutschen Partei und der rechtsliberalen FDP, betrieben wurden. Beachtenswert ist dabei der Begriff »Kriegsverbrecher», unter dem bald alle NS-Verbrecher firmierten, egal ob ihre Taten in Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen gestanden hatten oder ob es sich dabei um Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen systematischer Tötung von Menschen z. B. in Vernichtungslagern gehandelt hatte. Als »Kriegsverbrecher« – unter den Deutschen zunehmend neutral als »Kriegsverurteilte« bezeichnet – wurde dann auch eine Reihe von durch die Alliierten verurteilten Tätern auf Drängen der deutschen Gnadenlobby amnestiert. Dazu zählten auch ehemalige Wehrmachtsgeneräle, die die Amnestie als Voraussetzung für den deutschen Wehrbeitrag, also die dann 1955 gegründete Bundeswehr, ansahen. Ein wichtiges Indiz für die veränderte Mentalität war die Verabschiedung des Gesetzes betreffend Art. 131 des Grundgesetzes im Jahre 1951, das die Versorgung und Wiedereinstellung der im Rahmen der Entnazifizierung »verdrängten« Beamten in den Staatsdienst regelte, sowie die Straffreiheitsgesetze aus den Jahren 1950 und 1954, die unter bestimmten Bedingungen eine Amnestie auch für untergetauchte NS-Funktionäre zusicherte.
Entnazifizierung und Nürnberger Prozesse wurden in den 50er Jahren weithin als Ausweis bereits empfangener Sühne und Strafe angesehen, wobei die offenbaren Ungerechtigkeiten, vor allem des Entnazifizierungsverfahrens, als Beleg für die Verfehltheit des gesamten Vorhabens dienten und das dabei begangene »Unrecht« mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gewissermaßen verrechnet wurde. Solche pauschalen Exkulpationsversuche waren jedoch stets verbunden mit einer grundsätzlichen und ernst gemeinten Absage an den Nationalsozialismus, wobei allerdings der Bedeutungsgehalt dieses Begriffs sich immer mehr verengte und schließlich nicht selten auf eine Handvoll NSDAP- und SS-Führer beschränkte. Nicht zuletzt die Aufklärungsmaßnahmen der Alliierten hatten zu einer Verdammung, doch auch zu einer Art Tabuisierung des Nationalsozialismus als Herrschaftssystem geführt. Mit dieser Tabuisierung ging ein Prozess der Abstrahierung und Entwirklichung der NS-Vergangenheit einher. Man konnte sich in der Öffentlichkeit mit einem gewissen Pathos mit einem klaren »Nie wieder« gegen die vergangene Gewaltherrschaft aussprechen, ohne sich mit konkreten Opfern und wirklichen Menschen zu befassen. Diese Entwirklichung der Erfahrungen von Opfern wie Tätern, wie der vielen anderen, die ja weder das eine noch das andere waren, ließ schließlich alle Beteiligten mit ihren individuellen Erfahrungen alleine. Gewiss gab es auch Gegenströmungen, etwa bei den Schriftstellern der Gruppe 47, aber insgesamt gelang es, auch auf Seiten der früheren Widerstandskämpfer und politischen Flüchtlinge, nicht, eine Öffentlichkeit zu schaffen, die die individuellen Erfahrungen der Vielen, die nolens volens in das Regime eingebunden gewesen waren, etwa als Soldaten, mit einer gesellschaftlichen Diskussion über Nationalsozialismus und Krieg zu verknüpfen.
