Herr Professor Brandt, was bedeuten zwanzig Jahre deutsche Einheit für Sie?

Brandt: Für mich ist es immer noch ein großes Glücksgefühl, dass die Mauer in meiner Heimatstadt Berlin gefallen und mein Vaterland wieder vereinigt ist. Andererseits dürfte Sie meine kritische Distanz zum gesellschaftspolitischen Inhalt und zur verfassungsrechtlichen Form der Vereinigung (Stichwort: Artikel 23 Grundgesetz) nicht überraschen.

Ist es für einen Sozialdemokraten und bekennenden Linken selbstverständlich, sich zu seinem Vaterland zu bekennen?

Brandt: Warum nicht?

Ihr Parteichef Sigmar Gabriel forderte erst unlängst (Rede im April 2010, es ging um die Frage, liebt man sein Vaterland?) in dieser Hinsicht mehr »Distanz« zu solch »überzogenem Pathos« zu wahren.

Brandt: Ich kenne die Rede nicht, deshalb kann ich konkret dazu nichts sagen. Es geht mir auch nicht vorrangig um den Gefühlshaushalt, sondern um ein stabiles Verhältnis zu dem »Boden, auf dem wir stehen und streiten«, um August Bebel zu zitieren. In den 1950er Jahren stand die Teilung Deutschlands im Zentrum der sozialdemokratischen Politik schlechthin, nicht nur der Person Kurt Schumachers. Die anationale oder sogar antinationale Einstellung von beträchtlichen Teilen der Kräfte links der Mitte ist eher ein Produkt der letzten Jahrzehnte.

Da spricht der Historiker – was war Ihre persönliche Prägung? Ihr Vater Willy Brandt ist bis heute ›die‹ Ikone der SPD, doch galt er – gerade wegen seines Engagements für die Wiedervereinigung – vielen Genossen zuletzt nur noch als »der Alte mit dem nationalen Tick«.

Brandt: Ich bin mit einem grundsätzlich positiven Verhältnis zu Deutschland aufgewachsen. Mein Vater hatte einen großen Teil seines publizistischen Engagements im Exil der Bekämpfung von Positionen gewidmet, die auf die Gleichsetzung von Nazismus und Deutschland abhoben. In einer verleumderischen Kampagne wurden ihm später, in den 60er Jahren, seine diesbezüglichen Worte regelrecht im Munde herum gedreht. Ich kenne übrigens nur wenige Sozialdemokraten, die über sein Engagement 1989/90 nicht heilfroh sind - zumindest im Rückblick.

In Ihrer Jugend standen Sie einige Zeit links von Ihrem Vater.

Brandt: Ich hatte eine Periode in der ich sogar sehr weit links stand, radikal links (›links‹ immer verstanden als Kapitalismuskritik und Streben nach einer solidarischen Gesellschaft der Freien und Gleichen). Aber auch in dieser Phase war ich überzeugt, dass die ›Deutsche Frage‹ ungelöst sei, dass sie keinesfalls ignoriert werden dürfe und dass Deutschland eines Tages neu vereinigt werden sollte. Es gab damals durchaus Dissens mit meinem Vater, aber nicht in dieser Frage.

Fühlen Sie sich denn heute als Patriot in Ihrer Partei noch wohl?

Brandt: Ich habe mich niemals isoliert gefühlt, übrigens auch nicht in den Organisationen und Strömungen links von der Sozialdemokratie. Abgesehen davon mische ich mich auch in andere Debatten als die um das Nationale gelegentlich ein.

Heute gelten vielen Linken – auch Sozialdemokraten – Nation und Linkssein als notwendige Gegensätze.

