von Peter Brandt
›Globalisierung‹ ist inzwischen ein Allerweltswort, ein schillerndes außerdem. Seine Popularität weist aber darauf hin, dass mit diesem Terminus versucht wird, den weit verbreiteten Eindruck sprachlich einzufangen, die Menschheit sei in ein ganz neues Zeitalter der Herausbildung einer planetarischen Gesellschaft, einer ›Weltgesellschaft‹, eingetreten. Die Floskel, es gelte die ›Globalisierung zu gestalten‹, legt nahe, es handele sich um einen quasi selbstläufigen, gesellschaftspolitisch grundsätzlich neutralen und in mancher Hinsicht sogar progressiven Prozess, der eben nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden müsse. Ich werde am Ende dieses Essays darauf zurückkommen.
Historisch-genetisch zu denken bedeutet, das gesellschaftlich jeweils Vorhandene nicht einfach als gegeben, sondern als auf eine bestimmte Weise geworden in den Blick zu nehmen. Und die Dynamik einer konkreten Entwicklung kann nicht begriffen werden ohne ihre historische Tiefendimension, ohne Berücksichtigung ihrer Voraussetzungen und Vorläufer. Deshalb macht es nicht nur für Fachhistoriker Sinn, bei der Suche nach dem Verständnis der aktuellen Transformationsvorgänge mit globalem Charakter weit in die Vergangenheit zurückzugehen, um das Verhältnis von Kontinuitätselementen und qualitativ Neuem differenzierend erfassen zu können. Obwohl sich unterschiedliche Teilprozesse – wirtschaftliche, politische, militärische, kulturelle – ausmachen lassen, die nicht kontinuierlich und nicht zwingend synchron verlaufen, verschiedene Antriebe haben und auch in der Tiefe und Breite uneinheitlich sein können (und faktisch sind), handelt es sich von der Zeit an, wo man m.E. von ›Globalisierung‹ sprechen sollte, etwa um 1500, im Kern um einen ökonomischen Prozess. Die Geschichte der Globalisierung ist im Wesentlichen die Geschichte des Kapitalismus im Weltmaßstab, genauer gesagt: des im ›Westen‹ entstandenen und zur Blüte gelangten Kapitalismus, der sich von dort aus weltweit durchsetzte.
Auch vormoderne Gesellschaften standen über die Länder und sogar Kontinente hinweg in wesentlich engerem Kontakt untereinander als es der vorherrschend agrarische Charakter der Produktionsverhältnisse, wie der Lebensbezüge überhaupt, mit Selbstversorgungswirtschaft und relativ geschlossenen lokalen Einheiten nahe legen. Neben der Entstehung und dem Untergang von Großreichen mit universellem Anspruch, (meist gewaltsamen) Migrationsbewegungen (›Völkerwanderungen‹) und dem Fernhandel (lange vor allem mit Luxusgütern und Prestigeprodukten für die Oberen) spielten auch religiöser, kultureller und wissenschaftlicher Austausch bzw. Transfer sowie örtliche Mobilität eine mehr als marginale Rolle. Während man in der Schule lernen durfte, der Buchdruck sei um 1450 in Westdeutschland von Johannes Gutenberg erfunden worden, was insofern stimmt, dass die beweglichen Typen erst hier und jetzt auftauchten und eine vorher undenkbare Verbreitung und Beschleunigung des Informationsaustausches ermöglichten, ist heute andererseits sicher davon auszugehen, dass Kenntnisse avancierter technischer Verfahren und fortgeschrittener Ideen über die etablierten eurasischen Verbindungswege, nicht zuletzt über die ›Seidenstraße‹, nach Europa gelangten und die dortige Technologie befruchteten. Auch das Papier war bekanntlich eine alte chinesische Erfindung, die sich über Samarkand und Bagdad nach Europa ausbreitete.
Doch sofern man für die Antike und das Mittelalter von wiederholten Ansätzen einer Art ›archaischer Globalisierung‹ sprechen kann, die über mehr oder weniger kurze, mehr oder weniger folgenreiche militärische Konfrontationen und die angedeuteten Wirtschafts- und Kulturkontakte hinausgingen, brachen diese immer wieder ab. Erst die Entdeckung, Eroberung und europäische Besiedlung Amerikas über den Atlantik, die etwa gleichzeitige militärisch flankierte Seehandelsexpansion Europas an die Küsten der anderen Weltmeere, wobei vorangegangene Umwälzungen in der Militär- und Verkehrstechnologie zu den wesentlichen Voraussetzungen gehörten, änderte dies. Erst jetzt setzte sich die Vorstellung von der Erde als einem ›Globus‹ durch (Magallans erste Weltumsegelung 1519-22). In dieser Periode etwa vom späten 15. Jahrhundert bis zum mittleren 18. Jahrhundert, der ›Frühen Neuzeit‹, evolutionierten in Europa – in blutigen Konflikten und in einem komplizierten Wechselverhältnis mit der zunehmenden Kommerzialisierung der Wirtschaft – die mittelalterlichen Reiche und Fürstentümer zu souveränen Territorialstaaten mit, gemessen an der Vergangenheit wie an anderen Weltgegenden, ethnisch-kulturell und religiös bzw. konfessionell relativ einheitlichen Bevölkerungen.
Dass sich Europa – genauer gesagt: West- und Mitteleuropa – als militärisch und ökonomisch dynamischste Großregion durchsetzten konnte, während das in vieler Hinsicht fortschrittlichere China zurückblieb und schließlich verfiel, beruhte – neben tieferen gesellschaftlichen Ursachen – vordergründig auf einer bewussten Entscheidung der Führung Chinas in den 1430er Jahren, den dort hoch entwickelten Schiffsbau einzustellen. Politische Fehlentscheidungen konnten somit dramatische Folgen haben, auch wenn sie selbstverständlich nicht unabhängig von ihren strukturellen Voraussetzungen zustande kamen. Nach 1700 fielen dann auch die Osmanen und andere asiatische Reiche in der Schifffahrtstechnik und Seerüstung zurück.
Die sukzessive ›Entdeckung der Welt‹ und die Etablierung europäischer Kolonialreiche in Übersee, zuerst seitens der iberischen Monarchien, schufen regelmäßige Verbindungen zwischen den Kontinenten. Die weltweite Verbreitung von Genussmitteln wie Tabak, Rohrzucker, Tee, Kaffee und Kakao sowie die Einfuhr von Nutzpflanzen wie Reis, Mais und Kartoffel brachten erstmals Veränderungen im Konsum für nennenswerte Teile der Bevölkerung, auch wenn dies nicht vor der Mitte des 18. Jahrhunderts und zunächst nur in der angelsächsischen Welt für die Masse der Menschen griff. Es entstanden über die Weltmeere handelskapitalistische, arbeitsteilige Wirtschaftsnetze, die die vorkapitalistischen Produktionsweisen, auch die in Europa vorherrschende agrarisch-feudale, überlagerten und die Herausbildung verdichteter, auf den überregionalen Markt ausgerichteter (›protoindustrieller‹) Gewerbezonen begünstigte. ›Revolutionen des Fleißes‹ nicht allein, aber vor allem in Europa, Verbesserungen der Verkehrsmittel sowie der Verkehrsinfrastruktur und nicht zuletzt die Schaffung eines leistungsfähigen Finanzwesens fügten dem Wirtschaftsleben schon vor der eigentlichen, am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Industrialisierung qualitativ neue Elemente hinzu.