Die antifaschistische Haltung der SED geriet in den 50er Jahren noch mehr in Misskredit als zuvor, weil die volle Etablierung der sowjetkommunistischen Ordnung mit der letzten Verfolgungswelle der Stalin-Epoche zwischen 1949 und 1953 einherging, die nicht zuletzt vom sog. Antizionismus gespeist wurde, der sich vor allem gegen jüdische Spitzenfunktionäre der SED richtete. Wenngleich die ostdeutschen Kommunisten relativ zurückhaltend operierten und keine Schauprozesse wie in Budapest gegen Rajk und in Prag gegen Slansky inszenierten, waren die Muster der Propaganda und des innergesellschaftlichen Agierens die gleichen. Die SED-Führung unter Walter Ulbricht geriet nicht nur in Konflikt mit den jüdischen Gemeinden; sie wandte sich vor allem gegen die radikal-antifaschistische und zugleich in gewisser Weise gesamtdeutsch-nationalkommunistische Linie der mitgliederstarken »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes«, wie sie etwa von dem Westemigranten Franz Dahlem vertreten wurde. Gegen Dahlem und die VVN setzte Walter Ulbricht seine Linie der breiten Integration der Masse der Bevölkerung einschließlich der früheren Nationalsozialisten und seine faktisch separatstaatliche Orientierung auf die später so genannte »sozialistische Menschengemeinschaft« der DDR durch. Psychologisch ging es um ein Angebot an die ostdeutsche Bevölkerung, sich über das Bündnis mit der Sowjetunion nachträglich kollektiv auf die Seite der Besieger des Faschismus zu stellen. Als Richtschnur diente über alle Wendungen hinweg die Definition des Faschismus als die »offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« durch die Kommunistische Internationale vom Dezember 1933, eine Definition, die es ermöglichte, den Kreis der Schuldigen sehr eng zu ziehen – ähnlich wie es in der Bundesrepublik, wenn auch nach ganz anderen Kriterien, geschah.
Auch auf der Ebene der beginnenden fachhistorischen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus gab es eine bemerkenswerte Parallele zwischen Ost und West: Das Interesse galt erstens dem Polizei- und Verfolgungsapparat, der SS und der Sicherheitspolizei, und zweitens dem deutschen Widerstand gegen Hitler, wobei in der DDR der (vor allem kommunistische) Arbeiterwiderstand, in der Bundesrepublik der bürgerlich-konservative und militärische Widerstand im Zentrum standen. Beide Forschungsinteressen waren geeignet, pauschalen Schuldzuweisungen an das deutsche Volk begründet zu widersprechen, indem die Existenz eines »anderen Deutschland« und zudem die Wirksamkeit des SS-Terrors empirisch nachgewiesen wurden.
Zur Phase 3, den 60er und 70er Jahren: In einer Hinsicht begann diese schon 1958, als sich die westdeutschen Bundesländer auf die Gründung einer Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg einigten. Die Aufnahme der Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle läutete seit Beginn der 60er Jahre eine Wende in der Praxis und der öffentlichen Wahrnehmung des Umgangs mit den NS-Tätern ein. Schon der 1961 in Jerusalem beginnende Eichmann-Prozess erregte große Aufmerksamkeit in den deutschen Medien. Die Erneuerung des Ahndungswillens kam in Westdeutschland dann im großen Frankfurter Auschwitz-Prozess der Jahre 1963–1965 am eindrucksvollsten zum Ausdruck, für den die Vorermittlungen 1959 seitens der Ludwigsburger Zentralstelle begonnen hatten. Nicht zuletzt dem unermüdlichen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war es zu verdanken, dass hier das System der Konzentrationslager, die Einsatzgruppen der SS und die nationalsozialistische Judenpolitik einer breiten deutschen Öffentlichkeit vor Augen geführt werden konnten.
Zwar gab es an Verfahren und Urteilsmaß auch Kritik. Doch muss hier deutlich gemacht werden, vor welchen praktischen Schwierigkeiten der Justizapparat stand: Der Nachweis der unmittelbaren Täterschaft, die komplexen Verflechtungen der beteiligten SS- und Parteiorgane; die Schwierigkeit der Aktenrecherche in osteuropäischen Ländern, die jetzt allerdings durch die Bundesregierung unterstützt wurde, und schließlich auch die Problematik der Zeugenaussagen von traumatisierten Opfern. Es gehört hierbei sicher zu den dunklen Punkten, dass zum Teil versucht wurde – vor allem von den Verteidigern -, die Glaubwürdigkeit der aus osteuropäischen Ländern stammenden Zeugen zu unterminieren mit der aus der Luft gegriffenen Behauptung, sie hätten überhöhte Gebührenforderungen gestellt oder sich als Zeugengruppe gegen einen bestimmten Angeklagten verschworen. Vor solchen Schwierigkeiten standen die Gerichte auch bei dem in Düsseldorf seit 1975 durchgeführten Majdanek-Prozess. Hier hatte die Einleitung des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens im Februar 1962 begonnen, das Hauptverfahren konnte erste 13 Jahre später eröffnet werden.
