Aktuelles Geleitwort von Joe Biden/White House DC nebst ein paar unzeitgemäßen Gedanken zur modernen Kriegführung, speziell in der Ukraine

von Helmut Roewer

Wenn man die Hurra-Meldungen aus Ost und West einmal beiseite lässt, bietet das, was aus dem Ukraine-Konflikt nach außen dringt, nahezu unbegrenzten Stoff zum Nachdenken. Dabei ist es ein müßiger Streit zwischen Militärtheoretikern und sogenannten Sicherheits-Experten, ob moderne Kriege noch auf dem Schlachtfeld oder ganz anderen Ortes entschieden werden. Anbei einige Gedanken, dieses Problem zu ergründen.

Krieg mit Waffen

Beim gegenwärtigen Krieg fällt auf, dass die westlichen Staaten seit April 2022 Kriegswaffen und Kriegsgerät in einem nicht endenwollenden Strom in die Ukraine pumpen, Kanonen mit und ohne Panzerlafette, Gewehre, Schützen- und Kampfpanzer, LKWs, Panzerfäuste, Raketen, Kampfhubschrauber, Transportflugzeuge, Kampfjets, Abwehr- und Aufklärungselektronik, Kommunikationsmittel, Munition und was immer dem Leser einfallen mag. Auf der russischen Seite erleben wir hingegen, wie Schicht um Schicht alte Waffensysteme von immer neueren überlagert und schließlich abgelöst werden. Insofern gleicht der Ablauf des Konflikts einer zynischen Waffenschau der Moderne.

Wer indessen das Schlachtfeld beobachtet und zur Erklärung nach Parallelen zu den Schlachten sucht, die vor rund achtzig Jahren an selber Stelle stattfanden, befindet sich auf dem Holzweg. Die Panzerwaffe, welche diese Weltkriegs-Zwei-Schlachten dominierte, hat nahezu ausgedient. Allzu offensichtlich bilden gepanzerte Fahrzeuge selbst das scheunentor-große Ziel von relativ bescheidenen Waffen im Nahkampf, während der eigentliche Clou russischer Panzerbekämpfung im Einsatz von zwei unterschiedlichen Kampfhubschraubern für den Tag- und Nachtbetrieb besteht, die aus einer Distanz fernab von Luftabwehrwaffen den Panzerkampf mit Ortung des Gegners und dem Verschießen von sich selbst ins Ziel lenkenden Raketen führen. Die gegenwärtige angebliche Offensive der Ukraine mag als Lehrbeispiel dienen.

Alle Waffen, die vom Westen hintereinander als game-changer bezeichnet worden sind, haben die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Es fand sich stets recht bald eine Waffe oder eine Kampfmethode, die die angeblichen Wunderwaffen auf den Boden der Tatsachen zurückholten. So konnten die sündhaft teuren Patriot-Luftabwehr-Batterien wenig gegen die russische Luft-Überlegenheit ausrichten. Nach meiner nicht maßgeblichen Einschätzung führen die Russen absichtlich Doppelschläge durch, deren erster unter Opferung teurer Angriffswaffen lediglich dazu dient, die in Tätigkeit versetzten ukrainischen Abwehr-Batterien zu orten, um sie dann in einem unmittelbar folgenden zweiten Schlag mit hyperschnell fliegenden Raketen zu vernichten.

Mobilisierung und Kampfmoral

Der Kampf ohne den Kämpfer ist nicht möglich. Das ist banal. Aber wenn dieser Kämpfer in den Erdkampf – Mann gegen Mann – soll, dann wird die Sache prekär, wenn er nicht mittun will. Wie es um die Kampfmoral genau dieser Soldaten aussieht, ist schwer zu sagen. Die Propagandamühlen beider Seiten werden nicht müde, den Unwillen der einfachen Soldaten der jeweils anderen Seite hervorzuheben.