Der erste im buchstäblichen Sinn weltumspannende Handelsstrom ergoss sich aus den Silberminen Mexikos und Perus sowohl über den Atlantik nach Spanien und von dort weiter zu dessen Geschäftspartnern in Europa und dem Nahen Osten, als auch über den Pazifik und die damals spanischen Philippinen nach China, wo Seidenstoffe eingekauft wurden. Der durch den Silberzufluss verursachte rapide Preisanstieg zerrüttete die ständische Sozialordnung, strapazierte die staatlichen Finanzen und steigerte, so die Wahrnehmung der Zeitgenossen, die allgemeine materielle Gier ins Unermessliche. Das Jahrhundert etwa zwischen 1550 und 1650, als sich das Preisniveau in Europa ungefähr vervierfachte, war eines der gewaltsamsten in der an blutigen Fehden, Kriegen und Bürgerkriegen reichhaltigen Geschichte des Kontinents.
Für die ›Eingeborenen‹ der Kolonien, namentlich Amerikas, bedeutete die europäische Fremdherrschaft Unterwerfung, Verdrängung und Dezimierung durch Waffengewalt oder eingeschleppte Krankheiten. Um Arbeitskräfte für die Plantagen der weißen Siedler vor allem in der Karibik und im Südosten Nordamerikas heranzuschaffen, wurde über kollaborierende afrikanische Häuptlinge ein lukrativer transatlantischer Handel mit insgesamt bei Ankunft über 10 Millionen noch lebenden schwarzen Sklaven eingerichtet, zusammengenommen der gewichtigste globalisierte Wirtschaftszweig bis ins frühe 19. Jahrhundert. Die Industrialisierung im engeren Sinn machte Europa, genauer gesagt: Nordwesteuropa und vor allem England, das im 17. Jahrhundert, zunächst noch neben den Niederlanden und Frankreich, an die erste Stelle getreten war, zum unangefochtenen Welthegemon. Die Kriege des mittleren 18. Jahrhunderts, dann um 1800 zwischen Großbritannien und Frankreich bzw. der von ihnen angeführte Koalitionen, die auf verschiedenen Kontinenten ausgetragen wurden, waren in gewisser Weise bereits Weltkriege, aus denen das auf den Seehandel und die Herrschaft über die Meere gestützte British Empire als die einzige Supermacht des 19. Jahrhunderts hervorging.
In der Periode vom mittleren oder späten 18. Jahrhundert bis zum späten 19. Jahrhundert erweiterte und intensivierte sich die weltwirtschaftliche Verflechtung unter dem zunehmenden Einfluss industrieller Fertigungs- und Verkehrskapazitäten, wobei die neuen dampfbetriebenen Transportmittel, Eisenbahn und Dampfschiff, schon wirksam wurden, bevor die Industrieproduktion um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Wachstumsraten auch global anzuheben begann. Die Industrialisierung lässt sich selbst in ihrem Ausgangsland ohne den internationalen Kontext nicht darstellen, weil ihr Leitsektor, die Baumwollherstellung, von einem zu importierenden Rohstoff abhing und in der Konkurrenz zur Produktion in dem britisch beherrschten Indien stand. Charakteristisch war die weitgehende Auflösung der amerikanischen Kolonialreiche bei gleichzeitiger weiterer Aneignung anderer Kolonien, hauptsächlich Indiens durch Großbritannien, sowie kapitalistischer Durchdringung und Vernetzung der gegebenen Gesellschaften. Diese beinhaltete keine weltweite Industrialisierung – dazu ist es bis heute nicht gekommen, wo manche Länder bereits in ein so genanntes postindustrielles Zeitalter eingetreten sind –, vielmehr wurden autochthone Entwicklungsansätze in der südlichen Hemisphäre im Interesse der Metropolen gewaltsam beendet oder deformiert, und die Zurückdrängung, ja weitgehende Ausrottung indigener Völker setzte sich fort. Die um Europa und Nordamerika zentrierte globale Kapitalisierung bedeutete zugleich die weltweite Durchsetzung der Lohnarbeit als der vorherrschenden Form abhängiger Arbeit in allen Wirtschaftssektoren, ohne dass andere Formen, auch solche mit persönlicher Unfreiheit der Beschäftigten, verschwunden wären.
Obwohl sich der Terminus ›Weltwirtschaft‹ umgangssprachlich erst später durchsetzte, kann man von einer weltwirtschaftlichen Struktur bereits für das 19. Jahrhundert, jedenfalls seit der Jahrhundertmitte, sprechen. Man geht von einer 25fachen Erweiterung des globalen Handelsvolumens zwischen 1800 und 1913 aus, wobei der Handel bedeutend schneller expandierte als die Produktion. Beim Austausch wie bei der Erzeugung entfiel ein weit überproportionaler Anteil auf Europa, Nordamerika und die anderen weißen Siedlerkolonien. Schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert verließen –zig Millionen Menschen auf Dauer ihre Heimat, um als Bauern oder Arbeiter andernorts, auch in Übersee, ein bescheidenes, doch relativ besseres Auskommen zu suchen. Im mittleren und späten 20. Jahrhundert setzten sich die Massenwanderungen fort, zuerst als staatlich durchgeführte Vertreibungen in annektierten Territorien, später als Arbeitsmigration und Asylsuche.
Seit Aufhebung der britischen Kornzölle 1846 entgegen den Interessen der Agrarier stand der weltweite Freihandel auf der Tagesordnung, was binnen zwei Jahrzehnten grosso modo gelang. Der Freihandel wurde mit humanitären und liberalen Argumenten begründet und zwecks Marktöffnung gegenüber störrischen Herrschern und Völkern mit militärischen Druck oder gar regelrechtem Krieg umgesetzt. Während das in den 1850er Jahren von der US-Marine geöffnete Japan die Chance zu einer radikalen Selbstreform (»Meiji-Restauration« ab 1868) nutzen konnte, die um die Wende zum 20. Jahrhundert seinen Aufstieg in die Reihe der modernen Großmächte ermöglichte, bedeutete der britische Opiumkrieg gegen China 1839-42, dass das Riesenreich auf den Status einer nachrangigen, von den europäischen Mächten abhängigen, in sich mehr und mehr zerfallenden und rückständigen Satrapie reduziert wurde. Der technologisch bedingte militärische und maritime Vorsprung des Westens war inzwischen uneinholbar.