Trotz dieser Einschränkungen: Die symbolische Kraft, die gerade vom Auschwitz-Prozess ausging und die Bereitschaft zeigte, sich intensiv mit den NS-Verbrechen auseinander zu setzen, ist nicht zu unterschätzen. Insbesondere der jüngeren Generation wurde durch die intensive Medienberichterstattung erstmals das Ausmaß der Verbrechen und der Verstrickung nicht weniger Deutscher darin vor Augen geführt. Auschwitz wurde von da an zum Synonym für die NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass hiermit eine Wende in der justiziellen Aufarbeitung eingeleitet wurde, kann man auch an gesetzgeberischen Maßnahmen ablesen. Die großen Verjährungsdebatten des Bundestages aus den Jahren 1965, 1969 und 1979, in deren Folge die Verjährungsfristen für Mord im Zusammenhang von NS-Verbrechen verlängert und schließlich aufgehoben wurden, zeugen genauso davon wie die vorzeitige Zur-Ruhesetzung von 149 NS-belasteten Richtern infolge der anstehenden Verabschiedung eines neuen Richtergesetzes im Jahre 1962.
Zum Umschwung in der Vergangenheitspolitik trugen auch die gezielt seitens der DDR eingesetzten biographischen Enthüllungen über hohe Repräsentanten der Bonner Republik bei. Die Kampagnen beispielsweise gegen Hans Globke, den Staatssekretär im Kanzleramt und vormaligen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze von 1935, sowie gegen den nationalsozialistischen Ostexperten und dann zum Vertriebenenminister berufenen Theodor Oberländer verfehlten ihre Wirkung auch insbesondere gegenüber Teilen der westdeutschen akademischen Jugend nicht. Nach der Anerkennung der DDR als eigenen Staat im Zuge der neuen Bonner Ostpolitik ebbte die antifaschistische Propaganda gegen die Bundesrepublik ab; es gab jetzt, zumal in der westdeutschen Regierung, auch immer weniger Anhaltspunkte dafür.
Die Prozesse und die biographischen Enthüllungen trugen dazu bei, dass sich immer mehr Menschen mit der Forderung nach einer »Vergangenheitsbewältigung« identifizierten. Intellektuelle wie Theodor Adorno und Karl Jaspers, aber auch und nicht zuletzt Vertreter der jungen Disziplin der Zeitgeschichte und eine Reihe liberaler Publizisten bemühten sich immer stärker, die Aufklärung über die »jüngste Vergangenheit« voranzutreiben.
Es begann eine an Heftigkeit stetig zunehmende Auseinandersetzung, die während der Studentenrevolte der späten 60er Jahre einen ersten Höhepunkt erreichte. Nun war die Jugend- und Studentenrevolte ja kein spezifisch deutsches, sondern ein internationales Phänomen, bei dem in generationeller Konfrontation die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Erbe der Väter geführt wurde. Die Generation der »68er« in Deutschland identifizierte sich mit den Opfern der NS-Gewaltherrschaft, die sie in gewisser Weise als Opfer der Vätergeneration des Bürgertums deutete. Dass in Westdeutschland die Debatte über die NS-Vergangenheit in den Sog der Studentenbewegung geriet, trug zur Forcierung und Radikalisierung der NS-Debatte bei. Gleichzeitig hat sie diese aber erneut entkonkretisiert und – unter dem Vorzeichen kapitalismuskritischer Theorien – auf die Ebene politischer Systeme und gesellschaftlicher Strukturen gehoben.