Es gibt jedoch zwischen beiden Kriegsparteien objektiv einen Unterschied: Die Ukraine hat die volle Mobilisierung verfügt. Die russische Seite hat dies nicht getan, sondern begnügt sich – falls die russischen Angaben zutreffen – damit, die Reihen ihrer Kämpfer mit Freiwilligen zu bestücken. Die Russen behaupten, dass das so gewonnene Potenzial ausreichend sei, um den Kampf zu führen.

Zweifel an den Aussagen beider Seiten sind angebracht. Die Total-Mobilisierung der Ukraine ist offensichtlich misslungen. Hunderttausende Fahnenflüchtiger in den westlichen Staaten Europas sprechen eine eindeutige Sprache. Hinzu tritt das Problem, dass eine unbekannte Vielzahl von ukrainischen Staatsbürgern nach ihrer eigenen Vorstellung keine Ukrainer sind und dies auch nicht werden wollen. Sie sind ethnische Russen und ziehen, wenn es ihnen denn nicht gelang, nach Westeuropa zu entkommen, die Flucht nach Russland vor.

Dieser Trend der russischen Ukrainer, sich dem Wehrdienst zu entziehen, wird durch eine Aussage des russischen Söldner-Unternehmers Prigoshin gestützt. Er wies darauf hin, dass das Gros seiner Männer – er sprach von 20 000 Mann – von ihm und seinen Werbern in den russischen Lagern für kriegsgefangene ukrainische Soldaten angeworben worden sei. Diese Soldaten sind demnach bereit, die relative Sicherheit eines Gefangenenlagers gegen einen neuerlichen Kriegseinsatz, aber auf der anderen Seite, einzutauschen.

Noch eine Bemerkung zur Mobilisierung: Beide Seiten greifen in bemerkbarem Umfang auf fremde Truppen zurück: Hierzu zähle ich auf russischer Seite Prigoshin und seine Wagner-Legionäre. Sie mögen zwar mit Masse Russen sein, aber sie sind mit Sicherheit nicht Teil der regulären russischen Armee. Noch etwas komplizierter ist der Einsatz des Tschetschenen-Führers Kadyrow mit seinen muslimischen Landsleute. Sie müssten dort nicht kämpfen, tun es aber.

Auch auf ukrainischer Seite finden wir gern akzeptierte Formationen, die alles andere sind als die reguläre Armee: Zum einen handelt es sich um Kampfverbände ukrainischer Nationalisten, in der Selbstbenennung das Asow-Bataillon, und von der russischen Seite als Ukro-Nazis bezeichnet. Daneben gibt es eine internationale Legion, von der umstritten ist, ob sie im Kern ukrainisch oder polnisch gelenkt wird. Sie soll ca. 3000 bis 5000 Mann umfassen.

Über den Kampfwert dieser nicht-offiziellen Verbände wird durch mehrfaches Auftreten auf dem Gefechtsfeld informiert. Auf russischer Seite wurden sie angriffsweise im Häuserkampf verwendet. Die Eroberung der Stahl-Stadt Mariupol im Sommer 2022 geht auf das Konto der tschetschenischen Kadyrow-Leute, die der Gips-Stadt Bachmut in diesem Frühjahr auf das der Wagner-Söldner.

Dieser wiederholte Fremdeinsatz ist deswegen erwähnenswert, weil es sich in beiden Fällen um den besonders verlustreichen Häuserkampf Mann gegen Mann gehandelt hat. Beide Formationen waren offenbar bereit, ihn für die russische Seite zu führen. Ein entsprechend markanter Einsatz der ukrainischen Nationalisten und der internationalen Legion ist bislang nicht bekannt. Von den ukrainischen Nationalisten kann aufgrund russischer Berichterstattung lediglich vermutet werden, dass sie bei der letztlich misslungenen Verteidigung von Mariupol im Einsatz waren und dort gegen die Zivilbevölkerung besonders brutal vorgegangen sind, indem sie diese massenweise als Schutzschilde verwendete.