Brandt: Wenn man Nation als den höchsten, gar absoluten innerweltlichen Wert versteht, dann ist Nation und Linkssein in der Tat schwer vereinbar. Zudem ist das Nationale bei Sozialdemokraten oder Linkssozialisten, die immer auch globale bzw. menschheitliche, eben internationale Ziele im Auge haben, anders politisch konnotiert als bei Konservativen oder Rechtsliberalen. Aber zu behaupten, Linke und Nation seien per se unvereinbar, ist Unsinn. Der nationale Zusammenhang ist nach wie vor ein wichtiges Element unseres Daseins – sowohl für den Einzelnen, wie für das politische Kollektiv. Selbst wenn man dafür eintritt, dass Europa auf eine supranationale Einigung zustrebt – wie ich es tue –, selbst dann kann die Bauform Europas realistischerweise nur der Nationalstaat sein, ein europäisches Spezifikum, dessen Entstehung nicht zufällig mit der Herausbildung der Verfassungsstaatlichkeit und letztlich der Demokratie historisch verknüpft war.

Im Westen leitete gerade die Neue Ostpolitik Ihres Vaters einen Schub der gesellschaftlichen Entnationalisierung ein.

Brandt: Tendenzen in Richtung Entnationalisierung bzw. separate westdeutsche ›Nationsbildung‹ waren nachweislich, z. B. anhand von Meinungsumfragen, schon vorher spürbar, auch vor ›1968‹. Eine der Intentionen der Neuen Ostpolitik bestand ja gerade darin, dem Prozess der Auseinanderentwicklung beider deutscher Staaten entgegen zu wirken, namentlich im Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation, und mit der Anerkennung der machtpolitischen Realitäten (unter Vorbehalt) bessere Voraussetzungen für eine langfristige Überwindung des europäischen und deutschen Status quo zu schaffen. Es ist einzuräumen, dass diese Zielsetzung aus den öffentlichen Diskursen mehr und mehr verschwand und die Bereitschaft zur dauerhaften Hinnahme der deutschen Teilung in der Gesellschaft wie in den politischen Parteien - vor allem, aber nicht allein links der Mitte - in den 80er Jahren noch einmal zunahm.

1981 haben Sie zusammen mit dem Publizisten Herbert Ammon das Buch »Die Linke und die nationale Frage« veröffentlicht. Warum?

Brandt: Konkreter Anlass war der Nato-Doppelbeschluss. Ammon und ich gingen davon aus, die Situation würde dazu führen, die Debatte über die Deutsche Frage neu zu beleben, was auch geschah.

Inwiefern?

Brandt: Unsere Sache war nicht ein diffuser Gefühlspazifismus; wir zielten auf den Interessenunterschied zwischen den USA einerseits und Westeuropa, namentlich Westdeutschland, anderseits, was die spezifische militärisch-sicherheitspolitische Antwort auf die sowjetische Rüstung im atomaren Mittelstreckenbereich betraf. Die sogenannte Nachrüstung der NATO erhöhte die Gefahr für Deutschland (Ost und West), das nach der Doktrin der »flexible response« ohnehin als Schlachtfeld vorgesehen war, und verminderte sie für die USA. Die Nachrüstungsdebatte rührte also durchaus an unsere nationale Frage.

Ihre Rechnung ging aber nicht auf?

Brandt: Immerhin erfuhren wir sehr viel mehr Zustimmung als nach außen erkennbar. Zudem scheiterte das Kalkül m. E. nicht an der Grund-Idee, sondern an der fast manischen Furcht einflussreicher Kreise innerhalb der Friedensbewegung davor, eine solche Debatte zu führen oder wenigstens zuzulassen, und an der Fehleinschätzung der sowjetischen Führung, ohne eigene Konzessionen ›durchmarschieren‹ zu können. Das hat die Chance verkleinert, im deutschen Volk eine politische Mehrheit für die Ablehnung der neuen Raketen zu finden. Und letztlich ist die Friedensbewegung mit ihrer Politik gescheitert, denn die Atomwaffen kamen und blieben bis zum Schluss. Aber man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, dass es gut ausging. Die Dinger waren verdammt gefährlich.

Was passierte mit einer Linken, die die nationale Frage zunehmend ignorierte?