Eingeleitet wurde der scheinbar fast selbstläufige Siegeszug des Kapitalismus im 19. Jahrhundert durch eine tiefe, revolutionäre Krise der politischen Strukturen in den Jahrzehnten um 1800. Dabei ist nicht nur an die nordamerikanische Unabhängigkeits- und Verfassungsrevolution seit 1775 und die Französische Revolution seit 1789 zu denken. Auch der erfolgreiche Aufstand der schwarzen Sklaven auf Haiti, der die dortige Zuckerrohrproduktion schlagartig dem Weltmarkt entzog, die Ablösung Lateinamerikas von Spanien bzw. Portugal, in Europa die napoleonische ›Revolution von außen‹ wie auch die antinapoleonisch motivierten Reformen und Befreiungsbewegungen setzten trotz aller verzögernden Elemente in der Summe einen politischen Paradigmenwechsel durch, dessen zentrale Ideen selbstbestimmte (wie auch immer definierte) Nationen und – in beinahe untrennbarer Verbindung damit – der (bis ins frühe 20. Jahrhundert noch vorwiegend monarchische) Verfassungsstaat waren.
Im Hinblick auf die materielle Überlegenheit und Fortschrittlichkeit des Westens sowie auf die darin enthaltene egalitäre Komponente wurden die nationalen und liberalen Ideen im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts von einem Teil der Eliten in Lateinamerika, Asien und Afrika übernommen und gegen die Vorherrschaft Europas gekehrt. Der Export bzw. Import europäischer Institutionen und Denkweisen war letztlich die Voraussetzung für die staatlich-nationale Emanzipation der südlichen Hemisphäre im 20. Jahrhundert.
Die Epoche etwa seit 1890 war zugleich die Zeit des modernen Imperialismus, dessen Antriebe sowohl ökonomischer (Rohstoff- und Absatzmärkte, Kapitalexport) als auch militärisch-politischer (Ausdehnung der territorialen Machtbasis, Land- und Seestützpunkte, ›Weltpolitik‹), sozialpolitischer (Ablenkung innerer Spannungen nach außen) und ideologischer (Zivilisierungsmission, Nationalismus neuen Typs, Sozialdarwinismus bzw. hierarchisierende Rassenlehre) Art waren. Der Imperialismus, der sich ja technisch modernster Instrumente bediente, wurde von der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht als Ausdruck übersteigerten und im Grunde veralteten Machtpolitik, sondern vielmehr als Ausdruck der modernen Erscheinungsform der Nationalstaaten zur Bewältigung neuer Aufgaben zwecks Ermöglichung ungehinderten Fortschritts und Wohlstands wahrgenommen.
Bis zur Jahrhundertwende eigneten sich die großen und kleineren europäischen Staaten die meisten der noch nicht aufgeteilten Ländereien Afrikas und Asiens an. China blieb formell selbständig. Die USA, deren Expansionsdrang rund ein Jahrhundert lang der Erschließung des inneren Westens gegolten hatte, traten nun als direkte Kolonialmacht (kriegerische Aneignung Kubas und der Philippinen 1898) und mehr noch als imperiale Vormacht (in Lateinamerika und Teilen Chinas) in Erscheinung. Für das zaristische Russland blieben die Annexion und die Quasiannexion zusätzlicher Gebiete an den asiatischen Rändern des Staatsgebietes bestimmend.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, als die imperialistische Weltordnung Gestalt annahm, setzte eine weitere Stufe forcierter Globalisierung ein, die dann in eine drei Jahrzehnte andauernde Epoche der konvulsiven De-Globalisierung überging. Vorausgegangen war ab 1873 eine schwere Konjunktur- und agrarische Strukturkrise der Weltwirtschaft, gefolgt von einer längeren Phase reduzierten Wachstums. Von den Landwirten Europas, die sich gegen den Zustrom billigen amerikanischen und russischen Getreides schützen wollten, und von jenen Industriegruppen, die nicht in erster Linie exportorientiert waren, ging der Druck aus, der ab Ende der 1870er Jahre in etlichen Ländern einen zollpolitischen Kurswechsel zum Protektionismus und eine innenpolitische Umgruppierung bewirkte. Dennoch kam es in der Folgezeit noch einmal zu einem enormen Schub globaler Wirtschaftsverflechtung. Die neue Prosperität seit den 1890er Jahren beruhte auf der Modernisierung der traditionellen und nicht zuletzt auf dem Aufstieg moderner Wachstumssektoren, in erster Linie der Elektro- und der Chemieindustrie. Die seit 1870/1880 zwischen den Kontinenten einsetzbare Telegraphie bedeutete eine Revolutionierung der Informationsübermittlung und schuf eine der technologischen Voraussetzungen für die Entstehung einer internationalen Presselandschaft, auch für eine relativ kleine, aber wachsende Zahl (meist europäisch) Gebildeter in den Kolonien und den formell selbständigen Staaten der südlichen Hemisphäre. Ereignisse wie der japanische Seesieg über Russland, der den Wiederaufstieg Asiens ankündigte – zugleich ein destabilisierendes Moment bei der Auslösung der Russischen Revolution von 1905/06 – oder der legendäre Untergang der Titanic 1912 wurden jetzt zeitnah als Weltsensationen wahrgenommen.
In den Jahrzehnten um 1900 wuchsen übernationale Handelsnetze zu einem wahrhaft weltumspannenden einheitlichen System zusammen, dessen Zentrum in London lag, dem trotz des Nachlassens in den produktiven Sektoren weiterhin dominierenden Kapital- und Geldmarkt. In der britischen Hauptstadt liefen die Fäden zusammen, die die Metropolen und die Peripherie der Weltwirtschaft miteinander verbanden und auch große Teile der industrialisierten Welt, sogar Konkurrenten wie die USA und das Deutsche Reich, einbezogen. Die ärgsten Rivalen, die aus ihrer spezifischen Interessenlage heraus abweichende, stärker binnenmarktorientierte oder staatlich beeinflusste und monopolistisch ›organisierte‹ Modelle des Kapitalismus ausformten, waren zugleich die besten Kunden und die wichtigsten Lieferanten der Briten, wobei der allgemein verabredete Goldstandard die nationalen Währungen zusammenschloss. Der komplexe Mechanismus band die unterschiedlichen Weltregionen bzw. die jeweiligen Großkaufleute und Bankiers, Industriellen und Großagrarier durch wechselseitige Abhängigkeiten aneinander, auch wenn der zunehmend ›parasitäre‹ Charakter der britischen Außenwirtschaftsbeziehungen (Ausgleich des Handelsdefizits nur durch den Rückfluss im Ausland erworbener Wertpapiere) die Führungsrolle Großbritannien längerfristig in Frage stellte.
Es waren von den Eliten der ›Mutterländer‹ gelenkte Territorialimperien, die um 1900 die wirtschaftlich immer weiter integrierte Welt in gegenseitiger Konkurrenz politisch strukturierten und die weltwirtschaftliche Entwicklung zugunsten der jeweiligen Nationalökonomien zu beeinflussen suchten, wobei hinsichtlich der Industrieproduktion und des technisch-industriellen Fortschritts Deutschland und, mehr noch, die USA Großbritannien bereits hinter sich ließen. Die weltumspannenden Militärbündnisse, die zwischen 1902 und 1907 Gestalt annahmen und sogar die britisch-russischen Gegensätze in Asien zurückstuften, sowie das quantitative und qualitative Wettrüsten zu Lande und zu Wasser machten die Entladung der zahlreichen Spannungen wahrscheinlicher, und die Mechanismen der Allianzen lösten im Sommer 1914 dann auch jene Kettenreaktion aus, die aus einer regionalen Krise den ersten industrialisierten Weltkrieg werden ließ.