Waffeneinsatz und Menschen töten

Dass beim Einsatz von Kriegswaffen Menschen getötet werden, sollte niemanden ernstlich verwundern. Doch müssen sich die Kriegführenden gefallen lassen, dass man ihr Tun nach dem Maßstab misst, wie und zu welchem Zweck sie das Töten praktizieren. Hierbei hat der Ukraine-Konflikt Unterschiede bei den Kriegführenden erkennen lassen. Diese hängen mit dem unterschiedlichen Auftakt zu diesem Krieg und den unterschiedlichen Kriegszielen zusammen.

Für die Ukraine war die Auseinandersetzung mit den Bürgern in dem auf ukrainischem Gebiet gelegenen Donbass in erster Linie ein Ukrainisierungs-Problem, weil die dort lebenden Russen nicht Ukrainer werden wollten und das ihnen als Sprache aufgenötigte Ukrainische gewaltsam ablehnten. Nachdem diese Oblaste (= Verwaltungsbezirke) Lugansk und Donjezk ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, waren deren Bewohner in den Augen der ukrainischen Führung Aufständische, die es mit militärischer Waffengewalt zu unterdrücken galt. Das gewaltsame Vorgehen der ukrainischen Armee erreichte zum Jahreswechsel 2021/22 einen Höhepunkt, in welchem die als Schwerpunkte des Widerstands ausgemachten Siedlungen ohne Rücksicht auf Verluste der Zivilbevölkerung zusammengeschossen wurden. An dem so motivierten Vorgehen der ukrainischen Armee hat sich bis heute Grundlegendes nicht geändert.

Die Russen standen seit dem Beginn ihres militärischen Angriffs vor dem Dilemma, dass die Gebiete, die sie zu besetzen trachteten, von Russen bewohnt wurden, die zu treffen sie dringend zu vermeiden suchten, denn sie wollten als Befreier kommen. Ihr Bestreben, nur die Einheiten der feindlichen Armee zu treffen, beschränkte automatisch die genutzten Mittel. Erst als die Waffen- und Munitionsströme aus den Nato-Ländern unübersehbar wurden, gingen die Russen gegen das logistische Zentrum in der Ukraine in der Tiefe des Raums vor. Dass sie hierbei zunächst die russisch dominierten Großstädte Charkow-Charkiv und Odessa mieden, passt in dieses Bild. Diese Zurückhaltung wurde im Herbst 2022 aufgegeben.

Der Frage, ob es beiden Seiten darauf ankommt, möglichst viele Menschen zu töten, lässt sich anhand der Waffenwirkung der letzten Monate unterschiedlich beantworten. Während die Russen dies nach wie vor eher zu vermeiden suchen, tun die Ukrainer dies offenbar nicht. Hierbei zeigt sich, dass sie die einschlägige, dies befürwortende Kriegsdoktrin der US-Amerikaner übernommen zu haben scheinen, und von diesen mit einschlägigen Waffen versorgt werden.

Aus dem Katalog der ukrainischen Tötungswerkzeuge sticht die abgereicherte Uran-Munition und die beabsichtigte Verwendung von Cluster-Geschossen hervor. Ob es tatsächlich zum Einsatz von Uran-Munition gekommen ist, bleibt derzeit unklar. Es sieht danach aus, als hätten die Russen durch Raketenbeschuss das einschlägige Munitionslager in die Luft gejagt. Wie sich die so erzeugte gigantische Explosion auf die Anrainer im großen Umkreis ausgewirkt hat, ist noch ganz unklar. Großflächige Vergiftungen werden für möglich gehalten.

Waffeneinsatz und die Vernichtung von kriegswichtigen Einrichtungen

Auf der Schwelle zur Wirtschaftskriegführung, auf die ich gleich gesondert zu sprechen komme, befindet sich der gezielte Waffeneinsatz gegen bedeutende Anlagen der Versorgung und der Produktion von Gütern. Beide Seiten haben bislang eine Kriegführung verfolgt, die Unterschiede erkennen lässt.