Die DDR stellte sich in den 60er Jahren als die konsequent antifaschistische Alternative zur Bundesrepublik: als »den deutschen Antinazi-Staat« dar. Innerhalb ihrer Grenzen bildete sie einen ritualisierten offiziellen Antifaschismus aus, der sich z. B. anlässlich der als Selbstbefreiung dargestellten Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald in Form von Massendemonstrationen und –appellen vor allem der der Jugend ausprägte und engstens mit dem Treuebekenntnis zu Partei und Staat verbunden war. Eine offene innergesellschaftliche Kontroverse über das nationalsozialistische Erbe, ähnlich der in der Bundesrepublik, fand in der DDR bis zu ihrem Ende systembedingt nicht statt. Es waren allenfalls Oppositionelle wie Wolf Biermann, die die personelle Kontinuität der normalen Ostdeutschen hin und wieder thematisierten.
Die historische Forschung zum Nationalsozialismus in der DDR konzentrierte sich neben dem kommunistischen Widerstand vor allem auf solche Aspekte, die den kapitalistischen Charakter des Faschismus unterstreichen konnten wie die Rolle der Großkonzerne und Banken im Zweiten Weltkrieg oder den Einsatz ausländischer Arbeiter in Deutschland. In der Bundesrepublik war inzwischen eine neue Generation von Historikern herangewachsen, die den Nationalsozialismus nur noch als Jugendliche bzw. ganz junge Erwachsene erlebt hatten. Ihr Bedürfnis nach Aufklärung der NS-Verbrechen verband sich mit der Notwendigkeit, präzisere Informationen über Konzept und Struktur der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zu erhalten, die durch die Prozesse deutlich wurden. Vertreter dieser Historikergeneration traten vor den Gerichten auch als Gutachter auf und veröffentlichten ihre Ergebnisse in Buchform. Sie erschienen 1965 unter dem Titel Anatomie des SS-Staates. Die darin enthaltenen Studien von Krausnick über die nationalsozialistische Judenverfolgung und
–vernichtung, von Broszat über das KZ-System, von Buchheim über SS und Polizei sowie von Jacobsen über den Kommissar-Befehl analysierten Motivation, Struktur und Vorgehensweise der NS-Regimeführung eindringlich. 1969 kam aus der Feder Karl Dietrich Brachers eine erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung des NS-Regimes heraus; sein Verdienst war es, dass eine auf mehr und mehr erschlossene Aktenbestände gestützte Forschung der Struktur und Politik des Regimes in Gang kam.
Neben den unverkennbaren Verdiensten sind aber auch Defizite in dieser Forschungsphase zu erkennen. Die Perspektiven der Opfer, vor allem derjenigen, die nicht aus Deutschland kamen, blieben unterbelichtet; man beschränkte sich auf die kleine Gruppe unmittelbarer Täter, also vorwiegend die kleine Führungsgruppe des Regimes um Hitler, Göring, Himmler, Heydrich u.a., während – anders als in der DDR – die Rolle der Industrie, der Wehrmacht, der Verwaltung, der Wissenschaft noch nicht ins Blickfeld geriet. Auch wurde der politisch-ideologische Zusammenhang zwischen Verfolgung und Ermordung der verschiedenen Gruppen von Opfern nur in Ansätzen untersucht. Die Konzentration auf die Spätphase der Weimarer Republik und die Frühphase des NS-Regimes entsprach dem Aufklärungsbedürfnis und sollte die Frage beantworten, wie es dazu kommen konnte. Die Massenvernichtungspolitik der Kriegsjahre wurde dagegen noch nicht intensiv empirisch untersucht.