In der Zwischenkriegszeit gelang es nicht mehr, an die Prosperität der Jahre vor 1914 anzuknüpfen. Neben der Stagnation des ›komplementären‹ Austauschs mit den Exportländern des Südens, wo während des Ersten Weltkrieges die Kapazitäten größtenteils erheblich erweitert worden waren, drückte sich das weltwirtschaftliche Ungleichgewicht in der Exportüberlegenheit der USA, Großgläubiger aus der Kriegsfinanzierung der Entente, gegenüber Europa – New York trat jetzt an die Stelle Londons – und dem Mangel an stabilen weltwirtschaftlichen Institutionen und stabilisierenden Verhaltensweisen aus. 1929-32 führte das Zusammentreffen einer strukturellen Rohstoff- und Agrarkrise mit einer zyklischen Überproduktionskrise, vermittelt über die Finanzmärkte, wo die kurzfristigen amerikanischen Anleihen zurückgezogen wurden, zu einer in ihrer Tiefe nie gekannten Weltwirtschaftskrise. Ihre Wirkungen waren dramatischer Art, auch in der Politik, wo in erster Linie an die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland zu denken ist. Der Zerfall des Weltwährungssystems und die Fragmentierung der Weltwirtschaft in konkurrierende Machtblöcke wurden von deren Beteiligten meist mit – nach innen wie nach außen –unterschiedlichen protektionistischen, in einigen Fällen stark dirigistischen Maßnahmen beantwortet, mit denen man der global depressiven Tendenz der Ökonomie in den 1930er Jahren entgegenzusteuern suchte.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit allen seinen materiell und biologisch destruktiven, psychisch brutalisierenden Folgen war nach den viel zitierten Worten von George F. Kennan tatsächlich die »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts«; er war in besonderem Maß eine Katastrophe für die sozialistische Arbeiterbewegung, die im politischen Feld die einzige relevante internationale Bewegung darstellte, auch wenn ihr Schwergewicht eindeutig in Europa lag. Sie konnte den Krieg weder verhindern, noch sich länderübergreifend auf eine gemeinsame Haltung dazu verständigen, noch die Beendigung des ›Völkermordens‹ und einen Friedensschluss ›ohne Annexionen und Kontributionen‹, wie man ihn bei allen Differenzen dort ganz überwiegend erstrebte, durchsetzen. Und wenn die Massenproteste vor allem aus der Arbeiterschaft gegen die Versorgungsnot und die Fortsetzung des Krieges in allen kriegführenden und etlichen der neutralen Länder ab Frühjahr 1917 in einen historisch einmaligen Aufschwung der Gewerkschaften und Arbeiterparteien reformerischer wie revolutionärer Ausrichtung in den Nachkriegsjahren überging, flankiert von antiimperialistischen Erhebungen hauptsächlich in Asien, so wurde deren Durchsetzungskraft doch wesentlich gebremst von dem sich verfestigenden Schisma zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten bzw. (damit nicht deckungsgleich) der inhaltlichen Unvereinbarkeit zwischen demokratisch-emanzipatorischem, autoritär-etatistischem und despotischem Sozialismus.
Die Lohnarbeiterklasse mit dem Industrieproletariat als Kern war von Anfang an in hohem Maß Ergebnis auch der globalen Aspekte der kapitalistischen Entwicklung. Das Phänomen etwa der Ruhrpolen, die aus dem preußischen Osten in das neue schwerindustrielle Zentrum Westdeutschlands wanderten – Entsprechungen gab es in anderen Ländern –, wurde in den Schatten gestellt von Gruppen wie den chinesischen Vertragsarbeitern, die in den Zinnminen des britischen Malaya, dirigiert von europäischen Ingenieuren und Managern, für den Export förderten und der ethnisch gemischten, aus den immer neuen Wellen der Zuwanderung aus Europa rekrutierten Industriegesellschaft der USA.
Auch wenn die Organisationen der sozialistischen Arbeiterbewegung lange vor allem von Handwerksgesellen und traditionellen Facharbeitern getragen wurden und naturgemäß im nationalstaatlichen Rahmen agierten, verstanden diese schon früh die globale Dimension ihrer Existenz und formulierten eine internationale Zielsetzung (international, nicht anti- oder anational!). Man kann die Geschichte der Arbeiterbewegung auch als Geschichte ihrer internationalen Zusammenschlüsse schreiben: der Internationalen Arbeiter-Assoziation von 1864, der Sozialistischen Arbeiterinternationalen von 1889, erneuert 1919/23 und – unter dem Namen Sozialistische Internationale – 1951 sowie der Kommunistischen Internationalen von 1919, dazu die entsprechenden übernationalen gewerkschaftlichen Dachverbände und, weniger bedeutend, eine Reihe von anarchistischen, trotzkistischen usw. Gruppierungen.
Der gigantische Menschenversuch der Erschaffung einer neuen Gesellschaft ausgerechnet im rückständigen Russland, der, wenn auch nicht zwangsläufig, in Stalins massenmordender Modernisierungsdiktatur gipfelte, fand seine Legitimation ursprünglich allein in der festen Erwartung der Revolutionäre, im Osten das ›schwächste Kettenglied‹ des Imperialismus zu zerschlagen und mit der ›Umwandlung des Völkerkriegs in den Bürgerkrieg‹ eine Initialzündung für die ›Weltrevolution‹ zu geben. Wie immer das soziale und politische Wesen des neuen Sowjetrussland einzuschätzen war, mit der Entstehung der UdSSR trat ein neuartiges Staatsgebilde in die internationale Arena, das die realpolitischen Großmachtambitionen seiner bürokratischen Elite mit einem kompletten, umstürzenden Gesellschaftsentwurf auf globaler Ebene verband und allein durch ihr Vorhandensein eine Herausforderung für die bürgerlich-kapitalistische Umwelt darstellte, nicht zuletzt, weil ein Sechstel der Erde über das Staatseigentum und das Außenhandelmonopol ausländischem Kapital und dem Weltmarkt überhaupt weitgehend entzogen wurde.
Etwa gleichzeitig mit dem Auftreten des Bolschewismus nahm eine andere halbeuropäische Flügelmacht ihr weltpolitisches Engagement auf: Die USA traten im Frühjahr 1917 auf Seiten der Entente in den Weltkrieg ein, dessen Finanzierung sie schon zuvor ermöglicht hatten, und gaben dem Krieg dadurch immerhin plausibler als vorher den Anschein einer ideologischen Auseinandersetzung zwischen ›Demokratie‹ und ›preußisch-deutschem Militarismus‹. Obwohl der Repräsentant des Programms, durch nationale Selbstbestimmung und Völkerbund »to make the world safe for democracy«, der liberale US-Präsident Woodrow Wilson, mit seinen eher traditionell-imperialistischen Bündnispartnern Kompromisse schließen musste, der Versailler Frieden von Wilsons Prinzipien weit entfernt war und die USA sich auf der institutionellen Ebene wieder von der Weltpolitik zurückzogen, blieb – wie im russischen, wenn auch mit entgegengesetzten Konzepten – auch im amerikanischen Fall die spezifische Verbindung von Gesellschaftspolitischem und Planetarischem charakteristisch. Unabhängig davon, ob in der Folgezeit ›Idealisten‹, ›Realisten‹ oder gar ›Isolationisten‹ in Washington den Ton angaben, galt die Grundüberzeugung, der weltweit ungehinderte Fluss von Waren und Kapital läge ebenso im Interesse der USA als mittlerweile mit Abstand stärkster kapitalistischer Volkswirtschaft wie die Ausbreitung liberal-demokratischer Verfassungen (Letzteres jedenfalls im Prinzip).