Die Russen: Wenige Wochen nach Kriegsbeginn haben sie damit angefangen, Anlagen der Stromversorgung in der gesamten Tiefe der Ukraine mit Raketen und Gleitbomben anzugreifen. Gleiches gilt für die Eisenbahnknoten, über die der gesamte Nato-Nachschub für die Ukraine abgewickelt wird. Wenn man als das Ziel dieser Maßnahmen annimmt, die Kriegführungs-Kapazität der Ukraine zum Stillstand zu bringen, so ist festzustellen, dass dies – zumindest auf kurze Sicht – misslungen ist. Etwas anders ist vermutlich die gleichzeitig mit denselben Mitteln stattfindende Zerstörung der Militärflughäfen zu bewerten. Es ist der vorsichtige Schluss zulässig, dass diese gelungen ist.

Die Ukrainer: Sie versuchen, die Kriegshandlungen durch Artillerie- und Raketenbeschuss über die Staatsgrenzen hinweg nach Russland hineinzutragen. Substantielle Erfolge dieses Tuns sind derzeit nicht zu erkennen. Ob diese Nadelstichpolitik bei der Bevölkerung der Grenzregionen psychologische Wirkung gezeigt hat, ist unbekannt. Daneben spielen Sprengstoffanschläge eine gesondert zu bewertende Rolle. Die auffälligsten Ziele waren bislang die Kertsch-Brücke zwischen dem russischen Festland und der Krim, der Dnjepr-Staudamm oberhalb der Stadt Cherson und die Ammoniak-Pipeline bei Charkow-Charkiv.

Vor allem die Sprengung des Dnjepr-Staudamm-Überlaufs und der Ammoniak-Pipeline haben beträchtliche Schäden angerichtet, wobei die Geschädigten auf mittlere Sicht nicht nur die Russen sind. Die Staudamm-Sprengung sorgte für die Überflutung weiter Landstriche links und rechts des Dnjepr, wobei, falls die Ukraine diese Gebiete links des Dnjepr je wieder unter eigene Gewalt bringen sollte, sie dort auch selbst der Geschädigte sein wird. Der weitaus wirksamere Effekt der Staudamm-Sprengung ist das Abschneiden der Krim vom Trinkwasser, das mit Hilfe eines vom Staudamm abgeleiteten Kanals nach dort geliefert worden war. Diese Trinkwasser-Versorgung war bereits einmal nach der Angliederung der Krim an Russland ab dem Frühjahr 2014 zum Zweck der Wirtschaftskriegführung unterbrochen worden. Die Auswirkungen sind bisher nicht öffentlich erörtert worden und durch mich nicht zuverlässig zu beurteilen.

Ähnlich zweischneidig fiel die Wirkung der Sprengung der Ammoniak-Pipeline bei Charkow aus. Ammoniak aus russischer Produktion als der Grundstoff von Pflanzendünger wird in alle Welt exportiert und zu diesem Zweck von den russischen Produktionsstandorten durch die Pipeline über ukrainisches Staatsgebiet transportiert. Die Zerstörung hat erwartungsgemäß das russisch-ukrainische Getreide-Abkommen vom Herbst 2022 torpediert. Mit Hilfe dieses Abkommens war es der Ukraine möglich, Getreide über den Hafen von Odessa auf dem Seewege durch die russische Seeblockade hindurch in alle Welt zu versenden. Teil dieses Abkommens war der unbehelligte Ammoniak-Transport durch die Ukraine, so dass durch Russland das Abkommen nunmehr aufgekündigt wurde. Wie sich die künftigen, erneuten Blockaden auswirken werden, ist noch nicht zu sagen.

Eine Sonderrolle schließlich spielt das Kernkraftwerk von Saporoshje (russ.: Запогожье) das sich nach wie vor unter russischer Kontrolle befindet. Beide Seiten bezichtigen sich gegenseitig, das Kraftwerk sprengen zu wollen. Es scheint mittlerweile abgeschaltet worden zu sein, bleibt aber auch abgeschaltet eine Zeitbombe ersten Ranges. Seit Monaten wird es mit Artillerie beschossen. Dass die Russen dies selbst tun, erscheint extrem unwahrscheinlich. Auch hat sich die ukrainische Behauptung, die Russen hätten das Kraftwerk zur Selbstsprengung vorbereitet, nach der jüngst erfolgten Inspektion durch UN-Beobachter als Propaganda-Blase entpuppt. Es ist eine feststehende Lehre aus vergangenen Kriegen, dass es Armeen auf der Verliererstraße sind, welche die größten Kriegsverbrechen begehen.