Phase 4: Seit Beginn der 80er Jahre lässt sich erkennen, dass versucht wird, einige der oben genannten Forschungsdefizite aufzuarbeiten. Die zum Teil schon länger geführten Debatten um Faschismus oder Totalitarismus und Hitlerismus oder Polykratie kreisten nun zunehmend um die innere Struktur des Systems, die Rolle der traditionellen Eliten und die Prozesse der Einscheidungsfindung. Damit wurde das Augenmerk nicht mehr hauptsächlich auf das oberste Führungspersonal gerichtet. Im Streit zwischen verschiedenen Interpretationsansätzen wurde der Blick für die Massenvernichtung geschärft; der Zusammenhang zwischen Judenvernichtung und anderen Massenverbrechen traten ebenso stärker ans Tageslicht wie die Beteiligung diverser Ressorts sowie außerstaatlicher Interessengruppen daran. Wichtig waren u.a. Veröffentlichungen von Martin Broszat und Hans Mommsen. Die Debatte kulminierte in einem Symposion in Stuttgart, dessen Ergebnisse Eberhard Jäckel und Jürgen Rohwer 1985 veröffentlichten (Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, 1985) und schließlich in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen Sammelband Dimension des Völkermordes von 1991, der zu den wichtigsten und umfassendsten deutschen Beiträgen zur Geschichte des Holocaust zählt.
Der sog. Historiker-Streit aus den Jahren 1986/87, der in der westdeutschen Öffentlichkeit stark wahrgenommen wurde, stellte dagegen eher einen Streit um Deutungen als um Forschungsergebnisse dar. Die Infragestellung der »Singularität« der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, also der Einzigartigkeit von Auschwitz seitens des Faschismus-Forschers Ernst Nolte, die dabei eine wichtige Rolle spielte, hat kaum neue empirische Forschungen zum Thema ausgelöst.
Ferner entwickelte sich aus der Kritik an den oft sterilen Debatten über Faschismustheorien in den 80er Jahren eine Hinwendung zum Konkreten und zur Alltagsgeschichte bzw. zur Geschichte von unten. In diesem Zusammenhang, wo es um eine Art Rekonkretisierung und Rehistorisierung ging, kam dem sechsbändigen Werk des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, das unter dem Titel Bayern in der NS-Zeit den Alltag im Dritten Reich erforschte, eine besondere Bedeutung zu. Aber auch Arbeiten verschiedenster lokaler und regionaler Initiativen und Geschichtswerkstätten spielten eine Rolle. Sie richteten den Blick auf die Ebene unterhalb von Führungspersonal und Führererlassen. Hiermit gerieten jetzt auch verstärkt die Opfer in den Blick, und zwar zunehmend alle Opfer. Diese Ansätze fanden in der wachsenden Zahl von Studien zu Behinderten, Kriegsgefangenen, »Asozialen«, Homosexuellen und Sinti und Roma ihren Niederschlag.
Derzeit erleben wir dem NS-Forscher Norbert Frei zufolge den »Abschied von der Zeitzeugenschaft«, der dadurch eingeläutet werde, dass ein immer geringer werdender Teil der deutschen Bevölkerung die Zeit des Nationalsozialismus selbst erlebt hat. Schon 1995 waren 85 % der noch lebenden Bevölkerung zu jung, um während der NS-Herrschaft eine Möglichkeit zur politischen Mitwirkung irgendeiner Art gehabt zu haben. In diesem zunehmenden Wegfall von Zeitzeugenschaft sieht Frei auch Entwicklungslinien in der NS-Forschung begründet, da nun, ungeachtet von individueller Betroffenheit und biographischen Verstrickungen, heikle Themen behandelt werden könnten.
Als positiven Effekt des Nachlassens der Zeitgenossenschaft sieht Frei etwa die seit den 90er Jahren vermehrt erstellten Studien über die Rolle der Industrie in der NS-Zeit aufgrund deren Bereitschaft, solche Forschungen, etwa durch Zugang zu Werksarchiven, zu unterstützen. Auch die in den 90er Jahren immer mehr hervortretenden detailgenauen Einzelstudien über NS-Verbrechen in Konzentrationslagern seien ebenfalls dadurch befördert worden, dass sie nicht mehr auf biographische Belastungen – Opfer wie Täter – Rücksicht nehmen müssten. Auch wenn der Einfluss des Nachlassens der Zeitgenossenschaft auf die deutsche Geschichtsforschung nicht eindeutig nachweisbar ist, so lässt sich aber auf jeden Fall sagen, dass die Anzahl der detaillierten Arbeiten zu bislang vernachlässigten Bereichen der Verfolgung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, z. B. zum Themenkomplex der Enteignung, noch eine Lücke darstellte, die im Laufe der 90er Jahre in beachtlicher Weise gefüllt wurde.