Im Zweiten Weltkrieg arbeitete die Roosevelt-Administration diese Leitlinie zur Vision des wieder einheitlichen kapitalistischen Weltmarkts und der politisch ›Einen Welt‹ unter behutsamer US-amerikanischer Führung, mit Großbritannien als Juniorpartner und der Sowjetunion, die sich nach und nach ökonomisch öffnen und liberalisieren sollte, als Festlandsdegen und saturierte Ordnungsmacht in Europa aus. Auch die alten imperialistischen Staaten haben ihre historische Mission propagiert und einen bestimmten Anspruch auf Mitwirkung bei der Gestaltung des Globus vertreten, doch entbehrten sie des Universalismus, den die beiden jungen Riesenreiche verkörperten, weil diese anders keine Chance sahen, die planetarische Szene zu beherrschen. Sogar die technisch höchst moderne, perfekt-terroristische und genozidal-barbarische Rebellion des faschistischen Staatenblocks unter der Führung Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg gegen die abendländische Zivilisation, die sich mit älteren Großmachttraditionen, tradierten imperialistischen Gegensätzen und ethnisch-kulturellen Konflikten verband, zielte bei allem Größenwahn der Führungsgestalten auf partikulare Lösungen: Es ging den Hasardeuren an der Spitze des ›Dritten Reiches‹ so wenig wie der japanischen Militärclique um die Weltherrschaft oder ein Programm für die Menschheit, sondern um die Schaffung und Konsolidierung eines unbesiegbaren, möglicherweise um Teile Asiens und Afrikas erweiterten, kontinentalen, relativ autarken ›Großraums‹.
Auschwitz, Gulag und Hiroshima markierten um die Mitte des 20. Jahrhunderts eine qualitativ neue Station in der Menschheitsgeschichte, auf der wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politischer Wille in ein entgrenztes Zerstörungs- und Vernichtungshandeln einmündeten. Die Unfassbarkeit des von den deutschen Nationalsozialisten und ihren ausländischen Helfern betriebenen systematisch-maschinellen Völkermordes an den Juden wurde von den Siegermächten beendet, und die Gründung des Staates Israel 1948 wurde von der internationalen Gemeinschaft sanktioniert; die längerfristige Wirkung auf die kollektive Psyche vor allem, aber nicht allein des israelischen und deutschen Volkes, war bei Kriegsende noch nicht abzusehen und trat erst im Laufe der 1960er und 70er Jahre deutlicher hervor.
Das Gulag-System mit seiner Sklavenarbeit existierte weiter, bis die Nachfolger Stalins die Zwangsarbeitslager auflösten – zweifellos der relevanteste Teil der ›Entstalinisierung‹ – und die ›totalitäre‹ und terroristische Diktatur sukzessive in eine eher autoritäre umformten. Die schrittweise Angleichung großer Teile Südost- und des östlichen Mitteleuropas an die Herrschafts- und Gesellschaftsordnung der Sowjetunion seit 1944/45 sowie die dadurch erfolgte Hervorbringung eines sowjetisch geführten östlichen Blocks – von vornherein beabsichtigt oder nicht – machte zwar die amerikanische Leitvorstellung der ›Einen Welt‹ hinfällig, erleichterte aber den USA ganz wesentlich die Formierung eines westlichen Blocks mit der NATO als politisch-militärischem Kern der ›freien Welt‹ und unter weitgehender Einbeziehung des sozialdemokratischen Zweigs der internationalen Arbeiterbewegung als eine Art linken Flügels der ›Weltdemokratie‹. Es gab nur noch zwei ›Supermächte‹; der Ost-West-Konflikt – zugleich Großmachtkonkurrenz, Konflikt zwischen Kapitalismus und bürokratisch-kollektivistischem Etatismus sowie Auseinandersetzung zwischen den politischen Ordnungen der repräsentativen Demokratie und der pseudo-plebiszitären, diktatorischen ›Volksdemokratie‹ – beeinflusste und überlagerte für Jahrzehnte sämtliche zwischen- und innerstaatlichen Auseinandersetzungen, den Ungarnaufstand 1956 und die diversen israelisch-arabischen Kriege ebenso wie die portugiesische Revolution 1974/75 und namentlich die Befreiungsbewegungen in der nun so genannten ›Dritten Welt‹. Unter Führung der Kommunistischen Partei Mao Tse-tungs und unter enormen Menschenopfern gelang in der unmittelbaren Nachkriegszeit die nationale Einigung und Befreiung Chinas, das damit nach über einem Jahrhundert der Erniedrigung und Verstümmelung als selbständiger politischer Akteur auf die weltpolitische Bühne zurückkehrte und den USA in Korea (1950-53) sogleich militärisch Paroli bot.
In globalgeschichtlicher Perspektive war der doppelte Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945, mindestens so sehr politisch wie militärisch motiviert, der einschneidendste Vorgang. Die Möglichkeit der schlagartigen Auslöschung ganzer Völker, der Menschheit überhaupt, militärisch gesprochen: vor allem die mit Verzögerung auch von der UdSSR erreichte Zweitschlagskapazität, begründete eine erdumfassende Schicksalsgemeinschaft, die von den leitenden Politikern im Weißen Haus und im Kreml nach und nach als Verantwortungsgemeinschaft verstanden wurde, jedenfalls in dem Sinn, dass die direkte Konfrontation der Supermächte, die in der Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62 die Welt an den Rand der nuklearen Katastrophe gebracht hatte, unbedingt vermieden werden müsse. Im Laufe der 1960er und frühen 70er Jahre wurden aus der Kriegsvermeidung und Entschärfung des Kalten Kriegs ein, gewiss widersprüchlicher und von Rückschlägen begleiteter, aber letztlich nicht mehr abgebrochener Entspannungsprozess (in den sich dann auch die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik mit ihren spezifischen Interessen und ihrer eigenen Akzentsetzung einschaltete).
Neben der Ost-West-Teilung der nördlichen Hemisphäre und dem Kalten Krieg war die Entkolonialisierung der beherrschende weltgeschichtliche Prozess. Bis zu den frühen 1960er Jahren war die Unabhängigkeit der neuen Staaten ganz überwiegend vollzogen oder eingeleitet, häufig unter heftigen Konvulsionen, wiederholt in blutigen Guerilla-Befreiungskriegen, so in Algerien 1954-62 und in den afrikanischen Provinzen Portugals (1961-74 bzw. 1964-74). Namentlich in Asien (vor allem in Indien und Pakistan) und im Nahen Osten trug die Erschütterung der Stellung der alten europäischen Kolonialmächte im Zweiten Weltkrieg entscheidend zur Beschleunigung der nationalen Emanzipation bei, und starke Gruppen unter den nationalpatriotischen Teilen der einheimischen Eliten orientierten sich in Frontstellung gegen den Westen mit derselben Selbstverständlichkeit an Moskau oder Peking, wie sie bis 1945 Tokio und Berlin als (zumindest taktisch) natürliche Verbündete gesehen hatten.
