von Peter Brandt

Bis vor einem guten Jahrzehnt hätte der Hinweis auf Gültigkeit eines sich aus der proletarisch-sozialistischen Tradition herleitenden Gesellschaftsmodells des »real existierenden Sozialismus« für ein Drittel der Menschheit genügt, um die Bedeutung der Arbeiterbewegungsgeschichte klarzumachen. Unabhängig davon, was aus dessen Zusammenbruch in Osteuropa hervorgegangen ist, bleibt ja die Tatsache bestehen, dass die Auseinandersetzung mit der (wie vermittelt auch immer) auf der Aktion eines Flügels der sozialistischen Arbeiterbewegung erwachsenen Ordnung nicht zuletzt in Deutschland Jahrzehnte der Zeitgeschichte bestimmt hat.

Offenbar hat in der vergangenen Epoche die Systemkonkurrenz mit dem Sowjetkommunismus dazu beigetragen, im Westen das Bewusstsein für die Notwendigkeit zu schärfen – und zwar weit über die Sozialdemokratie hinaus –, die Marktkräfte sozialstaatlich im Zaum zu halten. Auf der anderen Seite wirkte das Beispiel einer vermeintlich sozialistischen Alternative in Ost- und Mitteleuropa auf die Arbeiterbewegung Westeuropas, insbesondere Westdeutschlands, eher abschreckend als mobilisierend.
Ich will das Verhältnis von Arbeiterbewegung und »real existierendem Sozialismus« jedoch hier nicht im einzelnen diskutieren. Dass man, bleiben wir bei Deutschland, die SED und den von ihr geführten Staat, die DDR, nicht aus der Arbeiterbewegung hinausdefinieren kann, scheint mir klar. Die SED und die DDR sind ohne den Arbeiterbewegungszusammenhang gar nicht zu begreifen. Allerdings fängt damit das Problem eigentlich erst an: Es gilt, das spannungsreiche Verhältnis zwischen der realen Arbeiterschaft und ihren Artikulationen einerseits und der zumindest in den oberen Etagen verselbständigten, aus namentlich der kommunistischen Arbeiterbewegung hervorgegangenen Führungsschicht andererseits kritisch und vorurteilsfrei zu erforschen. Um es an einem Beispiel zugespitzt zu formulieren: Auf Ostdeutschland bezogen, gehören die streikenden und demonstrierenden Arbeiter des 17. Juni 1953 ebenso als Subjekte zur Geschichte der Arbeiterbewegung wie diejenigen Partei- und Staatsfunktionäre, die sich erst um die Eindämmung und dann um die Unterdrückung des Aufstands bemühten.
Selbstverständlich ist die historische Wirkung der Arbeiterbewegung nicht auf die etatistisch-kommunistischen Systeme zu begrenzen. In der sowjetischen Diskussion tauchte in der letzten Phase die Frage auf, ob der seit über einem halben Jahrhundert fast durchgehend sozialdemokratisch regierte, damals noch weitgehend unbeschädigte schwedische Wohlfahrtsstaat den ursprünglichen Zielen der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht näher gekommen sei als die UdSSR. Die durchgreifende Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter in den entwickelten kapitalistischen Industrieländern, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, geht nicht ausschließlich und vielleicht nicht einmal hauptsächlich auf die Aktivitäten der Arbeiterbewegung zurück. Doch ist die Entwicklung zum modernen Sozialstaat ohne Gewerkschaften und sozialistische Parteien schwer vorstellbar. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen ideologischen Ausrichtung und wechselnder sozialistischer Regierungsbeteiligung haben die aus der klassischen Arbeiterbewegung hervorgegangenen Organisationen durch Arbeitskämpfe und Tarifpolitik, Gesetzgebungsarbeit und praktische Verwaltungstätigkeit, bis zu einem gewissen Grad auch allein durch ihre Existenz, die heutigen liberal-kapitalistischen Gesellschaften Europas wesentlich mitgeprägt.
Vielfach nicht deutlich genug gesehen wird der Beitrag der Arbeiterbewegung zur Durchsetzung und Ausgestaltung der parlamentarischen Demokratie als Verfassungsordnung. Die Demokratisierung der bürgerlichen Gesellschaft war nämlich – nicht nur in Deutschland – wesentlich ein Ergebnis des auch außerparlamentarischen Kampfes der Arbeiterbewegung, vor allem um 1900, und keineswegs allein immanenter Systemlogik entsprungen. Die erste große Arbeiterbewegung der Welt, die britischen Chartisten der 1830er und 1840er Jahre, kämpfte vor allem anderen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Schon von Anfang an war somit die Arbeiterbewegung mehr als eine Klassenbewegung im beschränkten, ouvrieristischen Sinn. Sie verstand sich als Erbin der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution, deren befreiende Botschaft, wie immer wieder anklagend und polemisch herausgestellt wurde, von der Bourgeoisie verraten oder vernachlässigt worden sei.

I.