Die seit den 80er Jahren zu datierende Phase 4 charakterisiert sich zum einen dadurch, dass der Begriff der »unbewältigten Vergangenheit« zunehmend an stimulierender Kraft verlor und auch Kritik an der seit Beginn der 60er Jahre geführten Debatte um die Vergangenheitsbewältigung einzusetzen begann. Das von dem verstorbenen Historiker Martin Broszat verfasste Plädoyer für eine »Historisierung« des Nationalsozialismus bringt das Bedürfnis zum Ausdruck, das nicht auf eine »Relativierung« der moralischen Bewertung des Nationalsozialismus hinzielte, aber auf eine Entdämonisierung und eine differenzierte Betrachtung. Dies fand auch seinen Ausdruck in der erwähnten stärkeren Erforschung des nationalsozialistischen Alltags und damit der individuellen Erfahrung der Erlebnisgeneration.
Auf der Ebene der öffentlichen Debatten geht es nun weniger um die praktische Bewältigung der benennbaren Folgen der Vergangenheit, obwohl auch diese, wie die kürzliche Diskussion um die Entschädigung von Zwangsarbeitern zeigt, noch keineswegs zu Ende sind. Zunehmend in den Mittelpunkt rückt nun die Frage, welche Erinnerungen an die Vergangenheit wie bewahrt werden sollen. Die Kritik an der lange praktizierten Form der Vergangenheitsbewältigung zeigt sich an einem Perspektivenwechsel, der bei deren Protagonisten, der so genannten »skeptischen Generation«, besonders spürbar wird. Am Beispiel von Günther Grassens Büchern Im Krebsgang, dann auch Beim Häuten der Zwiebel, zeigt sich eine zunehmende Bereitschaft zum Verständnis für die Generation der Väter und eine Einbeziehung eigener Erfahrungsdimensionen, denen gerade Intellektuelle links der Mitte im vergangenheitspolitischen Diskurs bislang selbst wenig Raum gegeben haben. Die verstärkte Aussöhnungsbereitschaft, indem man auch die Leiden der älteren Generation der Deutschen zur Kenntnis nimmt, betrifft ferner Teile der »68er«-Generation und steht sicherlich auch im Zusammenhang mit dem mittlerweile erreichten Alter.
Die besondere Sensibilität der internationalen Öffentlichkeit gegenüber der Entwicklung Deutschlands ist gut nachzuvollziehen, auch wenn manche Alarm-Meldungen – etwa anlässlich der Neuvereinigung 1990 – von Hysterie, Eigeninteresse und Selbstgerechtigkeit nicht frei sind. Ihr sachlicher Kern sind die Kontinuitätslinien, die, über das Jahr 1945 hinaus nach hinten, die Zweite Republik mit dem »Dritten Reich« verbinden. Doch alle Umfragedaten belegen, dass nach und nach ein wirklicher Einstellungswandel stattgefunden hat, während es sich anfangs eher um eine Anpassung an die westlichen Siegermächte handelte, insbesondere an die USA, die sich materiell als überlegen erwiesen hatten. Namentlich die aggressive Stoßrichtung des Nationalgefühls ist verschwunden. Nach nationalem Stolz gefragt, dachten die Westdeutschen zunehmend an die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Heimat und an das, was sie als Eigenschaften des eigenen Volks, verstanden als Gemeinschaft von Individuen, ansahen. Dabei gab es bemerkenswerte Veränderungen in der Hierarchie der Tugenden.