Die USA waren mit der Erbschaft umfangreichen Kolonialbesitzes nicht belastet, hielten ihren lateinamerikanischen Hinterhof jedoch in einer vergleichbaren ›neokolonialen‹ Abhängigkeit. Sie begrüßten und beförderten zeitweise das Ende der alten Kolonialherrschaft – im Herbst 1956 nötigten sie die Briten und Franzosen sogar gemeinsam mit der Sowjetunion dazu, ihre bewaffnete Intervention gegen die Verstaatlichung des Suezkanals durch Ägypten einzustellen – ; gleichzeitig traten sie aber auch das Erbe des europäischen Imperialismus an, teilweise in einem ganz unmittelbaren Sinn. Auch wenn – anders als gegenüber Kuba – im vietnamesischen Fall wirtschaftliche Interessen keine wesentliche Rolle spielten, wurde der kommunistisch geführte Unabhängigkeits- und Wiedervereinigungskrieg Vietnams gegen die USA, der bereits 1940 in Auseinandersetzung mit den Japanern begonnen hatte und 1946 gegen die Franzosen wieder aufgenommen worden war, ein exemplarisches, ab 1964 rund ein Jahrzehnt andauerndes Ringen. Die Niederlage in Vietnam, wobei die inneramerikanischen und internationalen Proteste gegen den Krieg ein ebenso wichtiger Faktor waren wie die militärischen Aktionen der Nordvietnamesen und der südvietnamesischen Befreiungsfront, bedeutete eine deutliche, allerdings vorübergehende und eher moralische, Schwächung der USA in ihren weltpolitischen Handlungsmöglichkeiten.
Durch die Ausschaltung der Achsenmächte und die Degradierung Großbritanniens zu einem auch finanziell abhängigen Bündnispartner zweiter Ordnung waren die USA nach 1945 imstande, die Grundlinien einer neuen Weltwirtschaftsordnung, jedenfalls für die kapitalistischen Länder, zu bestimmen, die durchaus unmittelbaren amerikanischen Interessen dienlich sein sollte, aber zugleich von dem Gedanken getragen war, eine erneute Zerrüttung des ökonomischen und politischen Gefüge des Globus zu verhindern. Eine wesentliche Erkenntnis bestand darin, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau (West-) Europas ohne die Einbeziehung Westdeutschlands nicht möglich sein würde, eine andere darin, die Verschuldung der europäischen Alliierten bei den USA nicht wie nach dem Ersten Weltkrieg, wo sie überdies mit der Reparationsfrage unheilvoll verbunden war, als ungelöstes Problem weit in die Nachkriegszeit zu schleppen. Der Marshall-Plan bot eine Alternative, indem er Sieger und Besiegte zur Kooperation zwang, und fügte sich in das mit der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond (IWF) und dem auf weitgehenden Freihandel zielenden Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) institutionalisierte Regime ein. 1957 kam als Regionalorganisation die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft der Sechs (Frankreich, Italien, Deutschland und die Benelux-Staaten), der Vorläufer der EU, hinzu.
Die Verwirklichung der wirtschaftsliberalen Prinzipien erfolgte indessen nur schrittweise und selektiv. Die auch wirtschaftliche Rolle der Nationalstaaten blieb, namentlich auf dem großen Feld der Infrastruktur-, Kommunikationsmittel und Verkehrsentwicklung (Flugverkehr), beachtlich; die Eigenständigkeit der EWG wurde größer. Erst in den 1970er Jahren war der bereits vor dem Ersten Weltkrieg erreichte Grad ökonomischer Verflechtung – bezogen auf die nicht kommunistisch regierte Welt – eingeholt.
Die Wiederbelebung des liberalisierten Weltmarkts unterstützte die Wachstumsimpulse, die vom materiellen Wiederaufbau ausgingen. Die Rekonstruktionsperiode setzte sich fort in einem lang anhaltenden, wenig unterbrochenen Boom. Der reale Welthandel, gemessen an den Exporten, wuchs in den 1950er Jahren jährlich doppelt so schnell wie in den Jahren zwischen 1890 und 1914 und fünfmal so schnell wie in den Jahren 1914 bis 1950. Der Aufschwung fand sein Ende erst Mitte der 1970er Jahre mit der durch den Ölpreisschock ausgelösten (doch nicht allein dadurch verursachten) internationalen Konjunkturkrise, die in eine Phase langsameren Wachstums und stärkerer Krisenanfälligkeit überleitete. Die Position selbständiger und selbständig werdender Entwicklungsländer, abgesehen von denen, die einen radikalen Systemwechsel erlebten, im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft verschlechterte sich. Ob sie ihre vorwiegende Rolle in der internationalen Arbeitsteilung als Lebensmittel- und Rohstofflieferanten annahmen (weil die führenden Gruppen als Großgrundbesitzer bzw. Kaufleute davon profitierten) oder eine Politik autonomer, importsubstituierender Industrialisierung – sei es unter mehr privatkapitalistischen, sei es unter mehr staatskapitalistischen Vorzeichen – dagegen setzten, die Entwicklungsländer waren in aller Regel nicht in der Lage, Pro-Kopf-Wachstum in einer Größenordnung und Dauer zu erreichen, das die Bevölkerungsvermehrung deutlich übertroffen und eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards sowie eine durchgreifende gesamtgesellschaftliche Modernisierung ermöglicht hätte.
In den hoch entwickelten Ländern Nordamerikas, Westeuropas und Japans hingegen nahmen seit den 1950er Jahren erstmals auch die breiten Schichten des werktätigen Volkes, speziell der Arbeiterschaft, als Konsumenten auch langlebiger Güter am Wirtschaftswachstum teil. Der durchschnittliche Reallohn bei abhängiger Beschäftigung stieg über einen langen Zeitraum in einer Geschwindigkeit und in Höhen, die frühere Generationen nicht für möglich gehalten hätten. In den USA reichten die Anfänge des Konsumkapitalismus, dessen Symbol der private PKW wurde, bis in die 1920er Jahre zurück. Der Kern des ›fordistischen‹ Modells war der Übergang von einer ›extensiven‹ zu einer ›intensiven‹, auf tayloristischer Arbeitsorganisation und Massenproduktion von Gebrauchsgütern gerichteten Akkumulation, sprich: die nachholende Durchkapitalisierung des Konsumbereichs. In Europa und etwas anders auch in Japan wurde der Fordismus ergänzt durch den Ausbau der, jetzt auch verstärkt als prophylaktisch verstandenen, sozialstaatlichen Systeme in einem Ausmaß, dass eine neue Qualität der Sicherung erreicht wurde. Nicht zufällig waren die Jahrzehnte nach 1945, auslaufend in den 1980er und 90er Jahren, zugleich die Blütezeit reformistischer Politik der sozialdemokratisch-sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien, sei es vom nord- und mitteleuropäischen, sei es vom südeuropäisch-romanischen Typ.