Wer die Geschichte der Arbeiterbewegung erforscht und studiert, hat es in besonderem Maß mit einem allgemeinen Problem der Geschichtswissenschaft zu tun: dem Verhältnis von Standortgebundenheit und Objektivität. Zwei der bis anno 1989 großen Parteien im Nachkriegsdeutschland, die SED und die SPD, beriefen sich auf die Tradition der Arbeiterbewegung, beanspruchten, diese eigentlich zu vertreten, und warfen der jeweils anderen vor, durch Anpassung an die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft (so die Kommunisten über die Sozialdemokraten) bzw. durch Übernahme eines undemokratischen, aus den rückständigen russischen Verhältnissen entstandenen Sozialismus-Modells (so die Sozialdemokraten über die Kommunisten) aus der Traditionslinie ausgebrochen zu sein.
In Deutschland nahm der Streit um das historische Erbe lange Jahre besonders unversöhnliche Züge an, weil die Spaltungslinien zwischen den der Arbeiterbewegung entstammenden Parteien, die ihre Wurzeln in den erbitterten Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD in der Weimarer Republik hatten, seit der SED-Gründung im Osten und der Abwehr kommunistischer Fusionsbestrebungen im Westen mit der innerdeutschen Zonen- bzw. Staatsgrenze nahezu identisch waren. Die ostdeutsche Sozialdemokratie war unter starkem Druck in der kommunistisch-ausgerichteten SED aufgegangen, der westdeutsche Kommunismus – schon vor dem Verbot der Jahre 1956-68 – auf eine Splittergruppe reduziert, auch dieses nicht ausschließlich durch den Stimmzettel.
Die SED war überzeugt, mit ihrer ›wissenschaftlichen Weltanschauung‹ des »Marxismus-Leninismus« einen verlässlichen Kompass auch für die Erforschung der eigenen Geschichte zu besitzen. Es kam ihr darauf an, die jeweils ›korrekte Linie‹ herauszuarbeiten, ihren bzw. ihrer Vorgänger vermeintlichen Einfluss zu betonen und abweichende Positionen als illegitim darzustellen. Da die Partei sich im Besitz objektiver Welterkenntnis und zugleich auf der Seite des historischen Fortschritts wähnte, bildeten ›Objektivität‹ und ›Parteilichkeit‹ in der inneren Logik des Gedankensystems keinen Widerspruch. Ich verweise auf die später nicht mehr opportune achtbändige »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« von 1966.
Auch von der SPD beeinflusste oder geförderte Darstellungen, besonders in der Phase des offenen Kalten Krieges, waren von tendenziösen Verzerrungen nicht immer frei. So war man nach der Verabschiedung des Godesberger Programms (1959) erkennbar bestrebt, die radikalen Strömungen in der SPD-Geschichte herunterzuspielen und die reformerischen, staatsbejahenden Strömungen aufzuwerten. Parallel dazu war auch in der westdeutschen Fachwissenschaft unter Federführung Werner Conzes das Bestreben spürbar, in der Geschichte namentlich der frühen Arbeiterbewegung die gemäßigten Impulse und die auf gesellschaftliche Integration gerichteten Ansätze herauszuarbeiten. Von einer Dominanz dieser Argumentationslinie konnte aber für die Bundesrepublik schon lange vor 1990 keine Rede mehr sein. Politisch und methodisch hatte sich – nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der DDR-Historiographie und zugleich angeregt durch von der Studentenbewegung ausgehende Problemstellungen – tatsächlich ein Pluralismus der Standpunkte herausgebildet, der befruchtend wirkte. Und wenn auch nicht in der Interpretation. So hatte sich doch in der Darstellung des Faktischen längst eine gewisse, teilweise recht weitgehende Annäherung der verschiedenen Positionen, auch über die innerdeutsche Staatsgrenze hinweg, vollzogen.
In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung in der Alt-Bundesrepublik fanden – parallel zur Veränderung des politisch-kulturellen Klimas, aber auch in Reaktion auf internationale Forschungstendenzen – während der letzten zwei Jahrzehnte ihrer separaten Existenz nämlich wesentliche Veränderungen statt. Jetzt ging es um eine Sozialgeschichte der Industrialisierung unter Einbeziehung wirtschafts-, kultur-, bevölkerungs- und technikgeschichtlicher Aspekte, um eine empirisch fundierte Geschichte der Arbeiterklasse und ihres Entwicklungs- und Emanzipationsprozesses im sich entfaltenden Industriekapitalismus. Vor allen anderen würde ich dabei den Namen Klaus Tenfelde nennen. Diesen materiellen Unterbau hatte die frühe westdeutsche Arbeiterbewegungsgeschichte der Nachkriegszeit kaum in den Blick genommen. Im Vordergrund standen vielmehr die Theorie und die politische Strategie und Taktik, daneben auch die Organisation der sozialistischen Parteien (weniger der Gewerkschaften). Behandelt wurden vorwiegend solche Themen, für die die schriftliche Überlieferung relativ leicht zugänglich war. Fraglos waren und sind Untersuchungen dieser Art nötig – insbesondere auch auf regionaler und lokaler Ebene –, sofern ihre begrenzte Aussagekraft reflektiert und deutlich gemacht wird. Insofern handelte und handelt es sich bei den Forschungsansätzen in der Sozialgeschichtsforschung, die seit den 70er Jahren die Produktionssphäre, das Alltagsleben, die Entwicklung der sozialen Lage und der Schichtung sowie die Kultur der Arbeiter in den Mittelpunkt des Interesses rückten und nach den Trägerschichten der Arbeiterbewegung, nach den sozialen und politischen Voraussetzungen ihrer Entfaltung und nach Protestformen fragten, eher um eine – überfällige – Erweiterung des Blickfelds als um eine Alternative zur Ideen-, Organisations- und Politikgeschichte der Arbeiterbewegung.
Arbeitergeschichte und Arbeiterbewegungsgeschichte ›von unten‹ machen jedoch die Erschließung neuer Quellengattungen erforderlich, da ›die Basis‹ in den Broschüren und Zeitungen, Protokollen und Briefen meist sprachlos bleibt. Die vermehrte Anwendung statistischer Methoden kann manche, vordem rein spekulativ beantwortete Fragen klären helfen – etwa, ob die materielle Lage in einer bestimmten Phase für eine bestimmte Gruppe besser oder schlechter wurde–, aber trägt zur Beantwortung anderer Fragen gar nichts bei. Neben nur sporadisch überlieferten autobiographischen Zeugnissen und zeitgenössischen Schilderungen von Amtspersonen (Fabrikinspektoren, Pastoren, Ärzten, Standesbeamten usw.) sind Betriebsarchive und lokale Überlieferungen ausgewertet worden. Für die jüngste Geschichte hat man mit Befragungen noch lebender Zeitzeugen gearbeitet, wobei besondere methodische und quellenkritische Überlegungen am Platz sind. Obwohl jeder Perspektivenwechsel neue Lücken selbst auf bislang gut erforschten Feldern zutage fördert – weil man beginnt, Fragen zu stellen, die vorher gar nicht als Probleme erkannt wurden–, wissen wir heute aufgrund einer umfangreichen empirischen Forschung nicht nur unvergleichlich mehr über die Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung als vor dreißig oder gar vierzig Jahren, wir wissen auch mehr über die Geschichte der Arbeiter als über die anderer sozialer Gruppen.
Etwas Ähnliches wie in der alten Bundesrepublik hat – wenn ich es richtig sehe – teilweise auch in der DDR stattgefunden, wo die Arbeiterbewegung naturgemäß von Anfang an einen bevorzugten, wenn nicht gar den zentralen Interessenschwerpunkt bildete. Ich denke für die damit angesprochene strukturgeschichtliche Erweiterung der ostdeutschen Historiographie etwa an Hartmut Zwahrs auch in der Bundesrepublik vielbeachtete empirische Fallstudie über die Klassenkonstituierung des Proletariats in Leipzig von 1978.
Nach der Hinwendung zur Sozialgeschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung seit den 70er Jahren, der in den 80er Jahren die Entdeckung der Alltagsgeschichte folgte, haben wir es in den 90er Jahren mit einer kulturalistischen Wende der Geschichtswissenschaft zu tun. Dabei haben, auf unseren Themenkomplex bezogen, etwa Fragen der Festkultur und der Symbolik verstärktes Interesse gefunden. Eine methodische Herausforderung geht von der neuen Kulturgeschichte vor allem dort aus, wo sie sich der systematischen Untersuchung sprachlicher sog. Diskurse annimmt, die – so sagt man – das Denken und Handeln vorstrukturieren. Auf die Programmatik und Ideologie der Arbeiterbewegung angewandt, könnten vom »linguistic turn« geleitete Analysen ganz neue Erkenntnisse bringen. In seiner kürzlich erschienenen, beeindruckenden Habilitationsschrift über die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz hat Thomas Welskopp gezeigt, wie es möglich sein könnte, diese Art neuer Kulturgeschichte und die Diskursanalysepolitik für die Erforschung auch der Politik- und Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung nutzbar zu machen.
Parallel zu dem Aufblühen der Kulturgeschichte und in Westdeutschland in die Periode vor 1990 zurückreichend, hat jedoch das Interesse an der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte als solcher erkennbar nachgelassen, übrigens auch bei Studenten. Im westeuropäischen Ausland ist das weniger ausgeprägt als in Deutschland, aber im wesentlichen ähnlich gelagert. Innerwissenschaftliche Entwicklungen, gesamtgesellschaftliche Tendenzen und die Veränderung der politischen Konjunktur wirken hier zusammen und lassen den Eindruck entstehen, es handele sich um eine verstaubte Teildisziplin, mit der man jahrzehntelang übersättigt worden sei. Das gilt wie gesagt nicht nur für den Osten, wo das vielleicht eher nachvollziehbar, wenn auch nicht unbedingt besser begründet ist, sondern auch für den Westen Europas.