Wirtschaftskriegführung

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich der Schwerpunkt der Kriegführung von der militärisch-gewaltsamen Variante Schritt um Schritt hin zur Wirtschaftskriegführung verlagert. Diese ist ein Kriegsgeschehen, bei dem im Idealfall kein Schuss fällt. Dass es hierbei jedoch wesentlich humaner zugeht, darf bezweifelt werden, denn beim Wirtschaftskrieg geht es um die Erdrosselung der Lebensgrundlagen des Gegners mit gezielten wirtschaftspolitischen Maßnahmen des kriegführenden Staates.

Der jüngste US-amerikanische Wirtschaftskrieg gegen Russland begann exakt im Jahre 2001 mit einem ersten Sanktionspaket der USA, das man noch heute im US-Gesetzblatt nachlesen kann. Dies war mit einjähriger Verzögerung die Reaktion der USA, um die von Putin eingeführte und durchgesetzte wirtschaftliche Abschottungspolitik zu sanktionieren. Derartige Sanktionen waren kein Neuland, denn bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991/92 hatte es vonseiten der Nato-Staaten die Cocom-Embargopolitik für Dual-use-Güter gegeben. Danach trat eine Pause ein.

Nach dem Überschreiten der Grenze zur Ukraine durch die russische Armee wurden die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland in einem bis dato unbekannten Umfang verstärkt. Die Staaten der EU schlossen sich dem weitgehend an. Im Zentrum der Boykott-Politik stand und steht der Stopp von Öl- und Gas-Importen aus Russland. Es war erklärter Wille der USA, durch diese Maßnahmen den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und der Rubel-Währung herbeizuführen.

Zu den Prämissen der jüngsten Sanktionspolitik gehörte, dass sich die gesamte Welt diesem amerikanischen Ruf nach der Bestrafung Russlands anschließen werde. Diese Rechnung ging nicht auf, vielmehr wurde das Gegenteil des Gewünschten erreicht. Zunächst zeigte sich innerhalb einiger Tage, dass Länder außerhalb der Nato- und EU-Staaten dem Boykott nicht nur nicht folgten, sondern ganz im Gegenteil sehr rasch bemüht waren, die Chance zum Einkauf der nun frei werdenden Gas- und Öl-Mengen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Unter den Nutznießern der fehl geplanten US-Politik waren wirtschaftlich potente Staaten wie China, Indien, Brasilien und Südafrika. Damit nicht genug: Mit dem Umstieg auf russisches Gas und Öl ging ein Ausstieg aus dem Dollar beim grenzüberschreitenden Handel Hand in Hand. Wichtige Öl- und Gasexporteure wie die arabischen Staaten und der Iran schlossen sich dem Ausstieg aus den dollarbasierten Geschäften Schritt um Schritt an. Es ist derzeit ein Lieblingsthema volkswirtschaftlicher Prognosen, ob der Dollar im weiteren Verlauf der Dinge ernsthaft und mit unabsehbaren Folgen Schaden nehmen wird.

Im Ergebnis wird man sagen können, dass sich die Wirtschaftskriegs-Maßnahmen der USA und ihrer Verbündeten ins Gegenteil des Beabsichtigten verkehrten. Die Boykotteure wurden wirtschaftlich selber geschädigt, besonders schwer traf es Deutschland, dem zudem durch – nach meiner festen Überzeugung US-amerikanischen – Sprengstoffanschlägen auf die Gaspipelines zwischen Russland und Deutschland (Nord Stream 1 und 2) die Entscheidung darüber abgenommen wurde, ob es weiterhin russisches Gas – bis dahin etwa 60 Prozent des deutschen Gasbedarfs – beziehen will oder nicht. US-amerikanische und US-gesteuerte deutsche Mainstreammedien haben versucht, den militärischen Angriff auf das angeblich mit den USA verbündete Deutschland zu leugnen (›ist nicht bewiesen‹) oder mit Hohn zu kommentieren (›wurde von der gefährlichen russischen Abhängigkeit befreit‹).