 

Brandt: Ich meine, dass sie sich damit geschadet hat. Denn die Haltung der Nachwuchs-Kräfte in der SPD in Sachen nationale Frage seit den siebziger Jahren − nicht aller − hat die Partei dann in die hilflose Lage des Jahres 1989/90 manövriert. Dabei ging es mir nie darum, dass mächtig auf die nationale Pauke gehauen wird, sondern um die gesamtdeutsche Dimension des politischen Denkens und Handelns. So aber war die Partei dann 1989/90 nicht mehr in der Lage, auf die von der großen Mehrheit der Deutschen in der DDR – nicht zuletzt von der dortigen Arbeiterschaft – im Anschluss an die zunächst innerstaatliche Demokratisierungsbewegung angeschobene Einigungsbewegung eine eigenständige Antwort zu finden. Während es die bekanntlich im Laufe des Jahres 1989 schwer in die Krise geratene CDU unter Helmut Kohl vermochte, mit der Wiedervereinigung die Weichen zu ihren Gunsten zu stellen, die Wahlen zu gewinnen und ruhmreich in die Geschichte einzugehen – Stichwort ›Kanzler der Einheit‹.

Stünde die SPD mit einem Nimbus als Wiedervereinigungspartei heute vielleicht besser da? – Ihr Status als Volkspartei gilt ja als gefährdet.

 

Brandt: Ein realistisches und positives - was nicht heißt: unkritisches - Verhältnis zu Volk und Nation würde zwar lange nicht alle Probleme der Sozialdemokratie lösen, wäre aber vielfach hilfreich.

Inwiefern?

 

Brandt: Auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir es mit Restelementen zweier deutscher Gesellschaften zu tun. Ich meine, dass man dieses Problem des Zusammenwachsens nicht in den Griff bekommen kann, wenn man nicht auch die im engeren Sinn nationale Dimension mitdenkt. Und das gilt ja auch für das zweite große Integrationsproblem, das mit den Zuwanderern.

Trifft das nicht eigentlich auf alle Parteien zu?

 

Brandt: Durchaus, auch bei der ›Wiedervereinigungspartei‹ CDU zeigen sich diese Probleme ja. Das bürgerliche Lager hatte zunächst zwar den Vorteil, dass es formal an der Einheit der Nation festgehalten hatte, aber tatsächlich begann sich das spätestens in den achtziger Jahren auch schon aufzulösen. Inzwischen ist es doch so: Wenn entsprechende Diskussionen aufbrechen, zerplatzt die vorgebliche Selbstsicherheit der Union in Sachen nationaler Frage wie ein Luftballon. Denken Sie etwa nur an das Scheitern der Debatte um die ›Leitkultur‹ bereits in der Union selbst. Man hat den Eindruck, es wird gelegentlich noch mit bestimmten Formeln hantiert, die aber keine inhaltliche Substanz − welche auch immer − mehr haben. Das Gelände ist vermint. Und weil Politiker und Publizisten aller Richtungen das wissen, weigern sie sich offen darüber zu sprechen bzw. bemänteln, dass es dafür Bedarf gibt.

Die deutsche Neurose schwelt weiter?

 

Brandt: Ja, wobei ich mich frage, ob wir sie überhaupt überwinden können? Vielleicht gibt es Dinge im Leben der Völker, die so gravierend sind, dass man darüber nicht hinwegkommt und man nur versuchen kann, mit der Neurose halbwegs vernünftig umzugehen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Diese muss rücksichtslos im Sinne der Wahrheitssuche, zudem aber zugleich professionell differenziert und auch gegenüber den damals beteiligten "normalen Deutschen" sensibel geführt werden. Eine Floskel wie "Tätervolk" führt in die Irre und kann nur destruktiv wirken. Sie kehrt das positive Vorzeichen bei der angeblichen Volksgemeinschaft des "Dritten Reiches" einfach in ein negatives um und bestätigt damit gewissermaßen nachträglich den Anspruch der Nationalsozialisten auf die Alleinvertretung des deutschen Volkes. Zudem gibt es hierzulande ja auch noch ein reiches kulturell-geschichtliches Erbe und weit zurückreichende freiheitliche Traditionen, die geeignet wären, unser Gemeinwesen zu stärken, wenn man sich mehr darauf bezöge.

 

Auch in: Junge Freiheit Nr. 40/2010

 

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