II.

Durch den Abbau zünftiger Schranken und traditioneller Pflichten wandelte sich der Gesellenstatus in den alten Handwerksbetrieben allmählich zu einem Lohnarbeiterstatus, ablesbar an der Herauslösung der Gesellen aus Haus und Familie des Meisters, an der geringer werdenden Chance, sich selbständig zu machen, an Lockerungen der alten Schutzbestimmungen, an der langsamen Durchsetzung von Geldlohn. Ungeachtet der vielfachen Übergangsformen und unterschiedlichen Wege im Übergang zum Fabrik- und Lohnarbeiter kristallisierte sich ein bestimmter Typus heraus. Er war gekennzeichnet
– durch den Nichtbesitz an Produktionsmitteln,
– durch die einem kapitalistisch wirtschaftenden Unternehmer gegen leistungs- und marktabhängigen Lohn zur Verfügung gestellte Arbeitskraft,
– durch Unterwerfung der ganzen Person unter die Anordnungen des Unternehmers,
– durch eine ökonomische Lage, die allein von der zur Verfügung gestellten Arbeitskraft abhing,
– durch eine zunehmende ›Vererbung‹ des Lohnarbeiterstatus auf die nächste Generation.

Die Durchbruchsphase der Industrialisierung, die »industrielle Revolution« – in Deutschland von den 1830er oder den 1840er Jahren, in England 50 bis 60 Jahre früher – brachte noch nicht das quantitative Übergewicht der Arbeiterbevölkerung, wohl aber die Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise und somit des Lohnarbeitsverhältnisses. Der Prozess der Konstituierung des Proletariats als Klasse setzte erst in einem relativ fortgeschrittenen Stadium der Industrialisierung ein, in England um 1820, in Deutschland um 1860, in Frankreich noch einmal deutlich später und dauerte dann jeweils mehrere Jahrzehnte.
Das sind indessen Feststellungen auf einer hohen Abstraktionsebene, die leicht die anhaltende Inhomogenität der Arbeiterschaft, nach ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, aber auch nach Berufstraditionen, regional und branchenbedingten Daseinsverhältnissen, verschleiern können. Teilweise sehr unterschiedlich waren die jeweilige Situation am Arbeitsplatz, das Qualifikations- und Lohnniveau sowie die reale Chance individuellen sozialen Aufstiegs. Diese Gesichtspunkte müssen stets mitbedacht werden, wenn – durchaus gut begründet – von ›der‹ Arbeiterklasse und ›der‹ Arbeiterbewegung die Rede ist. Auch wenn die Leninsche These von der »Arbeiteraristokratie« m. E. nicht haltbar ist, gab es nicht nur in England hochqualifizierte, gut bezahlte Facharbeitergruppen. Sie waren aber nicht unbedingt Anhänger des Reformismus, sondern stellten einen durch Arbeitsethos, Disziplin und Selbstbewusstsein charakterisierten Typus dar, der u. U. auch Träger einer radikalen Strömung sein konnte. Bis zu einem gewissen Grad gelang es der Arbeiterbewegung, die unteren Segmente der Klasse an den größeren Erfolg der Facharbeiter (mit ihrer vergleichsweise stärkeren Stellung im Betrieb) bei den Tarifauseinandersetzungen anzukoppeln, so dass der Tendenz zu innerer Differenzierung der Klasse entgegengewirkt wurde. Das gilt namentlich für Deutschland, sogar nach der sozialdemokratisch-kommunistischen Spaltung. In jedem Fall setzte sich die nahezu alle Lebensbereiche und zuletzt die Lebenserwartung betreffende Ungleichheit zwischen der gesamten Arbeiterklasse einerseits, der Bourgeoisie, der bürgerlichen Intelligenz und (in etwas anderer Weise) dem Kleinbürgertum andererseits fort und brachte die Arbeiterbewegung sozusagen immer wieder neu hervor.