Für die breiten Schichten des Volkes ist eine sukzessive Abkehr von nationalistischen Leitbildern und Ansichten nachweisbar. Für die, in Deutschland traditionellerweise eher rechten, Intellektuellen wurde bestimmend die Abwendung vom deutschen Sonderbewusstsein, das den besonderen kulturellen und politischen, teilweise auch sozialökonomischen Entwicklungsweg Deutschlands der westlichen »Zivilisation« wie der östlichen »Barbarei« verherrlichend gegenüber gestellt hatte, und die Hinwendung zu dem, was später in einer apologetischen Formulierung »westliche Wertegemeinschaft« genannt wurde. Auch die Großbourgeoisie lernte die Vorzüge der parlamentarischen Staatsform schätzen und ließ frühere, autoritäre Politikvorstellungen hinter sich; sogar einige wichtige sozialstaatliche Elemente wurden, ganz anders als in der Weimarer Republik, hingenommen. Schließlich sei auf die dichte internationale, besonders europäische Verflechtung der Bundesrepublik und ihre kooperierende und integrierte Stellung in dem seit 1945 qualitativ veränderten internationalen Staatensystem verwiesen. Schon aufgrund nüchterner Interessenabwägung liegt der faschistische Ausweg oder auch nur das taktische Spielen damit den Repräsentanten des Großkapitals heute völlig fern.
Bei den Bewusstseinsveränderungen während des letzten halben Jahrhunderts spielte die Auseinandersetzung der westdeutschen Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit und ihren Voraussetzungen eine schwer präzise zu gewichtende, aber sicher wesentliche Rolle. Nach der von den Deutschen immer weniger akzeptierten, im Konzept wie in der Durchführung auch nicht unproblematischen westalliierten »Entnazifizierung«, der Rehabilitierung der allermeisten Betroffenen und dem weitgehenden Erliegen der strafrechtlichen Ahndung im restaurativen Klima der 50er Jahre, begann in den Jahren um 1960 auf allen Ebenen – juristisch, wissenschaftlich, publizistisch – eine intensive Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus.
Nach einer Umfrage von Kölner Sozialforschern aus dem Jahr 2000, die erkunden sollten, was »Auschwitz« der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration bedeutete, hielten es 72 % der Befragten quer durch alle Altersgruppen »für sehr wichtig« oder »wichtig«, an »Menscherverfolgungen und Massentötungen« im »Dritten Reich« zu erinnern. Trotz aller kritischen Einwände hat die Beschäftigung mit der »jüngsten Vergangenheit« nämlich nicht nachgelassen, sondern ist, insbesondere seit der Studentenbewegung ab 1967, vielmehr immer weiter intensiviert worden, so dass nach den Verbrechern und Funktionsträgern des Terrorapparates sowie den gesellschaftlichen Eliten auch das Verhalten der vielen Einzelnen in den Blick kam. Für Ostdeutschland, wo die Aufarbeitung der NS-Diktatur ganz anders erfolgte, hat – trotz höchst beunruhigender Erscheinungen – die schnell verbreitete These sich nicht bewahrheitet, der von oben verordnete, autoritäre und politisch instrumentalisierte Antifaschismus der SED habe nur das Gegenteil des Gewünschten bewirkt. Auch wenn das keine Garantie für alle Zukunft ist, scheint mir der antinazistische Konsens des größten Teils des politisch-gesellschaftlichen Spektrums in Deutschland derzeit stabil zu sein.
Die Formen der Auseinandersetzung haben sich geändert und sind vielleicht auch gerade wieder in Änderung begriffen. Das ist aber ein natürlicher Prozess, der im Zusammenhang mit dem veränderten Blick jeder nachwachsenden Generation steht. Jede Gesellschaft muss ihr eigenes Verhältnis zur Vergangenheit finden. Der durch alle Jahrzehnte hindurch von größeren und kleineren Gruppen in Deutschland immer wieder geforderte »Schlussstrich« unter die NS-Vergangenheit ist auf jeden Fall nicht in Sicht.
*Vortrag, gehalten am Goethe-Institut Oslo am 29. Oktober 2005 (deutsche Fassung)