Anders als in früheren Epochen zog die konsumkapitalistische Entwicklung des Westens vor dem Hintergrund der Hegemonie der USA seit den 1960er Jahren eine alltagskulturelle ›Amerikanisierung‹ nach sich, die zunehmend auch die Dritte Welt und sogar die Zweite, die kommunistisch regierte, erfasste. Vor allem die Jugend orientierte sich an der amerikanischen Unterhaltungsindustrie als Ausdruck eines bestimmten Stils und Lebensgefühls sowie der dadurch vermittelten Werte. Die englische Sprache wurde endgültig zur lingua franca, nicht zuletzt vermittelt über Filme, Pop-Musik und Produkte wie Coca-Cola und, seit den 1970er Jahren, McDonalds. Der Massentourismus, zunehmend auch der in die Ferne gerichtete, ermöglicht durch längeren bezahlten Urlaub, ließ eine neue Ferienindustrie ins Leben treten, die den Erholungssuchenden aus den reichen Ländern in südlichen Gefilden ganze Landstriche offerierte. Für viele Länder, nicht nur der Dritten Welt, wurde der Tourismus zu einem unverzichtbaren Wirtschaftszweig.
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte diejenige Stufe der Globalisierung ein, mit der wir es derzeit zu tun haben. Sie erhielt um 1990 einen weiteren kräftigen Schub; für die breitere Öffentlichkeit ist das die eigentliche Globalisierung, der gegenüber alles Vorangegangene bestenfalls als Vorgeschichte erscheint. Es handelt sich einmal um die Fortsetzung und Beschleunigung von schon länger ablaufenden Prozessen, namentlich der Ausweitung und Verdichtung der internationalen Handelsbeziehungen. Der Welthandel nahm in den 1990er Jahren doppelt so stark zu wie die Weltproduktion. Noch erheblich schneller wuchs die Summe der Direktinvestitionen im jeweiligen Ausland. Multinationale Konzerne, die es schon seit dem späten 19. Jahrhundert gab, entwickelten sich zu wahrhaft transnationalen Einheiten, die mit ihren Strategien zunehmend die Formen des internationalen Handels und der Investitionen bestimmen und die weltweit günstigsten Produktionsbedingungen nutzen. Damit forcieren sie den ›Standortwettbewerb‹ der politischen Einheiten mit der Tendenz, sich im Hinblick auf Steuern, Löhne bzw. Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen gegenseitig zu unterbieten.
Die weltwirtschaftliche Aktivität konzentriert sich nach wie vor in bestimmten Zentren, doch aus der Achse Nordamerika-Westeuropa-Japan ist ein erweitertes Dreieck Nordamerika-Europa-Asien geworden, wo nach den kleinen ›Tigerstaaten‹ nun auch China und teilweise Indien sich anschicken, mit eigenständigen, auf den Weltmarkt gerichteten Entwicklungskonzepten zum Norden aufzuschließen. Während an vielen Orten in der ehemaligen ›Dritten Welt‹ hochmoderne Segmente entstanden sind, größtenteils ohne Zusammenhang mit den nationalen Volkswirtschaften, und traditionelle Industrien (und damit die Arbeiterklasse alten Typs) dort ihren Sitz nehmen, bleiben relative Armut und absolutes Massenelend quantitativ vorherrschend; weite Gebiete sind kaum in den inneren Markt integriert. In Afrika ist die Mehrzahl der Staaten weitgehend von der weltwirtschaftlichen Entwicklung abgehängt, ohne dass hinreichend interne Entwicklungsimpulse spürbar wären. Das Nord-Süd-Gefälle bleibt mit veränderter Hierarchie bestehen.
In den alten, hoch entwickelten Ländern der nördlichen Hemisphäre hat die Mikroelektronik die Arbeitswelt noch einmal drastisch verändert und ist weiter dabei, das zu tun. Der industrielle Groß- und Mammutbetrieb alten Typs und der entsprechende Typ des klassischen Industriearbeiters ist quantitativ inzwischen deutlich minoritär, auch soziokulturell nicht mehr gesellschaftsprägend, während die Beschäftigung im mehr und mehr kommerzialisierten Dienstleistungsbereich expandiert und der Angestelltenstatus einerseits, prekäre Arbeitsverhältnisse andererseits typisch geworden sind. Das fordistische Modell hat ausgedient.
Die neuen bzw. modernisierten Technologien im Kommunikations-, Informations- und Transportwesen, namentlich das Internet und die Satellitenkommunikation, waren und sind entscheidende Voraussetzungen für die Beschleunigung des Globalisierungsprozesses (übrigens auch in der riesigen illegalen und kriminellen Wirtschaft wie dem Drogen- und Menschenhandel). Das gilt im besonderen Maß für die Finanzmärkte: für den Handel mit Wertpapieren, für Geld- und Devisengeschäfte sowie für Kredite, wo wir es inzwischen mit einem beinahe grenzenlosen und kaum regulierten Kapitalverkehr zu tun haben. Durch die globale Orientierung der führenden Banken und durch prozedurale Erleichterungen im internationalen Kreditgeschäft (Vergabe und Vermittlung) können dort spekulativ astronomische Summen verdient werden. Die Akkumulation wird zunehmend von Finanzkonglomeraten (Investment- und Versicherungsfonds) betrieben, die im erbitterten Wettbewerb die kurzfristigen Profitinteressen der ›Shareholder‹ des Finanzkapitals – anstelle der jahrzehntelang dominierenden, längerfristig planenden ›Stakeholder‹ des Industriekapitals – realisieren.
Alles das war und ist kein Automatismus, der – nach dem Ende des ›Goldenen Zeitalters‹ des Kapitalismus – allein der Systemlogik entsprungen wäre, sondern die Entwicklung der letzten 30 Jahre ist auch das Ergebnis konkreter politischer Entscheidungen und Ereignisse sowie einer Art neoliberaler Bewusstseinsrevolution in der ökonomischen Fachwissenschaft wie in der öffentlichen Diskussion – ihr Credo ist die Alternativlosigkeit –, welche in den letzten Jahren aber ihren Zenit überschritten hat. Eine besondere Bedeutung kam um 1980 den Regierungswechseln in Großbritannien (zu Margaret Thatcher und den Tories) und in den USA (zu Ronald Reagan und den Republikanern) zu. Im britischen Fall wurde ein alter und avancierter, allerdings unter Anpassungsproblemen leidender Wohlfahrtsstaat mit erheblichem öffentlichen Sektor und einer starken Stellung der Gewerkschaften unter Aufkündigung der vorher gültigen Umgangsregeln konfrontativ in Richtung auf ein neues, liberalistisches Kapitalismus-Modell umgebaut. Die von Frau Thatcher und anderen realisierten Änderungen – Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung – beförderten den Globalisierungsschub der 1980er und 90er Jahre, indem sie dem Privatkapital auch auf internationaler Ebene einem erweiterten Spielraum verschafften.