Krieg der Worte

Doch der Krieg findet auch auf einer anderen Ebene statt, ganz ohne dass jemand eine herkömmliche Waffe in die Hand nimmt. Ich spreche hier vom Krieg der Worte, die verdeckt oder offen die Waagschale des Krieges zur einen oder anderen Seite neigen sollen. Hierbei gilt: Niemand, der Krieg führt, kommt ohne eine öffentliche Meinung aus, die ihn am Kriegführen zumindest nicht hindert. Im Idealfall stützt er sich auf eine Öffentlichkeit, die das Kriegführen nicht nur billigt, sondern vorantreibt. Besonders clever verhält sich der Kriegführende, der nicht nur die eigene Öffentlichkeit in diesem Sinne zu beeinflussen vermag, sondern auch die des Gegners erfolgreich in den Griff nimmt, indem es ihm gelingt ihm, dem Gegner den Mut zu rauben und im Idealfall die eigene Sichtweise einzuträufeln.

Für das Kräftemessen, das bislang stattgefunden hat, lässt sich dieser Vorgang wie folgt beschreiben: Der Westen stieg – was die öffentliche Meinung anlangte – ohne jede Vorbereitung in den Krieg ein. Mit dem Überschreiten der ukrainischen Grenze durch die russische Armee am 24. Februar 2022 war der Krieg plötzlich da, so erschien es wenigstens dem Publikum. Da dies dem tatsächlichen Erkenntnisstand nicht entsprach – Tage, wenn nicht Wochen zuvor war bekannt, was sich da zusammenbraute –, darf man folgern, dass es sich hier um einen besonders gekonnten Nachrichten-Coup in den westlichen Staaten gehandelt hat. Er war die Grundlage für die Behauptung, tödlich überrascht worden zu sein, sodass man sich nun gemeinsam wehren müsse.

Diese für die US-Dienste nicht sonderlich schmeichelhafte Überraschtsein-Geschichte wurde im Verlauf des Krieges korrigiert, ohne dass sich an der allgemein für wahr gehaltenen Überfall-Story etwas änderte. Im Gegenteil: Nunmehr wurden geschichtliche Parallelen bemüht, die dazu dienten, das westliche Eingreifen auf Seiten der Ukraine zu begründen. Die phantastische Standart-Story in diesen Fällen lautet so: Die freie Welt hat 1939-45 eingreifen müssen, um die Nazis auf ihrem verbrecherischen Weg zur Weltherrschaft zu stoppen. Diese Wehret-den-Anfängen-Erzählung ist insofern praktisch, als es mit ihrer Hilfe möglich ist, den Krieg in der Ukraine aus seinem lokalen Zusammenhang zu lösen, indem behauptet wird, die Ukraine sei nur der erste Streich des Verbrechers im Kreml, der nächste gelte Warschau und der übernächste Berlin.

Blicken wir auch auf die Gegenseite: Seit Jahren schon hatte der Kreml für sich in Anspruch genommen, die Schutzmacht für die in der Ukraine lebenden ethnischen Russen zu sein und deren Schutz zur Not auch durchzusetzen. Diese Haltung war der russischen Bevölkerung bekannt. Ich nehme an, sie wurde im großen Ganzen auch gebilligt. Die russische Führung geriet jedoch mit ihrer Schutzmacht-Ambition in eine selbstgemachte Glaubwürdigkeitsfalle, als die Ukrainer völlig unbeeindruckt von russischen Drohungen mit der Vernichtung der russischen Bevölkerung fortfuhren und hierbei auch Artillerie gegen Dörfer und Städte einzusetzen begannen.