Dabei lassen sich hinsichtlich der Umstände, unter denen sich eigenständige Arbeiterbewegungen konstituierten, einige Regelmäßigkeiten benennen:
– Am Anfang standen üblicherweise nicht politische Parteien, sondern Gewerkschaften. Sie waren, ökonomisch gesehen, Kartelle der Besitzer von Arbeitskraft zur Erzielung günstiger Preise und günstiger Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und insofern als solche zweckmäßig, auch ohne irgendeine weiterreichende Zielsetzung. Tatsächlich gehörten von Anfang an nichtmaterielle Werte wie Berufsstolz, Gerechtigkeitsgefühl, Gemeinschaftsideal u. a. m. zu den Motiven der Gewerkschaftsgründer wie zu denen der Parteigründer.
– Die klassenbewusste, organisierte und politisch aktive Minderheit der Arbeiter war beruflich meist qualifiziert und anfangs handwerklich-kleinbetrieblich geprägt. Die eigentlichen Industriearbeiter und insbesondere die Unterschichten der Arbeiterklasse, die industriellen wie die agrarischen, blieben demgegenüber lange im Hintergrund oder passiv. In Deutschland traten sie am Ende des 19. Jahrhunderts mit den großen Streiks der Konfektionsarbeiter aktiv in die Klassenbewegung ein. Auch die Bergarbeiter erhielten erst jetzt ihre jahrzehntelang politisch wichtige Stellung.
– Die Herausbildung der Klassengegensätze, die soziale Polarisierung der Gesellschaft (nicht zu verwechseln mit der absoluten Verelendung der Arbeiter), führte zur Trennung der Arbeiterbewegung von der Bewegung der bürgerlichen Demokratie, der sie zunächst verbunden gewesen war, zumindest aber forcierte sie Bestrebungen in Richtung einer politischen Verselbständigung der Arbeiter.
– Die Repression seitens der Unternehmer wie auch der Staatsmacht traf, mehr oder weniger massiv, die Arbeiterbewegung überall, keinesfalls nur in autokratischen oder autoritären Staaten. Es gab allerdings charakteristische Unterschiede: Während im kaiserlichen Deutschland die Sozialdemokratie wegen ihrer sozialistischen und ihrer radikal-demokratischen Ziele ausgegrenzt und zeitweise mit einem Ausnahmegesetz gegen ihre »gemeingefährlichen Bestrebungen« in die Illegalität oder Halblegalität gedrängt wurde, trat in den USA, vor 1914 eine der wenigen Republiken, die physische, teilweise äußerst brutale Polizei- und sogar Militärgewalt gegen die Arbeiter in den Vordergrund, namentlich bei Streiks. Der Niedergang der radikalen, teilweise anarcho-syndikalistisch orientierten International Workers of the World (IWW), die am Anfang des 20. Jahrhunderts einigen Einfluss besaßen, war neben anderem auf eine massive polizeiliche Unterdrückung im Ersten Weltkrieg unter der Präsidentschaft Woodrow Wilson, eines liberalen Demokraten, zurückzuführen.

Die Arbeiterschaft als soziale Kategorie ist mit der spontanen oder gar organisierten Arbeiterbewegung niemals identisch gewesen. Selbst in den Ländern mit dem höchsten Organisationsgrad gehörte vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als ein Viertel aller Arbeiter den wirtschaftlichen und politischen Verbänden der Arbeiterbewegung an. Nur in wenigen Fällen gelang in späteren Zeiten die Organisierung der Mehrheit, so in Schweden. Und nur in Ausnahmesituationen kämpfte die Mehrheit oder eine große Minderheit der Arbeiter gleichzeitig für soziale oder politische Forderungen.
Es hat immer eine erhebliche Anzahl Arbeiter gegeben, die niemals in ihrem Leben eigene Interessen artikulierte, Protest ausdrückte oder sich organisierte, vor allem im ländlich-kleinstädtischen Umfeld. Dennoch haben Arbeiter stets ähnliche Formen der Interessenvertretung und des Protests entwickelt, sogar in der Illegalität, in Diktaturregimen teilweise unter Ausnutzung bestehender offizieller Organisationen. Man denke etwa an die Unterwanderung der korporatistischen Organisationen Spaniens zur Zeit des Frankismus durch die Arbeiteropposition und – ohne sonstige Parallelisierung – an die antidiktatorische Kampftradition der polnischen Arbeiter seit 1956, die 1980 schließlich in die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc mündete. Alle historischen Erfahrungen belegen, dass Arbeiterbewegungen, sofern sie nicht gewaltsam unterdrückt werden, offenbar quasi naturwüchsig aus der Stellung der Arbeiter im Produktionsprozess der – wie wir heute wissen, nicht zwingend nur kapitalistischen – Industriegesellschaft hervorgehen.