Parallel zum permanent steigenden Druck auf den Wohlfahrts- oder Sozialstaat in den reichen Ländern des Westens geriet auch das System des ›real existierenden Sozialismus‹, der kommunistische Etatismus, im Osten in Bedrängnis. Der Zusammenbruch des Sowjetblocks bzw. – in China – die Umwandlung der Diktatur in eine Agentur einer halb staats-, halb privatkapitalistisch betriebenen Industrialisierung und Modernisierung beruhten zu einem erheblichen Teil darauf, dass sich das alte System mit den wirtschaftlichen Effizienzmängeln, der Semiautarkie und der Unbeweglichkeit der politischen Steuerungsmechanismen gegen die Sogkraft des Weltmarkts nicht behaupten konnte. Dazu kamen die recht begrenzte, aber angesichts der prinzipiellen Geschlossenheit des Systems subversiv wirkende Öffnung des Ostblocks im Gefolge der Entspannungspolitik und des Helsinki-Prozesses sowie indirekte Einflüsse der westlichen Friedensbewegung. Schließlich musste sich die neue Kremlführung unter Michail Gorbatschow eingestehen, sogar auf dem Feld der militärischen, vor allem atomaren Rüstung den Wettlauf mit den USA verloren zu haben, und entließ die Staaten des Warschauer Paktes aus der Kuratel. Zu allen diesen Bedingungsfaktoren musste jedoch noch das Handeln der Reformkräfte innerhalb der Apparate und, mehr noch, das Aufbegehren der Demokratisierungsbewegung kommen, die friedlichen Revolutionen, damit in den Jahren 1989-91 der politische Ordnungswandel stattfinden konnte, der in der gegebenen historischen Konstellation dann auch die (zum Teil liberalistisch-brutale) Wiederherstellung kapitalistischer Marktökonomien beinhaltete.
Die alte, europäisch dominierte Arbeiterbewegung ist mit den großen Streikkämpfen der späten 1960er bis mittleren 80er Jahre und der Verabschiedung der Kapitalseite vom Fordismus offenbar an ihr Ende gekommen. Diejenigen gewerkschaftlichen und parteipolitischen Kräfte, die daran anschließen, geben bislang recht unterschiedliche und häufig hilflose Antworten auf die globale Herausforderung durch den Neoliberalismus und die Globalisierung. Weiter fortgeschritten als bei den tradierten Parteien der Linken und der Gewerkschaften ist der globale Zusammenschluss bei einigen der neuen sozialen Bewegungen gediehen. Man spricht zurecht von einer ›Internationalen der Globalisierungkritiker‹, die Lateinamerikaner, Nordamerikaner, Afrikaner und Asiaten ebenso einbezieht wie Angehörige der verschiedenen europäischen Völker, und die großen internationalen Treffen finden auch außerhalb Europas statt. Auch auf dieser Seite des politisch-sozialen Spektrums werden die modernen Kommunikationsmittel erfolgreich genutzt, was noch mehr für die inzwischen teilweise fest etablierten Nichtregierungsorganisationen gilt. Auch neue soziale Bewegungen oder NGOs verfügen naturgemäß über kein einheitliches und ganzheitliches kapitalismuskritisches Alternativprogramm.
Unter den neuen sozialen Bewegungen spielt die Umweltbewegung eine besondere Rolle. Es existiert mit der ökologischen Problematik ein destruktiver Globalzusammenhang, der die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts grundlegend von noch so drückenden, aber stets regional begrenzten Umwelt- bzw. Naturschäden der Zeit vor 1950 unterscheidet. Ähnlich wie bei der durchaus realen Gefahr eines weltweiten Nuklearkriegs, wie sie zwischen dem sechsten und neunten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts bestand, verlangt die ökologische Krise eine globale Koalition der Vernunft; damals ging es um die Einhegung der Machtpolitik und die Kontrolle der Rüstung mit Massenvernichtungswaffen, heute stoßen die Bemühungen um hinreichend radikale Schutzmaßnahmen neben staatlichen von vornherein auf mächtige privatwirtschaftliche Interessen.
Finanzmarkt-Kapitalismus bedeutet eine erhebliche, zumindest schleichende Verschiebung der Eigentums- und Einkommensverhältnisse sowie der politisch-gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten des großen Kapitals und zu Lasten der sich in hochqualifizierte Informationsarbeiter und Dienstleister differenzierenden Lohnarbeiterklasse, des Prekariats und der subproletarischen Unterschicht, doch auch der bürgerlichen Bildungsschichten und des demokratischen Staates auf allen Ebenen. Der Finanzmarkt-Kapitalismus tritt nicht unbedingt an die Stelle von Sozialstaat, Tarifautonomie und staatlichen Eingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft. Er überlagert in den ›koordinierten Marktwirtschaften‹ wie Deutschland die tradierten Institutionen, die eingespielten Mechanismen und Abläufe des Wirtschaftslebens und tendiert dazu, sich diese zu unterwerfen. Eine Einebnung der verschiedenen Kapitalismus-Typen einschließlich ihrer je spezifischen Unternehmensorganisation ist bisher nicht festzustellen, und die skandinavischen Staaten haben sogar – trotz einer gewissen Anpassung an die globalwirtschaftlichen Zwänge – den sozialstaatlichen Kernbestand bewahren und politischen Gestaltungsspielraum zurückgewinnen können.
Ohnehin wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass die Globalisierung den Nationalstaat einfach abschafft oder zur leeren Hülle macht. Sie verändert ihn in seiner Wirkungsmöglichkeit und stellt seine demokratische Substanz in Frage (was für den Subprozess der Europäisierung in besonderem Maß gilt). Ebenso wenig wie die Nationalstaaten werden die Nationen als tradierte Gefühls- und Bewusstseinsgemeinschaften (in Europa in der Regel mit einem ethnisch-kulturellen Grundbestand als ›Rohmaterial‹) verschwinden; die Pluralität ihrer Einzelidentitäten gehört zum Charakter dieses Kontinents nicht nur östlich der Oder, wie immer er künftig politisch organisiert werden wird. Schon in früheren Epochen (um 1800 und wieder um 1900) liefen Nationsbildung und reale Transnationalisierung, sogar Globalisierung parallel. Beides waren Erscheinungsformen der Moderne. Ähnliches war um 1990 und danach im östlichen Europa zu beobachten. Es kommt also darauf an, diesen Konnex im demokratischen Sinn konstruktiv zu gestalten, nicht, ihn zu negieren.
Vielfach wird die Einigung Europas als Heilmittel gegen die unerwünschten Aspekte der Globalisierung angesehen – und das bis zu einem gewissen Grad zu Recht. Doch in den vorangegangenen Jahrzehnten hat die Europäische Gemeinschaft den allgemeinen Deregulierungs- und Liberalisierungsprozess vorangetrieben statt dagegen zu steuern. Damit das vereinte Europa eine sozial schützende und emanzipatorische Rolle spielen kann, müsste das europäische Einigungsprojekt eine veränderte gesellschaftspolitische Zielsetzung (und nicht nur, was ebenfalls erforderlich ist, eine effektivere und demokratischere Leitungsstruktur) erhalten.
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