von Herbert Ammon
Vom blutig gescheiterten Attentat auf Donald Trump erfuhr ich per Internet nach dem Besuch der Shakespeare-Komödie Viel Lärm um nichts. Das unerhörte – vor dem Hintergrund einer langen Geschichte ähnlicher Gewalttaten nicht völlig undenkbare – Ereignis zieht eine Kette von Fragen nach sich, die alle anderen bedrängenden Fragen zum Weltgeschehen vorerst überlagern.
War ein psychisch gestörter Einzeltäter, ein Spinner, am Werk oder handelte der als Republikaner – und als Spender für eine Initiative der Demokraten – registrierte Zwanzigjährige aus ideologischen Motiven? Die Gewalttat wirft erneut die Frage nach dem Charakter der – nicht erst seit der Ära Obama – tief gespaltenen Gesellschaft auf. Pessimistische Beobachter der Szenerie sprechen seit längerem von einer angespannten Atmosphäre wie am Vorabend eines Bürgerkriegs. Tatsächlich treffen die radikalen ›wokies‹ – samt ihren Unterstützern von besonders progressiven liberals – mit immer neuen Forderungen nach kompensatorischer Gerechtigkeit sowie Proklamationen von DEI (diversity, equity, inclusion) auf Abehnung seitens der in ihren Wertvorstellungen – wie Familie, Religion, Patriotismus, Leistungsbereitschaft, Selbstverantwortung – konservativen Bevölkerung. Diese Bevölkerung des amerikanischen heartland sowie die von Existenznöten betroffene Arbeiterschicht sind empfänglich für Trumps Botschaft. Von einem Bürgerkrieg träumen indes nur die am äußersten rechten Rand angesiedelten, gewaltbereiten militias.
Das um Haaresbreite überlebte Attentat mitsamt seiner kämpferischen Geste hat die Siegeschancen Trumps gegenüber dem altersschwachen Biden noch einmal gesteigert. Zu seinem Wahlerfolg dürfte beitragen, dass er seinen früheren Kritiker und jetzigen Bewunderer J.D. Vance, Autor von Hillbilly Elegy, aus Ohio zum running mate erkoren hat.
Im nunmehr wahrscheinlichen Falle eines Wahlsiegs Trumps am 5. November 2024 erhebt sich ein Berg von Fragen. Welche Folgen hätte eine neuerliche Präsidentschaft Trumps für die innere Verfassung der USA, für das Verhältnis der USA zum Hauptrivalen China, zu Russland, zum Nahen Osten, zu Europa, zu Deutschland, für die Welt? Kommt es zu einem Deal mit Putin auf Kosten der Ukraine oder nötigt Trump – kaum anders als bislang die Regierung Biden – die ›Europäer‹, obenan Deutschland, zur Fortsetzung des Krieges mit allen denkbaren Kosten.
Nicht erst seit dem Anschlag auf Trump sehen die Demokraten ihre Hoffnungen schwinden. Bis zum demokratischen Wahlkonvent, der in der dritten Augustwoche in ihrer alten Hochburg Chicago stattfindet, dürfen wir spekulieren: Gelingt es den um ihre Siegeschancen besorgten Strippenziehern im Parteiapparat sowie deren Unterstützern – von der New York Times und CNN, über George Clooney bis zu Nancy Pelosi – noch in letzte Minute, den von Starrsinn beseelten Joe Biden zum Verzicht auf seine – mutmaßlich aussichtslose – Kanditatur zu bewegen? Und wer käme sodann als Kandidat bzw. Kandidatin in Frage? Bidens unbeliebte Vizepräsidentin Kamala Harris? Die außerhalb von Michigan kaum bekannte Gouverneurin Gretchen Whitmer? Der unlängst in der FAZ von dem westdeutsch linksgrünen Politologen Claus Leggewie – als Repräsentanten eines ›modernen‹ Familienmodells – favorisierte Pete Buttegieg aus Indiana? Oder am Ende doch die ›unpolitische‹ Michelle Obama?
Wenn die Aufregung über das Attentat in Pennsylvania abgeklungen ist, werden sich die deutschen Medien wieder an dem ungehobelten, ›rechten‹ Trump abarbeiten. Tiefergehende Analysen der politischen Szenerie sind nicht zu erwarten. In der medialen Aufbereitung – und selbst in den anspruchsvolleren ›Diskursen‹ zur ›Demokratiebildung‹ (siehe dazu: »Die Furcht der Lehrer vor heiklen Themen« in: FAZ v. 12. Juli 2024, S. 10) – werden die grundlegenden Fragen zum Wesen der Politik und zu den Mechanismen der Macht gemieden.
Aus der Distanz betrachtet, geht es in den politischen Systemen, die sich als Demokratien verstehen, um die aus dem Begriff der ›Volkssouveränität‹ abgeleiteten Verfahren zur Bestellung des politischen Führungspersonals.Trump gelangte 2016 dank seines spezifischen Charismas – als ›rechter Populist‹ – gegen den Willen der republikanischen Parteiführung ins Weiße Haus. Biden verdankt seine Präsidentschaft im wesentlichen dem Parteiapparat der Demokraten, die ihn anno 2008 aus Kalkül zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft unter Obama erhoben.
Unter welchen Voraussetzungen gelangen hierzulande Personen ›nach oben‹, die unter Berufung auf ›unsere Werte‹ vermeinen, die gefahrvollen Weltläufte steuern zu können? Diese Frage betrifft das in der Bundesrepublik Deutschland verfestigte Parteienwesen, welches längst den im Grundgesetz verankerten Gedanken der ›Mitwirkung‹ an der ›politischen Willensbildung des Volkes‹ zugunsten selbstgenügsamer Rituale, innerparteilicher Rivalitäten und Abschottung gegen ›populistische‹ Konkurrenz hinter sich gelassen hat. Wie steht es allgemein mit der Etablierung politischer Eliten in westlichen Demokratien? Nur selten sind es ›the best and the brightest‹, in der Regel sind es diejenigen, welche die Techniken der Machtgewinnung erlernt und ›verinnerlicht‹ haben.