Ist der Zusammenhang zwischen Arbeiterbewegung, sozialem Protest und kollektiver Interessenvertretung noch eindeutig, so gilt dies weit weniger für den Zusammenhang von Arbeiterbewegung und Sozialismus. In Deutschland hatten erste Gesellen- und Arbeiterzusammenschlüsse (Auslandsvereine wie der »Bund der Kommunisten« , Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine, »Arbeiterverbrüderung« ) in den Jahren zwischen 1840 und 1870 zur ungewöhnlich frühen Entstehung zweier Arbeiterparteien geführt, die sich schließlich 1875 in Gotha vereinigten. Trotz unterschiedlicher Handlungs- und Organisationsformen, wie auch verschiedener gesellschaftlicher Zielvorstellungen innerhalb der Arbeiterschaft, korrespondierend zu ihrer unterschiedlichen Struktur und Lage, scheint der Zusammenschluss zu eigenen, auch politischen Organisationen nicht nur in Deutschland ein Grundmuster in der Geschichte der Arbeiterbewegung zu sein. Das Selbstverständnis des Beteiligten als ›Arbeiter‹ war in den frühen Stadien nicht unbedingt an klassenmäßig eindeutigen Kriterien ausgerichtet, sondern antizünftig und popular-demokratisch akzentuiert; die große Bevölkerungsmehrheit wurde unter den Arbeiter-Begriff subsummiert.
In manchen Ländern, insbesondere in den USA, haben sich zwar zeitweise recht starke und in Lohnkämpfen militante Gewerkschaften konstituiert, aber niemals eine sozialistische Partei von Bedeutung. Über die Gründe hat man seit Werner Sombart viel nachgedacht (zumal in Kanada in Gestalt der New Democratic Party mit Verzögerung eine Art sozialdemokratischer Partei entstand, in Australien und Neuseeland mit der Labour Party ohnehin). Neben dem Fehlen feudaler Traditionen in den USA und einer entsprechend geringen Staatsorientierung des politischen Verhaltens sowie der liberal-demokratischen, aber föderativen Verfassung und dem System der ›Ringe‹ und ›Bosse‹ in den Städten mit eher lobbyistischen Aktionsmöglichkeiten für die Gewerkschaften werden die ethnisch-nationale Zersplitterung der US-amerikanischen Gesellschaft, die Ideologie des »American Dream« und die anfängliche reale Chance des einzelnen Arbeiters für eine Landnahme im Westen angeführt. Aber auch unabhängig davon verminderte die räumliche Entzerrung der Industrie den Druck zur Koalitionsbildung. Bei der Organisierung von Arbeitern fällt zudem die Stärke berufsgewerkschaftlicher Tendenzen auf.
In England entstand die Labour Party aus der Wahlreformbewegung der 1860er Jahre und dem liberalen Radikalismus und entwickelte sich nach ihrer Gründung 1893 zum politischen Arm der Gewerkschaften im Parlament mit sozialpolitischen Sofortforderungen und nur langfristig sozialistischer Zielausrichtung. Ein sozialistisches Programm gab sich die Labour Party erst 1918, und marxistische Ideen blieben in der britischen Arbeiterbewegung lange marginal.
Verschiedentlich versuchten Arbeiter, ihre speziellen Anliegen über andere, klassenübergreifende politische Formationen durchzusetzen, etwa über das katholische Zentrum im kaiserlichen und republikanischen Deutschland oder – später in diesem Jahrhundert – über populistische Bewegungen wie den Peronismus in Argentinien. In Frankreich und Spanien wehrten die stärksten Gewerkschaftsbünde unter dem Einfluss des Anarcho-Syndikalismus lange jede, nach ihrer Meinung stets kompromisslerische, Parteipolitik ab – aus entgegengesetzten Gründen, warum die englischen Gewerkschaften vor 1900 und die amerikanischen Gewerkschaften bis heute die Bildung einer eigenen Arbeiterpartei ablehnten.
Trotz alledem scheint der Normalfall die Herausbildung politischer Parteien im 19. und 20. Jahrhundert zu sein, die die Interessen der Arbeiter auf der staatlichen Ebene zur Geltung brachten. Nicht zwingend und in aller Regel tatsächlich nicht bestanden diese Parteien ausschließlich aus Arbeitern. Vielmehr waren sie, mehr oder weniger ausgeprägt, stets auch für die Armen und die ›kleinen Leute‹ schlechthin sowie für die entschiedenen, egalitär ausgerichteten Demokraten anderer Schichten da. Die engere oder breitere (wie in Frankreich und Skandinavien) soziale Zusammensetzung einer Arbeiterpartei sagte viel über den Grad gesellschaftlicher und politischer Isolierung der Arbeiterbewegung bzw. ihrer Integration aus. Diese Parteien konnten mehr oder weniger radikal, mehr oder weniger reformerisch, mehr oder weniger vom Marxismus beeinflusst sein, aber sie bekannten sich alle in irgendeiner Weise zum Sozialismus, der die Befreiung der Arbeiter durch Überwindung oder zumindest durch eine sozialstaatliche Zähmung des Kapitalismus verhieß. Die relativ enge Verbindung von Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und Sozialismus in Deutschland vor 1933 ist zwar nicht typisch, entspricht aber doch der Entwicklungstendenz dieser Epoche zumindest in Europa.