Nunmehr erfolgte – aus russischer Sicht unumgänglich – der russische Einmarsch in den Donbass. Ganz im Sinne des Schutzmacht-Gedankens wurde in der Kreml-Diktion fortan das Wort Krieg vermieden und stattdessen von einer Sonderoperation gesprochen. Der Westen war – ganz unabhängig davon, wie der Einzelne zum Ukrainekonflikt steht – durch die russische Wortschöpfung der ›Sonderoperation‹ kaum zu beeindrucken. Zu deutlich trug das Vorgehen der Russen den Anstrich eines richtigen Krieges. Obschon dies nach der russischen Lesart auch anders gesehen werden kann, musste der Westen schon deswegen auf dem Begriff des Krieges beharren, weil sonst die Propaganda-Floskel vom völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht gespielt werden konnte. Hierbei wurde elegant an die bei der westlichen Bevölkerung seit über acht Jahren eingeführte Floskel der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim angeknüpft.

Eine weitere Propagandabemühung des Westens galt der angeblichen oder vielleicht sogar tatsächlich vorhandenen innerrussischen Opposition, die ohne Federlesens zur westlichen Wertegemeinschaft gezählt wurde. Unterstellen wir für einen winzigen Moment, dass dies zutrifft, dann bleibt unterm Strich die Feststellung, dass es kaum ein besseres Mittel gab, die städtische wohlhabende Oberschicht dem Westen abspenstig zu machen, als in Amerika und Europa deren Vermögen einzufrieren, was eine chemisch gereinigte Floskel für Enteignung ist.

In diesen Zusammenhang gehört auch die ständig wiederholte Erzählung vom schwankenden, angeschlagenen oder bereits siechen Putin. Die westliche Propaganda ließ nichts unversucht, die demnächstige, baldige, unmittelbar bevorstehende oder bereits im vollen Gange befindliche Entmachtung von Putin hinzuweisen. Alle wussten bestens Bescheid, nur der Betroffene und die von ihm regierten Russen nicht.

In der Gegenrichtung werden auch die Russen nicht müde, dem Westen aus dem Füllhorn der Propaganda einzuschenken. An der Spitze der einschlägigen Behauptungen steht die angeblich bereits gebildete mächtige Allianz der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sowie weiterer, die hinzugetreten sind, wie Saudi-Arabien und der Iran. Das ist in dieser Kargheit kaum für bare Münze zu nehmen. In Wirklichkeit jonglieren die BRICS-Staaten auf der Weltbühne, ohne sich von Russland vereinnahmen zu lassen, amerika-feindlich allerdings sind sie alle.

Zu den Lieblingsstücken russischer Propaganda-Attacken zählen zudem die Zerstrittenheit des Westens, der innere Verfall der USA, die Unfähigkeit der deutschen Regierung und die Missklänge in Nato und EU. Für den Leser, der hier ein Stimmt-ja-auch dazwischen brummelt, sei ein Tropfen Essig in den Propagandawein gegossen: Die Berichterstattung von RT-Deutsch und anderen sind zwar im Verlauf des Krieges professioneller geworden, doch sie zielen lediglich perfekt auf ein oppositionell gefärbtes deutsches Publikum. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass die Wirkung in den von Mainstream berieselten Bevölkerungsanteil hineinreicht. Klare Messzahlen zum Wirkungsgrad gibt es nicht. Dennoch werden die russischen Sentenzen im deutschen Regierungslager ernst genommen, wie das Verbot von RT-Deutsch belegt. Dass die Wirkungen dieses nicht durchsetzbaren Verbots bei den Betroffenen zu einem Jetzt-erst-recht-Effekt führen, darf vermutet werden.

Und tausend Stimmen rufen Sieg

Vom ersten Tag des Krieges an fiel auf, dass die westliche Seite ununterbrochen vom ukrainischen Sieg gegen Russland redete. Vielleicht gehörte ich zu den eher wenigen, die das Gegenteil für wahrscheinlich hielten. Auf dem Nato-Gipfel in Vilnius-Wilna Mitte Juli 2023 setzte US-Präsiden Biden noch einmal eins drauf: Putin, so ließ er sich zitieren, habe den Krieg bereits verloren. Da muss mir etwas entgangen sein.

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