III.

Die soeben getroffene Feststellung gilt ohnehin nur in ihrer allgemeinen Formulierung. Denn der besondere deutsche Typ von Arbeiterbewegung war – wie sollte es anders sein – von dem spezifischen Gesellschafts- und Verfassungstyp geprägt. Dass sich im Kaiserreich die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft entfalten konnte, in beträchtlichem Maß auch gesellschaftliche Modernisierung ermöglicht wurde, steht außer Frage. Der deutsche Konstitutionalismus bot aber, zumal in der wilhelminischen Phase, darüber hinaus auch Gelegenheit für politische Teilnahme, begrenzt und ständig bedroht, doch durchaus real. Die doppelte Prägung der Arbeiterbewegung durch den Entwicklungsstand des Industriekapitalismus mit den ihm eigenen Klassenverhältnissen einerseits, die komplizierte Staatsverfassung mit den autoritären Elementen sowie dem obrigkeitlichen Verhaltensstil in der Politik andererseits förderte die charakteristische Vormachtstellung der Partei gegenüber den Gewerkschaften (und Genossenschaften). Die formelle marxistische Orthodoxie der Bebelschen Sozialdemokratie war der adäquate programmatische Ausdruck ihres bis auf weiteres unlösbaren Dilemmas: ihren nahezu ungebremsten Aufstieg in der Mitglieder- und Wählerentwicklung nicht in sichtbare politische Teilerfolge ummünzen und zugleich die große außerparlamentarische Konfrontation mit dem Staatsapparat nicht wagen zu können.
Aus den Verfolgungen und Diskriminierungen gingen die Sozialdemokraten mit dem Nimbus der Unbeugsamen und Unbesiegbaren hervor. Die proletarischen und plebejischen Massen fanden in deren Funktionären ihre politischen Vertreter und die Repräsentanten ihrer eigenen kollektiven Würde. Es war – neben der sprichwörtlichen Disziplin – diese spezifische Würde, die auch Männer ganz anderer Herkunft wie den badischen Innenminister von Bodman beeindruckte. Er sprach 1910, während der Phase nationalliberal-sozialdemokratischer Zusammenarbeit, in der Ersten Kammer des Großherzogtums von einer »großartigen Arbeiterbewegung zur Befreiung des Vierten Standes« , als Lob eines führenden Vertreters der herrschenden Ordnung für die Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich und seinen Einzelstaaten allerdings ganz ungewöhnlich. Insgesamt wurden die sozialen Klassenschranken nicht nur auf die politische Sphäre übertragen, sondern dort auch noch institutionell wie habituell verschärft. Modernisierende, auch liberalisierende Veränderungen innerhalb der bestehenden monarchisch-konstitutionellen Ordnung – teils beabsichtigt, teils unbeabsichtigt – sind nicht zu leugnen; eine durchgreifende Demokratisierung und Parlamentarisierung der Verfassung gelang indessen bis 1918 bekanntlich nicht.
Die das 19. Jahrhundert prägenden, sich weit in das 20. Jahrhundert hineinziehenden, scharf ausgeprägten Klassengegensätze, in Deutschland durch die besonders starke Tendenz zur Herausbildung eines proletarisch-sozialistischen Milieus, haben auch noch die ganze Zeit der Weimarer Republik bestimmt. Trotz parlamentarischer Demokratie und sozialpolitischer Errungenschaften – von der Arbeiterbewegung in der Revolution 1918/19 erkämpft – blieb die in der Selbstabgrenzung global als ›bürgerlich‹ gekennzeichnete Welt, nicht nur die der Unternehmer, sondern auch die der breiten Schichten des ländlichen und städtischen Mittelstands, der neuen angestellten und beamteten Mittelschichten sowie der akademischen Berufe, den Arbeitern fremd. Sie hatten sich ihre eigenen Formen von Geselligkeit und Kultur, meist im Zusammenhang mit den parteipolitischen, gewerkschaftlichen, genossen-schaftlichen, sportlichen und kulturellen Vereinigungen der Arbeiterbewegung, geschaffen, die den Menschen »von der Wiege bis zur Bahre« eine Heimstatt boten. Diese in die Hunderte gehenden, meist lokalen Organisationen verhießen Geborgenheit und solidarisches Zusammenwirken in einer bedrückenden sozialen und politischen Realität. Diese proletarische Gegenwelt war mit der Industrialisierung und der Herausbildung einer industriellen Arbeiterschaft in der zweiten Hälfte, insbesondere im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden.
Nicht allein, aber vor allem in Deutschland fand die trotz allem zweifellos minoritäre Arbeiterbewegungskultur zwischen 1918 und 1933, durch die kommunistischen Konkurrenzgründungen zum Teil sogar noch vermehrt, eine quantitative Ausdehnung und Dichte wie niemals zuvor und danach. Dieses Faktum kann mit erklären, warum die Arbeiterbewegung trotz der staatstragenden Politik der SPD-Führung insgesamt in Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft und in geringerem Maß auch zum republikanischen Staat blieb. Die fortdauernden kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit den wiederholten Wirtschaftskrisen und dem quasi geerbten Lohnarbeiterstatus, der zwar reduzierte, aber nicht nachhaltig gebrochene Einfluss der alten Eliten in Gesellschaft und Staat, schließlich – damit verbunden – die ständige latente Infragestellung des der Weimarer Verfassungskonstruktion zugrundeliegenden Klassenkompromisses zwischen der reformistischen Arbeiterbewegung und dem ›vernunftrepublikanischen‹ Teil des Bürgertums durch selbst die gemäßigten Kapitalgruppen und großbürgerlichen Politiker bewirkten, dass, weit über den kommunistischen Einflussbereich und den linken Flügel der SPD hinaus, die übergroße Mehrheit der Anhänger der Arbeiterbewegung sich weigerte, die Weimarer Republik vorbehaltlos als ihren Staat anzuerkennen.
Ich halte es somit für eine falsche Sicht der Weimarer Republik insgesamt, wie es heute mehr und mehr üblich wird, die fundamental-sozialistische Zielsetzung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu vernachlässigen. Gewiss war es ein anderer Sozialismus als der, den die KPD vertrag, die ihrerseits übrigens nicht nur Moskau-gesteuerter Apparat war (was sie auch war), sondern gleichzeitig Ausdruck eines autochtonen Arbeiterradikalismus.
Die sozialdemokratische Solidargemeinschaft, wie sie sich in der Weimarer Republik am deutlichsten ausprägte und in der Bundesrepublik bis weit in die 50er Jahre, teilweise länger fortbestand, umspannte die verschiedenen Lebensbereiche, hatte ihren Kern aber am Arbeitsplatz, wo sie sich aus Facharbeitern rekrutierte. Eine spezifische Facharbeitermentalität dominierte die Sozialdemokratie auf allen Ebenen der Partei, nicht ganz so eindeutig in der Wählerschaft. Die parteieigenen Bildungsanstalten, die weit verzweigte Presse, die Posten in der kommunalen und staatlichen Parlaments- bzw. Verwaltungsarbeit schufen die Voraussetzung für die Herausbildung einer qualifizierten proletarischen Parteiintelligenz. Seiteneinsteiger mit bildungsbürgerlichem Hintergrund konnte im Einzelfall dominieren, aber nur dann, wenn sie sich dem vorherrschenden Milieu anpassten und die Regeln für partei- oder gewerkschaftsinternen Aufstieg akzeptierten.
Trotz der Prioritätensetzung der SPD auf Wahlkämpfe, parlamentarische Gesetzgebung und Regierungskombinationen erschöpften sich die Tätigkeit und das Selbstverständnis der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung nicht darin. Das dichte und nahezu umfassende Organisationsgeflecht schützte und stärkte wie schon im Kaiserreich die Mitglieder in einem sozialen Umfeld, in dem sie strukturell unterlegen waren. Die in Jahrzehnten eingeübten solidarischen Kampfformen nach außen und Umgangsformen im Innern waren nicht nur funktional, sondern verhießen inmitten der alten, kapitalistischen eine neue Gesellschaft mit einem anderen Wertemaßstab. Die Solidargemeinschaft war auch eine Vorwegnahme des künftigen Sozialismus. Das bedeutet: Für die sozialdemokratischen Facharbeiter bestand zwischen dem ›Endziel‹ der Überwindung des Kapitalismus, der Organisationspraxis, der alltäglichen Arbeit der SPD-Politiker und der Gewerkschaftsvorstände auf allen Ebenen sowie den reformistisch-gradualistischen Transformationskonzepten, wie sie etwa Rudolf Hilferding und Fritz Naphtali vertraten, möglicherweise ein Spannungsverhältnis, aber kein grundsätzlicher Widerspruch. Die Vorstellung, den »organisierten Kapitalismus« durch die Einführung neuer ›wirtschaftsdemokratischer‹ und sozialstaatlicher Elemente sukzessiv und graduell in sozialistische Richtung zu verändern, entsprach in hohem Maß ihrer Erfahrungswelt.

IV.

Nach den Verheerungen des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs, im Hinblick auf unser Thema vor allem in Deutschland, schien es eine kurze Zeit so, als würde die Arbeiterbewegung zur bestimmenden politischen Kraft in ganz Europa werden. 1917 hatten der Sturz des russischen Zarismus und dann die Oktoberrevolution international eine mehrjährige revolutionäre Kriegs- und Nachkriegskrise ausgelöst, die vom Aufschwung der radikalen bzw. kommunistischen Richtung wie auch von aufsehenerregenden Wahl- und Gesetzgebungserfolgen der reformerischen bzw. sozialdemokratischen Richtung gekennzeichnet gewesen war. Jetzt, ab 1943/44, ging die Krise der bürgerlichen Ordnung von der militärischen Wende und vom Aufschwung der nationalen Widerstandsbewegungen in den deutsch besetzten Ländern aus. Der Großbesitz und die tragenden Schichten des alten Staates waren dort wegen der Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus diskreditiert. Es gibt klare Indizien dafür, dass die Bevölkerung in ihrer Mehrheit den Antifaschismus nicht auf die politische Demokratisierung beschränken wollte: Die Macht des großen Kapitals sollte gebrochen und ein Entwicklungsweg »jenseits des Kapitalismus« – so der Titel des damals verbreiteten Buches von Paul Sering = Richard Löwenthal – geöffnet werden, wobei die korrekte Definition des gesellschaftspolitischen Charakters der – in ihren konkreten Elementen bemerkenswert übereinstimmenden – Transformationskonzepte hier außer Betracht bleiben kann. Als ein, verglichen mit 1917-20, günstiger Faktor erschien auch die Unterstützung tiefgreifender gesellschaftlicher Strukturreformen durch Gruppierungen außerhalb der Arbeiterbewegung. Es gab vorübergehend so etwas wie eine bürgerliche Linke von Gewicht.
Ob es sich in den Jahren 1944 bis 1947 tatsächlich um eine gesamteuropäisch vorrevolutionäre Situation handelte, wäre ein eigenes Thema. Bezüglich Deutschlands ist zu recht auf die Kompliziertheit der sozialen und politischen Bedingungen in der Zusammenbruchsgesellschaft, auf die Fragilität und Diffusität der auch hier nachweisbaren antifaschistisch-antigroßkapitalistischen Massenstimmung hingewiesen worden. Abgesehen davon, scheiterte der Vormarsch der Linken hier wie anderswo bereits an der Unfähigkeit und Unwilligkeit der britischen Labour-Regierung, eine von den USA unabhängige Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Labour wurde vielmehr zum Vorreiter einer proamerikanischen, von den US-Gewerkschaften massiv unterstützten Orientierung der westeuropäischen Sozialdemokratie einschließlich der sozialdemokratisch geführten Gewerkschaftsbewegung.
Erfolgreich konnte diese Ablenkung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung vom Ziel des sozialistischen Neubaus deshalb sein, weil die reale Umwälzung im östlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa mehr und mehr, von Anbeginn spürbar auf eine Angleichung an die Methoden und Strukturen der Stalinschen Diktatur in der Sowjetunion gerichtet war. Diese stalinistische Überformung der ›antifaschistisch-demokratischen‹ bzw. ›volksdemokratischen‹ Umgestaltungen schlug direkt und indirekt auf Westeuropa zurück, wo die Stalinisierung bzw. Restalinisierung der kommunistischen Parteien insbesondere in Frankreich, später ebenso in Italien dazu beitrug, die breite und lebendige Aktionseinheit der Arbeiterbewegung um 1945 zu zerstören. Ab Ende der 40er Jahre tat zudem im westlichen Europa die Verbesserung der Lebensverhältnisse aufgrund der Wiederbelebung und Neustrukturierung der kapitalistischen Weltwirtschaft ihre Wirkung. Es kam zu einer historisch einmaligen Verbesserung des Reallohns und generell der materiellen Lebensbedingungen. – Ich habe die Konstellation am Ende des Zweiten Weltkriegs etwas ausführlicher behandelt, weil sie als Erfahrungshintergrund der in den 50er bis 70er Jahren bestimmenden Altersgruppen den Ausgangspunkt der dann folgenden unversöhnlichen Fraktionierung der Arbeiterbewegung entsprechend den Fronten des Kalten Krieges bildete.
Von heute aus erscheinen die vier Jahrzehnte zwischen 1950 und 1990 unter dem Gesichtspunkt der Arbeiterbewegung als Übergangsperiode. Die Voraussetzungen, unter denen bestimmte historische Phänomene als Arbeiterbewegung bezeichnet werden können, änderten sich, zunächst eher schleichend. Ich habe dabei wiederum speziell Deutschland (West) im Blick. Die Einbeziehung der anderen europäischen Länder modifiziert die Aussagen lediglich. Allerdings sah es zeitweise so aus, also ob sowohl hinsichtlich der Ausformung des Klassengegensatzes, als auch hinsichtlich der Intensität und Ausdehnung der Klassenkämpfe der Trend in West- und Südeuropa umgekehrt worden sei. Schon deutlich vor 1990 war jedoch klar, dass dem nicht so war.
Streiks von teilweise beträchtlicher Ausdehnung und Militanz schienen seit den späten 60er Jahren das Wiederaufkommen einer potentiell revolutionären Arbeiterbewegung anzuzeigen, getragen von einer jüngeren, nicht mehr von den Niederlagen und demobilisierenden Erfahrungen der Jahrzehnte davor geprägten Generation. Typisch für diese jüngeren Arbeiter war, dass sie neben den traditionellen Lohn- und Arbeitszeitforderungen vermehrt die Autoritätsverhältnisse in den Betrieben attackierten. Der französische Generalstreik vom Mai 1968, die wiederholten Massenstreiks in Italien und Großbritannien (bis zum legendären Bergarbeiterstreik von 1984/85) und andernorts konnten – zumal nach dem Übergang zu einer stärker krisenhaften Phase der kapitalistischen Weltwirtschaftsentwicklung nach 1974 – auch bei nüchterner Betrachtung den Eindruck vermitteln, als seien die 50er und 60er Jahre eine durch außerordentliche Bedingungen ermöglichte Zeit der vorübergehenden Flaute der Klassenkämpfe gewesen, die nun vorbei sei. In langer Perspektive handelte es sich bei den Massenstreiks der 60er bis 80er Jahre indessen vielmehr um das letzte Aufflammen des alten Arbeiterradikalismus.
In Westdeutschland setzte sich schon bis Mitte der 60er Jahre so etwas wie die Entproletarisierung der Lebenshaltung der Arbeiterfamilien durch; die untere Hälfte der Gesellschaft wurde, ohne ihren Lohnabhängigen-Status zu verlieren, Teil der Konsumgesellschaft. Der Anteil der Arbeiter gegenüber dem der Angestellten im Produktionsbereich und vor allem der Anteil der dort Beschäftigten insgesamt gegenüber dem Dienstleistungssektor nahm jetzt kontinuierlich ab. Die alten Industrien wie Kohle und Stahl verloren ihre ganze Regionen prägende Bedeutung und wurden systematisch abgebaut. Für die Kinder der Arbeiter und noch mehr für die Kinder aus den abhängigen Mittelschichten bot die Bildungsexpansion der 70er Jahre vorher nicht gekannte Aufstiegschancen.
Parallel dazu und sogar noch schneller als die Gesellschaft änderte sich der soziale Charakter der SPD, bei der das traditionelle Facharbeitermilieu zugunsten der neuen Intelligenzschichten und des öffentlichen Dienstes mehr und mehr an den Rand geriet, während sich zugleich die Reformprogrammatik der Partei von ihrem arbeiterbewegungsozialistischen Ursprung löste. Für die Gewerkschaften nahmen sich die Veränderungen nicht ganz so dramatisch aus, aber auch hier spielte der Kampf- und Bewegungscharakter der Organisationen zugunsten ihrer Eigenschaft als Dienstleistungsapparat eine abnehmende Rolle. Protestpotential in den unteren Schichten der Arbeiterbevölkerung, sofern es sich in Wahlen überhaupt artikuliert, schlägt inzwischen eher nach rechtsaußen als nach links aus, und das nicht nur in Deutschland.

V.

Das, was gemeinhin »Globalisierung« genannt wird, begünstigt mittlerweile eine erneute Entgrenzung des Marktkapitalismus, so dass nach dem Scheitern des sowjetkommunistischen Modells auch das wohlfahrtsstaatliche Nachkriegsmodell insbesondere der skandinavischen Sozialdemokratie, also der Idee eines Sozialismus im Rahmen des Kapitalismus, radikal infrage gestellt ist. Währenddessen verändert der Durchbruch der neuesten Technologien, namentlich der Mikroelektronik, die Arbeitswelt radikaler als alles seit der Einführung der mechanisierten Großindustrie. Die Arbeiterexistenz im traditionellen Sinn ist generell nicht mehr gesellschaftsprägend, obwohl der Anteil der selbständigen Wirtschaftssubjekte seit den 50er Jahren noch einmal erheblich zurückgegangen ist. Die zunehmende Segmentierung gesellschaftlicher Erfahrung und das Ausscheiden beträchtlicher Bevölkerungsgruppen aus dem – gerade in der Sicht der Arbeiterbewegung – ›normalen‹ Status lebenslanger Vollerwerbstätigkeit machen die Wahrnehmung gesellschaftlicher Grundstrukturen durch die Individuen nur noch schwer möglich.
Die soziale Ungleichheit nimmt wieder zu, auch in den hochentwickelten Ländern, wo teilweise ein Kapitalismus ohne Industrie, ja ohne Arbeit, entsteht. Die euphemistische Formulierung von den »Modernisierungsverlierern« beschreibt die ständig neue und schon seit den 80er Jahren wieder verstärkte Hervorbringung marginalisierter und relativ pauperisierter Schichten noch unterhalb der etablierten Arbeiterschaft und weitgehend ohne Beziehung zur Arbeiterbewegung: Berufslose und, meist wegen geringer Qualifikation, längerfristig Erwerbslose, unter ihnen besonders Jugendliche, Kinderreiche, besonders Alleinerziehende, Alte, Behinderte und Kranke, Sozialhilfeempfänger und Kleinrentner, scheinselbständige Kümmerexistenzen, Drogenabhängige und Kleinkriminelle sowie andere Gruppen. Sie bilden einen beträchtlichen Teil, je nach Rubrizierung bis zu einem Drittel der Bevölkerung. Die Existenz diesen neuen (Sub-)Proletariats aus den Schwächsten der Gesellschaft stellt die in Europa vielerorts regierende Sozialdemokratie vor die Frage, ob solche Pauperisierungstendenzen nicht die Grundlagen der eigenen parteipolitischen Existenz, sofern damit noch eine bestimmte inhaltliche Substanz verbunden ist, unterminieren, war doch die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert aus Protest gegen die krasse Ungleichheit entstanden und hatte ihre tatsächliche Funktion darin gefunden, den Kapitalismus bis zu einem gewissen Grad zu zivilisieren und zu humanisieren.
Für die Gewerkschaften, die in der Vergangenheit – in manchen Ländern mehr als in anderen – sozial vereinheitlichend wirken konnten, liegt es nahe, das größte Manko in dem geringen Organisationsgrad der neuen Arbeitnehmergruppen mit auch individuell starker Marktposition zu sehen, statt sich den unteren und zu den Verlierern zählenden Arbeiterschichten mit derselben Intensität zuzuwenden. Die Aufgabe, einer sozialen Zerklüftung innerhalb der werktätigen Bevölkerung entgegenzuwirken, stellt sich zudem nicht nur innerhalb der einzelnen Länder, sondern auch für die Europäische Union. Bislang können die Gewerkschaften der Kapitalseite auf europäischer Ebene nicht Paroli bieten. Sie drohen, sollten sie die genannten Herausforderungen nicht bewältigen, längerfristig auf das Niveau amerikanischer oder gar japanischer Gewerkschaften reduziert zu werden.
Wenn man die neu industrialisierten bzw. sich industrialisierenden Länder, die »Dritte Welt« und die Schwellenländer, in die Betrachtung einbezieht, stellt sich die Lage gewiss anders und in mancher Hinsicht eindeutiger dar. Dort wächst unter gesellschaftlichen Verhältnissen, die vielfach von subproletarischem Massenelend gekennzeichnet sind, die Arbeiterklasse im traditionellen Sinn weiter an, und Arbeiterorganisationen spielen immer wieder eine zentrale Rolle beim Ringen um Demokratisierung und sozialen Fortschritt. Es ist wahrscheinlich, das sich das Schwergewicht der ›alten‹ Arbeiterbewegung in die südliche Hemisphäre verlagern wird. Ich sehe allerdings derzeit keine Anzeichen dafür, dass diese Länder oder einige davon theoretisch-programmatisch und organisatorisch eine internationale Avantgarderolle übernehmen könnten.
Die Individualisierung unserer Gesellschaft, zu deren Begleiterscheinungen die Auflösung der sog. sozialmoralischen Milieus, einschließlich des Arbeitermilieus gehört, wird sich nicht einfach rückgängig machen lassen. Die Frage lautet heute wohl eher, ob kleine soziale Netzwerke auf der Grundlage und mit Hilfe nachindustrieller Verkehrsformen vereinheitlicht werden können. Dies wäre allerdings die Voraussetzung dafür, dass aus der Vielheit der in Netzwerke eingebundenen sozialen Proteste und Initiativen eine große solidarische und emanzipatorische Bewegung hervorgehen könnte. Es scheint jedenfalls nicht so zu sein, dass Beruf, Qualifikation und Arbeitsplatz ihre wesentliche Bedeutung für das Selbstverständnis der einzelnen Menschen eingebüßt hätten. Wird jedoch die Arbeiterbewegung oder das, was daran anschließt, imstande sein, ein Verständnis von ›Arbeit‹ zu entwickeln, das deren markt- und industriegesellschaftliche Bestimmung erweitert und den für die Menschheit mehr denn je überlebenswichtigen solidarischen Aspekt ihrer Gestaltung integriert?
Dass die klassische Arbeiterbewegung in Europa an ihr Ende gekommen ist, bedeutet nicht, dass den Kapitalismus korrigierende oder grundsätzlich kritisierende Kräfte nicht in veränderter Gestalt wirksam werden. Alle historische Erfahrung spricht vielmehr gegen die Annahme dauerhafter Domestizierung der abhängigen Menschen, dauerhafter Zersplitterung sozialer (und heute auch ökologischer) Protestbewegungen bzw. Initiativgruppen. Ansätze zur Vereinheitlichung waren bereits zu erkennen wie die weitgehend spontane Streik- und Demonstrationsbewegung, die vor einigen Jahren den Sturz der bürgerlichen Regierung Frankreichs einleitete. Auch die Internationale der Globalisierungskritiker wäre hier zu nennen. In welchen parteipolitischen Konstellationen oder Kombinationen eine neue Sozialbewegung, vermutlich bestehend aus mehreren kleineren, auch immer Ausdruck finden könnte, ich zweifele nicht daran, das sie auf die Organisationsformen, namentlich auf die Gewerkschaften, auf die Traditionen und die Ideale der alten Arbeiterbewegung zurückgreifen wird.

* Auch in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2002